Im Mai nahm ich einer Gegendemonstration zur Kundgebung von „Muslim Interaktiv“ in Hamburg teil. Wobei die Bezeichnung Gegendemonstration ein bisschen zu hochgegriffen ist für eine Gruppe von weniger als 50 Menschen. Der Veranstalter Joe Adade Boateng hatte an die zweitausend Muslime um sich versammelt. Obwohl die Kundgebung erlaubt wurde, trugen die Teilnehmer demonstrativ weiße Schilder, auf denen „Verboten“ oder „Zensiert“ stand.
Der Focus der Rede Boatengs lag darin, dass Muslime in Deutschland ihren Glauben nicht frei leben könnten. Dabei wetterte er auch gegen die Assimilierung, die seiner Ansicht nach den „wahren Glauben“ zerstören würde. Höchst interessant dabei war, dass Boateng trotz des unverkennbaren Antisemitismus von Muslim Interaktiv als Beispiel für die seiner Ansicht nach verheerenden Folgen der Assimilation ausgerechnet die Geschichte der deutschen Juden nannte. Diese hätten ihren Glauben und ihre Religion durch die Anpassung an ihr Leben in Deutschland vollständig verloren.
Ebenfalls sehr interessant war, dass Boateng den Wunsch formulierte, in „
Deutschland müsse es endlich möglich sein, dass Christen, Juden und Muslime wieder ein Leben gemäß ihrem Glauben und ihrer Religion leben dürfen“. Was mir dabei zuerst auffiel, war das Fehlen der anderen Relgionsangehörigen wie Buddhisten, Hinduisten, Sikhs etc. Aber wer sich mit dem Islam beschäftigt (was leider nur wenige tun), weiß, dass diese Religionen vom Islam zutiefst als „Götzenanbetung“ verachtet werden – also kein Wunder, dass in Boatengs Weltbild folglich die Freiheit des Glaubens für diese Gläubigen nicht besteht – genauso wenig übrigens wie für die vielen Atheisten oder Nichtgläubigen. Und an diesem Punkt kann man die Ähnlichkeit zu Björn Höckes Weltbild nicht mehr übersehen: Was für Höcke das „wahre“ Deutschland ist, ist für Boateng die „wahre“ Religion. Beides gleich verheerend, allerdings mit dem Unterschied, dass die gesamte Linke und viele Demokraten sich eindeutig gegen Höcke positionieren, während die Demonstration gegen Boateng weniger als 50 Menschen betrug, wobei die Linke durch vollständige Abwesenheit glänzte.
Da Boateng ausdrücklich auch die Christen erwähnte und ich Christin bin, stellt sich mir natürlich die Frage, ob ich hier in Deutschland tatsächlich meinen Glauben nicht frei leben kann. Sicher, es gibt hier viel Kritik am Christentum und nicht Wenige würden die Kirche gern ganz abschaffen. Außerdem passiert es immer wieder, dass man spöttischen Bemerkungen oder Vorwürfen ausgesetzt ist. Hinzu kommt (das ist meine persönliche Sichtweise), dass der herrschende Neoliberalismus, in dem es vorrangig um Wachstum und Profit geht, mit christlichen Werten kaum noch vereinbar ist. Aber ist das wirklich gleichbedeutend damit, seinen Glauben nicht leben zu dürfen? Boateng ist dieser Meinung – ich nicht.
Am Sonntag nach der Kundgebung nahm ich an einem Taizé Gottesdienst teil. Und das hat mir den Unterschied zwischen fundamentalistischem Islam und Christentum deutlich vor Augen geführt: während die Kundgebung ausschließlich aus jungen kraftstrotzenden Männern (Frauen durften nicht teilnehmen!) bestand, die bei bestimmten Aufrufen Boatengs in arabischer Sprache einheitlich mit enormer Lautstärke brüllten, bestanden der Taizé Gottesdienst aus überwiegend älteren Frauen, von denen man kein Gebrüll vernahm, sondern stattdessen sanfte Gesänge.
Erstmalig in Deutschland haben wir die Situation, dass die Zahl derjenigen, die keiner Kirche angehören, höher ist als die der Kirchenmitglieder. Im Moment stellt das Christentum weltweit noch zahlenmäßig die Mehrheit dar, im Jahr 2040 wird dies der Islam sein. Boateng scheint offensichtlich in einem Punkt Recht zu haben: in der westlichen Welt spielt Religion eine immer geringere Rolle. Ich habe dazu
hier schon früher zu einer interessanten These von Murat Wilfried Hofmann etwas geschrieben.
Es bleibt die philosophische Frage, ob diejenigen, für die Glaube ein wichtiger und existentieller Teil ihres Lebens ist, die Abkehr der Religion als eine gesellschaftliche Entwicklung akzeptieren müssen oder ob es ein Recht gibt, dieser Entwicklung – so wie Boateng es will – den Kampf zu erklären.