Weimar reloaded – Abschied von der Demokratie
Kommt es zu Vergleichen der Entwicklung in Deutschland mit der Weimarer Republik, dann wird dies oftmals als unangebrachte Schwarzseherei kritisiert. Hauptargument ist dabei immer wieder, wie viel gefestigter doch unsere jetzige Demokratie sei und wie sehr sich doch die heutige ökonomische Situation von der damaligen unterscheidet. Ich wundere mich immer – ja bin sogar regelrecht ein bisschen neidisch darauf – wie unerschütterlich der Glaube vieler Menschen an die Unveränderlichkeit der Verhältnisse ist. Schön wär’s ja, wenn ein einmal erreichtes Niveau für immer und ewig ein verlässlicher Fixpunkt bleiben würde. Aber leider lehrt die Geschichte, dass Kulturen nicht nur entstehen, sondern ebenso auch wieder verschwinden können.

Worin besteht die Ähnlichkeit unserer jetzigen Gesellschaft zur Weimarer Republik? Damals wie heute kann man von einer erheblichen Politikmüdigkeit in der Bevölkerung ausgehen. Die steigenden Zahlen der Wählerschaft der AFD machen deutlich, dass sich viele Menschen nicht von den bisherigen Parteien vertreten sehen. Auch zur Weimarer Zeit wurde die Regierung als schwach und unfähig empfunden und damals galt die Einhaltung des Versailler Vertrags als Verrat am Volk.

Besondere Beachtung verdient das Argument des Wohlstands in Deutschland. Sinkende Arbeitslosenzahlen und steigendes Bruttosozialprodukt, ein hoher Standard an medizinischer und sozialer Versorgung – wo ist also das Problem? Wäre ich nicht Sozialarbeiterin, sondern Kauffrau, Web-Designerin oder Eventmanagerin, dann würde ich diese Meinung vielleicht teilen, aber da ich nun mal im sozialen Bereich arbeite, habe ich andere Einblicke. Die Entwicklung, die ich in mehr dreißig Jahre Sozialarbeit erlebe, stimmt mich alles andere als optimistisch. Es gab noch nie so viele Menschen, die ihren Lebensunterhalt nur mit der Inanspruchnahme von Lebensmittelausgabestellen und Kleiderkammern bestreiten können und es gab früher erheblich weniger Bettler und Obdachlose. Die Zahl der sozialen Beratungsstellen und Hilfsangebote ist sprunghaft gestiegen und es kommen kontinuierlich neue hinzu. Jetzt könnte man natürlich entgegnen, dass dies doch ein gutes Zeichen sei, denn der Staat kümmert sich immerhin verantwortungsbewusst um seine Bürger. Mag sein, aber das verbirgt nicht, dass viele Menschen in zunehmenden Maße abhängig von der Hilfe Dritter sind. Und diese Menschen sind alles andere als zufrieden mit ihrer Situation, denn anders als in Weimar leben wir jetzt in einer Gesellschaft, die einem großen Shoppingcenter gleicht und deren Schaufenster überquellen. Wer wenig Geld hat, muss sich allerdings mit dem bloßen Ansehen begnügen und ist vom fröhlichen Kaufen ausgeschlossen.

Was ist mit den Straßenkämpfen, die kennzeichnend für die spätere Phase der Weimarer Republik waren? So weit sind wir doch noch längst nicht, oder? Wenn man sich die Bilder des G20-Gipfels vom vergangenen Jahr in Hamburg sowie die Auftritte rechter Demonstranten in Chemnitz ins Gedächtnis ruft, dann sind die Ähnlichkeiten unübersehbar. Was allerdings einen großen Unterschied zu Weimar darstellt, ist die Tatsache, dass es nicht mehr nur Gewalt von rechts und von links gibt, sondern auch religiös motivierte Gewalt. Und diese religiöse Gewalt hat das Potential, Deutschland in zwei feindliche unversöhnliche Lager zu spalten. Da sind zum einen diejenigen, die nicht müde werden darauf hinzuweisen, dass doch letztendlich jede Religion Gewalt beinhaltet und die sofort jede Kritik als rassistisch brandmarken. Außerdem sei alles doch nur eine Frage von Integration und Bildung und wenn wir nur wollen, werden wir das doch schon hinbekommen. Zum anderen gibt es diejenigen, die „Ausländer raus“ brüllen und dies als Lösung sämtlicher gesellschaftlicher Probleme proklamieren.

