Opferranking - und weiter geht's
Welch merkwürdige Entwicklung das Opferranking nehmen kann, zeigt ein auf Whoopi Goldberg bezogener Artikel von Tsvi Sadan in "israel heute", in dem es um die Definition des Holocaust geht. Sadan lehnt die Definition des Holocaust-Gedenktags als Gedenken, das neben den Juden auch andere Minderheiten wie "Invaliden, Homosexuelle, Zigeuner, Christen usw." zu den Opfern zählt, ab. Dies sei nicht die Weise, wie Israel des Holocausts gedenkt. Seiner Ansicht nach hat eine Miteinbeziehung anderer Minderheiten dazu geführt, dass alles, was mit dem Holocaust zu tun hat, bedeutungslos wurde, so dass nun ein "Nazi" ein Jude sein kann, der in Hebron lebt, und ein "Jude" ein muslimischer Gefangener, der im "Konzentrationslager" Guantanamo Bay eingesperrt ist. Hierfür sieht er auch Hannah Arendts Theorie (Die Banalität des Bösen) mitverantwortlich, die er als eine Trivialisierung des Holocaust einstuft.
Hierzu könnte man sehr viel sagen und insbesondere das Werk Hannah Arendts ist zu komplex, um hier kurz abgehandelt zu werden. Tsvi Sadan steht mit seiner Einschätzung auch nicht allein da, auch der Schriftsteller Eli Wiesel forderte beim Gedenken an den Holocaust eine ausschließliche Konzentration auf Juden.
Wofür steht das befremdliche Gerangel um die Frage nach dem Opferstatus? Selbstverständlich ist der Holocaust aus jüdischer Sicht eine Tragödie für das jüdische Volk. Und es ist wichtig, diese Tragödie niemals in Vergessenheit geraten zu lassen. Aber für Behinderte, Roma, Sinti, Zeugen Jehovas, Homosexuelle stellte der Holocaust auch eine Tragödie dar. Wieso wird alles bedeutungslos, was mit dem Holocaust zu tun hat, nur weil auch andere Opfer der Tragödie wurden? Leitet sich Bedeutung erst aus alleiniger Opferschaft ab?
Was bei diesem Streit deutlich wird, ist der erschreckende Einfluss der Identitätspolitik. Die Zeit des großen Ideals von Gleichheit und universeller Solidarität ist vorbei, da es eben nicht mehr um jene großen Ideale geht, sondern um Abgrenzung und Kampf. Gegner statt Verbündete lautet die Devise. Ich glaube allerdings, dass dies im Grunde schon immer so war, aber erst jetzt sichtbar wird. Die Sichtbarkeit entsteht durch eine Entwicklung, in der es gar nicht mehr vorrangig um die Verbesserung der Situation von Minderheiten geht, sondern um einen schon pathologisch anmutenden Eifer, anderen Rassismus oder Sexismus nachzuweisen. Ähnlich wie in der Mc Carthy-Ära, in der jeder nachweisen musste, kein Kommunist zu sein. Oder aber auch in der Ära des Sozialismus, in der man wiederum das Gegenteil beweisen musste - nämlich kommunistische Linientreue. Und was eignet sich hierfür besser als der Hinweis auf die mangelnde Linientreue oder aber auf den vermeintlichen Rassismus anderer? Und dieser abstruse Eifer hat sich jetzt auf den Begriff des Opfers ausgeweitet, denn auch hier geht jetzt alles um den Nachweis der Zugehörigkeit zur Gruppe der Opfer. Opfer sind zwar viele, aber manche anscheinend mehr und andere weniger. Und darauf scheint es anzukommen.
damals am 19.Mai 22
|
Permalink
Ach, die leidige Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust ...
Ich kann verstehen, was Sadan und Wiesel meinen: Es gibt da bestimmte Spezifika, die nur für die Vernichtung der Juden durch die Nazis zutreffen: die möglichst lückenlose Registrierung der Juden, auch in den besetzten Gebieten, das Ziel, ausnahmslos jedes der betreffenden Individuen einzufangen und zu töten. Das funktionierte bei anderen Opfergruppen oft ein bisschen anders, zeitlich, vom Umfang und von der Konsequenz der Durchführung. Insofern ja: Jeder Völkermord, jeder Vernichtungsfeldzug gegen eine gesellschaftliche Gruppe ist ein bisschen anders und an sich einzigartig.
Was das Schlimme ist, das sprechen Sie an: das Rankting. Das darf es nicht geben. Dass verschiedene Opfergruppen konkurrieren oder sich gar gegenseitig angreifen, ist furchtbar. Der Holocaust an den Juden ist ein Völkermord von vielen. Und wie jeder Völkermord ist er einzigartig in seiner Schrecklichkeit. Aber wo einer einzigartiger als der andere sein will, wo die Solidarität unter Diskriminierten verschiedener Art schwindet, wird es eines Tages neue Mordaktionen geben.