Opferranking
"Im Holocaust geht es nicht um Rassismus, sondern um die Unmenschlichkeit des Menschen gegen den Menschen - das sind zwei weiße Gruppen von Menschen (these are two white groups of people)".

Diese in einer Fernsehdiskussion gemachte Aussage Whoopi Goldbergs hat zu einem Eklat geführt, der - wie sollte es anders sein - mit ihrer (vorerst befristeten) Verbannung aus den öffentlichen Medien verbunden ist. Wobei geht es hier eigentlich? Auf den ersten Blick geht es um die unselige Cancel Culture, die erbarmungslos jeden, der gegen Political Correctness zu verstoßen scheint, aus der Gemeinschaft ausschließt und eine Diskussion strikt unterbindet. Der zweite Blick allerdings offenbart den erbärmlichen Umgang mit dem Begriff des Opfers. Es geht nicht mehr um die Lösung gesellschaftlicher Missstände, sondern nur um deren Plakatierung. Polarisierung statt Solidarität. Die Folge ist ein groteskes Opferranking, das an Absurdität nicht zu überbieten ist.

Erst einmal die Fakten:

Der Begriff Holocaust steht für Katastrophe und Zerstörung. Zu den Opfern dieser Vernichtung gehörten auch Behinderte, Geistliche beider Konfessionen, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Mitglieder oppositioneller Parteien und sogenannte "Asoziale". Die Verfolgung und Ermordung dieser Menschen ist demnach keine alleinige Folge von Rassenideologien, sondern von ebenso menschenverachtenden Kategorien wie Volksfeinde, Volksschädlinge, unwertes Leben. Juden wurden hingegen ausschließlich verfolgt aufgrund einer abstrusen, menschenverachtenden pseudowissenschaftlichen Ideologie der Einteilung in Herrenrasse und Untermenschen. Hierzu gab es nachweislich ganze Kataloge von vermeintlichen Rassemerkmalen in denen Nasenformen, Haarstruktur, Augenfarbe etc. akribisch aufgelistet wurden.

Fazit: Zum einen gehören zu den Opfern des Holocaust nicht nur Menschen, die aufgrund ihrer vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer Rasse vernichtet wurden. Zum anderen ist der Holocaust dennoch untrennbar mit Rassismus verbunden.

Bei dem ganzen Vorfall stellen sich zwei spannende Fragen: Warum war für Whoopi Goldberg die Betonung wichtig, im Holocaust ginge es nicht um Rassismus, sondern um Unmenschlichkeit? Und warum löst dies eine Welle der Empörung aus, in der wiederum von jüdischer Seite der Vorwurf der Bagatellisierung des Holocaust erhoben wird?

Die Verwendung des Begriffs Rassismus ist anscheinend mit einem Exklusivrecht verbunden, so wie dies bei akademischen Titeln der Fall ist. Nur derjenige darf als Doktor bezeichnet werden, dem dieser Titel auch nachweislich nach den geltenden Kriterien zuerkannt wurde. Für Whoopi Goldberg steht fest, dass das Kriterium Rassismus nur dann zutrifft, wenn es um Schwarze als Opfer geht und die Täter weiß sind. Sie stellt allerdings das durch den Holocaust verursachte Leiden weder in Frage noch bagatellisiert sie es. Aber sie betont den Unterschied zwischen rassistisch und unmenschlich. Ist Rassismus und Unmenschlichkeit denn nicht das Gleiche? Fühlt sie als Schwarze ihrerseits den Begriff des Rassismus geschmälert, wenn dieser nicht nur Schwarze betreffen kann?

Aber die Reaktion der Öffentlichkeit macht ähnliche Bedenken deutlich. Es wird als Angriff auf die Juden gewertet, dass die Schrecken des Holocaust nicht als Folge des Rassismus, sondern als Folge von Unmenschlichkeit eingestuft werden. Ist Unmenschlichkeit denn weniger schlimm als Rassismus? Wird das Leiden der Juden geschmälert, wenn die Ursache nicht in Rassismus, sondern in Unmenschlichkeit gesehen wird? Muss jemand wegen so einer Aussage tatsächlich seinen Job (sogar den jüdischen Namen!!) verlieren und sollte möglichst nie wieder in der Öffentlichkeit auftreten dürfen?

Fakt ist, dass auch Menschen mit weißer Haut und hellem Haar Opfer von Rassismus werden können, wenn die zugrundeliegende Rasseideologie die entsprechenden fragwürdigen Kriterien (z.B. Abstammung, Zugehörigkeit) beinhaltet. Fakt ist, dass der Holocaust in jeder Hinsicht eine Bankrotterklärung der Menschlichkeit und ein Rückfall in tiefste Abgründe der Barbarei darstellt.