Der eigentliche Unterschied zu Weimar besteht darin, dass Weimar das Trauma des Dritten Reichs noch vor sich hatte, während wir es schon durchlebt haben und es für immer zu unserer Vergangenheit gehört. Aber haben wir wirklich aus diesem Trauma gelernt? Nein, haben wir nicht. Wir erkennen die rechte Gefahr nur dort, wo sie eindeutig als rechts auftritt. Wir erkennen nur dann die Gefahr, wenn sie von einem pöbelnden Mob ausgeht, der durch die Straßen zieht und jeden dunkelhaarigen Menschen in die Flucht brüllt. Aber wir sind blind gegen die Gefahr, die von Menschen ausgeht, die erbarmungslos jeden mit dem Tod bedrohen, der sich gegenüber ihrer Religion kritisch äußert oder der diese Religion in anderer Form leben möchte. Noch blinder sind wir jedoch gegenüber dem Umstand, dass es so gut wie keine Solidarität mit religiös Verfolgten gibt.

Die bedrohliche Gemeinsamkeit zur Weimarer Republik besteht in dem Umstand, dass wir wieder unterschätzen, welche riesengroße Rolle das tatenlose Zuschauen spielt. Wir lassen uns dadurch beruhigen, dass die religiös motivierte Gewalt doch nur von einer relativ kleinen Minderheit verübt wird und ignorieren dabei völlig, dass die große Mehrheit dieser Gewalt weder entschieden entgegentritt, noch sich von ihr distanziert. Eine Mehrheit, die zwar vehement Toleranz für sich fordert, aber nicht im Geringsten bereit ist, diese auch anderen zu gewähren.

Deutschland ist demokratiemüde geworden. Wer während des G20-Gipfels Betonklötze auf Polizisten wirft, setzt einzig auf Gewalt und hat der Demokratie eine Absage erteilt. Wer für alle gesellschaftlichen Probleme pauschal Menschen anderer Nationalität verantwortlich macht, hat der Demokratie eine Absage erteilt. Wer seine Religion über die Menschenrechte stellt, hat der Demokratie eine Absage erteilt. Wer jede kritische Auseinandersetzung mit anderen Wertesystemen als rassistisch diffamiert, hat der Demokratie eine Absage erteilt. Wer für einen Despoten auf die Straße geht, der Oppositionelle im Gefängnis verschwinden lässt und eine freie Presse untersagt, hat der Demokratie eine Absage erteilt.

In Zuckmeyers „Des Teufels General“ sagt Generaloberst Harras: „Das Böse existiert nicht in der Welt, weil Böses getan wird, sondern weil es geduldet wird“. Diese Aussage trifft besonders auf das Dritte Reich und insbesondere auf den Holocaust zu. Es stimmt nicht, dass ausnahmslos jeder Deutscher von der Idee besessen war, Juden auszurotten. Geschehen konnte dies nur deswegen, weil die große Mehrheit in tatenlosem, völlig gleichgültigem Zuschauen erstarrt war. Und dies führt zu einem Déjà-vu, denn in Deutschland birgt es auch jetzt wieder Gefahren mit sich, öffentlich eine Kippa zu tragen. Lebensgefahr besteht auch für diejenigen Künstler, Schriftsteller und liberale Gläubige, die sich religionskritisch äußern. Wohingegen es keine Gefahr darstellt, öffentlich die Fahne eines anderen Landes zu verbrennen und diesem Land dabei laut brüllend den Tod zu wünschen. Und was tut die Bevölkerung, was tun wir? Nichts. Und eben darin besteht die Ähnlichkeit zu Weimar.




