Keine Wahl...
Schon seit einigen Jahren habe ich mich entschlossen, nicht mehr zu wählen. In meinem Bekannten-, Freundes- und Kollegenkreis gibt es eigentlich niemanden, bei dem dies keine Entrüsung auslöst. Und irgendwie kann ich das sogar gut verstehen. Aber trotzdem hat mich bisher noch niemand überzeugt.
Man geht zur Wahl um eine Partei zu wählen, von der man sich vertreten fühlt und - noch wichtiger - hinter deren Wahlprogramm auch Taten stehen. Und so sehr ich auch recherchiere, ich finde partout keine Partei mehr, bei der dies der Fall ist.
Wenn ich dieses Argument anführe, dann kommt sofort das Gegenargument, dass ich damit den Rechtsruck unterstütze und ich könnte doch wenigstens eine Kleinpartei, wie z.B. die Tierschützer wählen. Das mag in der Berechnung der prozentuallen Stimmverteilung Spuren hinterlassen, aber auf die konkrete Sitzverteilung haben die an der Fünf-Prozent-Hürde scheiternden Parteilen keinen Einfluss.
Gegen den Rechtsruck würde ich liebend gern etwas tun. Deswegen ging ich im vergangenen Jahr auch auf die Gegenkundgebung von MuslimInteraktiv und auf eine Kundgebung zum Gedenken an den Holocaust. Bei ersterer Veranstaltung waren keine 50 Teilnehmer und bei der zweiten waren vielleicht 250 Teilnehmer anwesend. Ich finde kaum die Worte dafür, wie unerträglich dieses Desinteresse für mich ist.
Der Rechtsruck wird in unserer Gesellschaft ganz allein durch das Erstarken der AFD definiert. Die AFD wird sozusagen zum Monopol des rechten Gedankeguts erklärt. Rechte Tendenzen außerhalb der AFD, wie beispielsweise besorgniserregende Zunahme von Gewalt gegen Juden, offenes Propagieren eines Rechtsverständnisses, das strikte Geschlechtertrennung und Bestrafung von Homo- und Transsexualität fordert, werden erstaunlicherweise nicht als rechts eingestuft. Besonders schockierend ist es für mich, dass es niemanden interessiert, dass hier in Deutschland Menschen wieder wegen ihrer liberalen oder säkularen Einstellung mit dem Tod bedroht werden. Menschen wie Seyran Ates und Hamed Abdel-Samad, die schon seit vielen Jahren auf 24-Stunden-Polizeischutz angewiesen sind, interessieren niemanden. Und es gibt auch noch viele andere, die zumindes zeitweilig bedroht werden, wie zum Beispiel der aus dem Libanon stammende Islamwissenschaftlicher Ralph Gadhban, der Psychologe arabisch-palästinensicher Herkunft Ahmad Mansour oder die in der Türkei geborene Soziologin Necla Kelek.
Ich hätte als Jugendliche niemals gedacht, dass der Antisemisitmus in Deutschland irgendwann mal wieder so ein schreckliches Ausmaß annehmen wird. Noch weniger hätte ich gedacht, dass man auch selbst in Gefahr kommen kann, wenn man nur einen "Gegen jeden Antisemitismus"-Aufkleber trägt. In den 70er Jahren schrieb die jüdische Deutsche Lea Fleischmann ein Buch mit dem Titel "Dies ist nicht mehr mein Land" und verließ die Bundesrepublik. Dieser Titel kommt mir jetzt oft in den Sinn: dies ist einfach nicht mehr das Land, in dem ich mich wohlfühle. Ich habe mich auf irgendeine Weise innerlich verabschiedet. Und deswegen passt es auch nicht, wenn ich wählen würde.
behrens am 21. Februar 25
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