Samstag, 5. März 2016
Generation Smartphone – die geistige Diaspora
Manchmal stelle ich mir vor, wie wohl mein Großvater auf die jetzige Zeit reagieren würde, wenn er heute im Jahr 2016 plötzlich wieder zum Leben erwachte. Wenn er beispielsweise in einem Bus sitzen würde, in dem neunzig Prozent der Fahrgäste hochkonzentriert in ihr Handinneres blicken. Oder wenn ihm jemand gegenüber säße, der plötzlich aus heiterem Himmel anfängt zu reden und zwar ohne jeglichen Gesprächspartner. Und was würde mein Großvater empfinden, wenn auf einem Familienfest immer wieder eines der Familienmitglieder plötzlich mitten im Gespräch für eine kurze Zeit verschwindet, weil sich irgendetwas in der Hosentasche befindet, das anscheinend irgendein Signal sendet auf das umgehend reagiert werden muss?

Was wäre die Reaktion meines Großvaters, wenn man abends nicht mehr wie üblich gemeinsam eine Fernsehsendung ansehen oder ein Brettspiel spielen würde, sondern stattdessen jeder gebannt in ein kleines Gerät schaute, auf das er gleichzeitig hochkonzentriert in Windeseile mit den Fingerspitzen tippen würde? Was würde mein Opa davon halten, wenn jemand mit Stöpseln im Ohr auf das kleine geheimnisvolle Gerät schaut und sich dabei angeregt unterhält?

Ich glaube, mein Großvater verstände die Welt nicht mehr. Wodurch er sich von mir als seiner Enkelin gar nicht wesentlich unterscheiden würde. Menschliche Kommunikation ist inzwischen zur Karikatur geworden.

Die Generation Smartphone befindet sich überall – nur nicht in der konkreten Situation mit ihren real vorhandenen Menschen. Diese sind zur verzichtbaren Nebensache degradiert und der menschliche Geist hat sich klammheimlich aus der analogen Realität verabschiedet, irgendwo in der digitalen Diaspora, wo er mit anderen ebenfalls nur digital vorhandenen Geschöpfen kommuniziert. Wobei der Ausdruck menschlicher Geist im Grunde gar nicht mehr gerechtfertigt ist. Denn Geist kann nicht getrennt werden vom Denken und von sinnhafter menschlicher Sprache. Und von Denken und Sinnhaftigkeit kann man mit Sicherheit nicht mehr sprechen angesichts der unzähligen *lol*, *grins*, *omg*, ;-), :-( etc.

Um auf meinen Großvater zurückzukommen – er würde wahrscheinlich nur verständnislos den Kopf schütteln und es nicht bedauern, diese Zeit nicht mehr miterlebt zu haben.

Übrigens: Als mein Opa in den Sechzigern das erste Mal einen Anruf erhielt, hörte er nichts, da er den Hörer verkehrt herum – also die Sprechmuschel anstatt die Hörmuschel – ans Ohr hielt. Ein eigenes Altes Telefon2 Telefon hat er auch zeitlebens nie für notwendig gehalten, das Telefon seines im Untergeschoss wohnenden Sohnes reichte völlig aus für die ein- bis zwei Telefonate, die er im Jahr führte und die nie mehr als ein paar Minuten Minuten dauerten.



Sonntag, 10. Januar 2016
Der miese Spruch zum Jahresanfang
Ein paar grapschende Ausländer und schon reisst bei uns Firnis der Zivilisation.
Jakob Augstein



Sonntag, 3. Januar 2016
Plädoyer für Ratlosigkeit
Zum zweiten Mal habe ich heute den Film „Der Vorleser“ angesehen, der auf dem gleichnamigen Buch von Bernhard Schlink basiert. Manchmal löst ein Film oder auch ein Buch beim zweiten Mal eine größere Reaktion aus als beim ersten Mal. Vielleicht ist man einfach nur in einer anderen Stimmung oder vielleicht war man beim ersten Mal nicht wirklich konzentriert dabei. Wie dem auch sei, heute ging mir der Film sehr viel näher. Der Film hinterließ bei mir ein Gefühl, das man am besten mit Ratlosigkeit beschreiben könnte. Ratlos ist man dann, wenn das übliche Schema von Gut und Böse fehlt und dies ist hier der Fall. Bei Hanna, der weiblichen Protagonistin des Films, gespielt von Kate Winslet, handelt es sich um eine frühere KZ-Aufseherin, die in den 60er Jahren für ihre Taten angeklagt und lebenslänglich verurteilt wird. Der männliche Protagonist Michael hatte als 15jähriger mit der über 20 Jahre älteren Frau ein Liebesverhältnis und sieht diese erst bei jenem Prozess wieder, an dem er im Rahmen seines Jurastudiums teilnimmt.