Was bleibt ist die Erkenntnis, dass der Begriff des Rassismus dringend neu definiert werden muss. Probleme lassen sich nur durch Dialog lösen und nicht durch Canceln. Was ist nur passiert, dass die Kultur des Dialogs verschwunden und der Reaktion des öffentlichen Rachefeldzugs gewichen ist? Anzeigen, anprangern, ausgrenzen, strafen - fällt uns wirklich nichts anderes mehr ein? Spaltung und Abgrenzung als Weg zum friedlichen Zusammenleben? Aber das ist wahrscheinlich genau der Punkt, die meisten Menschen scheinen weitaus mehr Interesse am Kampf gegeneinander als am Kampf miteinander zu haben. Neu ist das nicht.

Ich persönlich werde mich nicht am Opferranking beteiligen. Es geht nicht um das, was Menschen voneinander trennt, sondern um die gemeinsame Erfahrung der Unmenschlichkeit. Identitätspolitik führt genauso in eine Sackgasse wie das zwanghafte Bestreben, jeden, der eine abweichende oder kritische Ansicht vertritt, als Rassist, Antisemit oder Sexist zu brandmarken.




Danke!
Sie schreiben mir aus der Seele. Ich finde diese ganzen Spitzfindigkeiten und diese Pseudo-Differenziertheit, die am Ende viel undifferenzierter ist auch irritierend. Man könnte glatt bekloppt werden und an Chemtrails glauben. Was ist da los? Das frage ich mich auch.

Manchmal, wenn sich bei mir innerer Widerstand regt, wenn Migrant*innen sagen, die weißen Biodeutschen sollen jetzt mal einfach die Klappe halten und nicht mitdiskutieren, dann sage ich mir, okay, in der Diskussion über Schwangerschaftsabbruch habe ich meinem Religionslehrer auch das Mitspracherecht abgesprochen, weil er persönlich ja gar nicht in diese Konfliktsituation geraten kann. Ich verstehe diesen Zorn, dieses, jetzt seid mal still, haltet euch da raus, jetzt sind wir mal dran.

Richtig finde ich es trotzdem nicht. Ich verehre Whoopi Goldberg und werde damit nicht aufhören, nur weil sie etwas gesagt hat, das ich nicht richtig finde. Genauso wie Elke Heidenreich, die - so sehe ich das - aggressiv missverstanden wurde. Alles wird auf die Goldwaage gelegt und am Ende schwurbeln alle nur noch rum, damit sie keinen Shitstorm ernten. Die großen Schweinereien finden sowieso statt, aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Der Schizophrenist hatte die Geschichte mit Whoopi Goldberg auch schon aufgegriffen (sonst hätte ich das gar nicht mitbekommen).

Nochmals danke für diesen Beitrag.

Ja, manches war auch früher ähnlich
Ja, es stimmt, mir fallen bei der Thematik auch Ähnlichkeiten auf. In den Siebziger und Achtzigern kam es manchmal auch zum Ausschluss von Männern. In Hamburg gab es die Frauenkneipe, den Frauenbuchladen, das Frauentherapiezentrum und die Hamburger Frauenwoche und zu allen hatten Männer keinen Zutritt. Heute vergleichbar mit den Safer Spaces, die von Schwarzen gefordert werden. Ich selbst habe im sogenannten "Frauenschwerpunkt" studiert, das heißt ein Seminar mit dem Schwerpunkt auf der Sozialarbeit mit Frauen und Mädchen.

Damals wie heute habe ich kein Problem damit, wenn es einzelne Einrichtungen gibt, die speziell nur Frauen Zutritt gewähren. Es gab und gibt nun mal dumme und nervige Anmache, es gab und gibt Gewalt gegen Frauen und nach wie vor gibt es Männer, die sich sofort zu Wortführen aufschwingen und Frauen in die Ecke drängen. Wobei ich betone, dass dies besonders oft auf Männer aus der linken Szene zutrifft, denn die behaupten ja nach wie vor, dass sie den Sexismus schon längst überwunden haben, bzw. sich niemals sexistisch verhalten hätten.

Was ich allerdings als überflüssig empfand, war ein spezieller Frauenraum an der Uni (der übrigens meist gähnend leer war) und gegen Ende meines Studiums einen sogenannten "Frauentisch" in der Mensa, von dem Männer sofort weggescheucht wurden. Aber woran ich nie und nimmer beteiligt habe und auch nicht beteiligen werde, war der fanatische Eifer, jedem überall und jederzeit Sexismus nachzuweisen. Und es gab keine einzige Situation, in der ich dafür plädiert habe, jemanden auszuschließen (so hieß canceln früher). Gendersprache gab es übrigens auch damals schon, einige sagen "frau" statt "man", aber das wurde von niemanden verordnet und es bestand die Freiheit, sich so auszudrücken, wie man/frau es wollte.

Und wie Sie sehr treffend formulieren: "Die großen Schweinereien finden statt, aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit". Mir geht es, wie vielen anderen meiner Generation um den Kampf gegen große Schweinereien. Und dafür ist ein Opferranking denkbar ungeeignet.