Die Frau, mit der er eine heftige und sinnliche Liebesbeziehung hatte und die von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand, taucht jetzt in Michaels Leben als angeklagte Massenmörderin wieder auf, was verständlicherweise ein gefühlsmäßiges Chaos in dem inzwischen erwachsenen Mann auslöst, der hin- und hergerissen ist zwischen zärtlichen Erinnerungen auf der einen Seite und Sprachlosigkeit auf der anderen Seite angesichts Tatsache, dass die ehemalige Geliebte den Tod von Hunderten von Menschen auf dem Gewissen hat. Während des Prozesses wird Michael klar, warum Hanna ihn während ihrer Beziehung hartnäckig zum Vorlesen drängte – Hanna ist offensichtlich Analphabetin. Obwohl sich Michael nicht zu einem persönlichen Kontakt durchringen kann, schickt er Hanna regelmäßig Kassetten, die er mit literarischen Werken bespricht. Kurz vor der anstehenden Entlassung nimmt sich Hanna das Leben. Der Film endet damit, dass Michael eine der KZ-Überlebenden aufsucht, um ihr gemäß Hannas Wunsch deren Geld und eine Teedose zu überbringen. Verständlicherweise löst dies eher eine Reaktion der Befremdung und Ablehnung aus.

Warum hinterlässt dieser Film bei mir ein Gefühl von Ratlosigkeit? Weil es einfacher ist, sich kaltblütig mordende Menschen als gefühlslose Monster vorzustellen, die weder eine Seele noch eine Biographie noch sonst irgendetwas besitzen, das Menschen von Monstern unterscheidet. Und weil man gern von anderen Menschen eine strikte und glasklare Parteilichkeit gegen das Böse fordert. Da wirkt es irritierend, dass der männliche Protagonist sich beim Erkennen der wahren Identität seiner ehemaligen Geliebten nicht sofort angeekelt abwendet und das Weite sucht, sondern immer noch mit Gefühlen kämpft.

Ich las nach dem Film noch ein paar Filmkritiken. Ich hatte es mir schon vorher gedacht – dem Film wurde vorgeworfen, die Täter des Dritten Reichs zu verharmlosen. Dabei wurde kritisiert: „die Deutschen der Nazizeit davon freizusprechen, von der Endlösung gewusst zu haben“ und es wurde konstatiert: „Problematisch sei die Sichtweise auf die Täterin, eine attraktive, geheimnisvolle Verführerin“. Dies passt anscheinend nicht so recht in das Klischee, dass Mörder per se immer grobschlächtig und abstoßend sind und selbstverständlich ist es völlig undenkbar, für solche Kreaturen auch noch andere Gefühle als Ekel und Hass zu empfinden.

Eine ähnliche Kritik gab es übrigens auch für den Film „Der Untergang“ von einigen Seiten (unter anderen auch von der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich). Man hätte Hitler nach Meinung einiger Kritiker viel zu menschlich dargestellt und der Film wäre angelegt, das Dritte Reich zu verharmlosen und Verständnis zu wecken. Für mich ist diese Einschätzung noch nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar, denn der Film hat meines Erachtens das Szenario im Führerbunker mit all seinem Irrsinn und seiner Verblendung schonungslos dargestellt. Da zu meinem Bekanntenkreis auch viele Nichtdeutsche gehören, bin ich immer wieder froh, auch mal die Meinung von Menschen zu hören, die keine deutschen Scheuklappen tragen. Als ich einen an deutscher Geschichte sehr interessierten Franzosen von der negativen Einschätzung zum Film „Der Untergang“ erzählte, reagierte er genauso mit Unverständnis wie ich.

Ich frage mich immer wieder, warum Menschen so ein ausgesprochen starkes Bedürfnis danach haben, jeden Versuch, eine Thematik differenziert darzustellen, sofort durch den Vorwurf einer einseitigen Sichtweise zu entwerten. Im Grunde ein Paradoxon schlechthin – die eigene einseitige Sichtweise wird auch bei dem anderen vorausgesetzt. Wer auch nur den Hauch des Verständnisses für einen Täter zeigt, wird rigoros als jemand bewertet, der sich voll und ganz auf dessen Seite stellt und das Leid der Opfer strikt leugnet. Dies ist beileibe nicht nur bei Filmen so, sondern zieht sich durch alle Lebensbereiche.

Was den hier beschriebenen Film „Der Vorleser“ betrifft, so ist es gerade das Fehlen eines Schwarz-Weiß-Schemas, das ihn für mich so sehenswert macht. Der Film macht das, was einen guten Film ausmacht: er wirft Fragen auf und verunsichert. Konfrontation mit der Komplexität menschlicher Gefühle anstatt Reduktion auf plumpe Einteilung in Gut und Böse.