Danke, Frau Behrens,
ich stimme Ihnen weitestgehend zu und habe auch Angst vor den aktuellen politischen Entwicklungen. Ich sehe aber auch Leute, die den Mund aufmachen, friedlich auf die Straße gehen, den Faschisten entgegentreten, sich für Geflüchtete einsetzen, sich für einen liberalen Islam stark machen...
neulich hatten wir bei unserem kirchlichen Träger eine Fortbildung zum Islam. Die Referenten wirkten ein ganz kleines bisschen hirngewaschen auf mich, obwohl durchaus offen, sympathisch und überhaupt nicht radikal, aber ähnlich wie so sanft lächelnde Evangelen oder Katholiken, die sich permanent bekreuzigen. Ich spürte trotz meiner großen Sympathie vor allem für die Referentin so ein unangenehmes Ziehen im Rückenmark, konnte aber nicht genau sagen, warum.
In der Moschee, in der wir das Mittagsgebet besuchten (diesmal war es eine internationale, keine Ditib-Moschee, wobei ich auch in einer solchen nur gute Erfahrungen gemacht habe) wurden wir von nahezu jedem Beter, der nach und nach eintrudelte, mit einem äußerst wohlwollenden Friedensgruß begrüßt. Ich fand das sehr bewegend und zwar im positiven Sinne.
Aber natürlich gibt es auch unter den Muslimen einige Religionsfaschisten und die wollen auch was und tun auch was dafür. Da muss man schon hinsehen, da haben Sie Recht. Bei den Christen merkt man das schneller, da kennt man sich hierzulande besser aus ;-)

Ich glaube ja trotzdem nach wie vor an das Gute im Menschen. Und wenn wir alle im Gespräch bleiben, dann können wir die bekloppt-frustriert-gewaltbereiten genauso wie die intelligenten, destruktiven Psychopathen einigermaßen in Schach halten und unsere Demokratie retten. Aber leicht wird das sicher nicht und wir können auch scheitern. Wollen wir aber nicht!

Ach ja, außerdem habe ich mal gelesen, dass der Rechtsruck überwiegend vom gutsituierten Bildungsbürgertum ausgeht, das noch etwas zu verlieren hat. Die paar Prügel-Fascho-Dumpfbacken, die sich gelegentlich zusammenrotten, kriegen keine Demokratie umgestürzt. Also: wir sind gefragt. Darum nochmals danke für Ihre Mahnung, nicht still zu dulden, sondern aufzustehen.

Kommen Sie gut ins neue Jahr

Ich glaube nicht an das Gute aller Menschen, sondern nur an das Gute derer, die sich nicht dem Hass verschrieben haben und die fähig zur Selbstkritik sind. Sie schreiben, dass Sie Leute sehen, die den Mund aufmachen und den Faschisten entgegentreten und die sich für einen liberalen Islam stark machen. In Ersterem stimme ich Ihnen zu, bei Zweitem jedoch nicht. Ich sehe zwar eine (sehr kleine) Minderheit, die für einen liberalen Islam eintritt, aber diese Minderheit ist extremer Bedrohung und Gewalt ausgesetzt. Für diese Menschen gibt es definitiv keine Solidarität - jedenfalls nicht von Seiten der islamischen Mehrheit oder von Seiten der Linken. Der Vorsitzende eines Islamverbandes antwortete auf die Bitte nach einer Stellungnahme, „er könne sich nicht zu jeder Moschee im Einzelnen äußern“. Diese Aussage ist genauso dämlich wie bezeichnend.

Vor ein paar Tagen wurde die aus Bangladesch stammende islamkritische Bloggerin Tamalika Singha in ihrer Berliner Wohnung tot aufgefunden. Dies taucht in der „normalen“ Presse nicht auf, will man im Netz Näheres darüber erfahren, landet man schnell auf sehr fragwürdigen Seiten. Ich möchte vermeiden, hier von „Instrumentalisieren“ der Nachricht zu sprechen, weil dies mittlerweile zu einem zweifelhaftem Schlagwort geworden ist, wenn es um islamische Gewalt geht. Dennoch widerstrebt es mir, meine Information von Seiten zu beziehen, in denen sich ein Großteil der Kommentare auf niedrigstem menschenverachtendem Hetzniveau gegen Ausländer befindet.

Bei Gewalt gegen Ausländer wird sehr schnell mit Solidaritätsdemos und Veranstaltungen reagiert. Bei der Gewalt gegen liberale Muslime sucht man danach vergeblich. Auch bei der Hetzjagd auf Frauen Sylvester 2015/2016 gab es keine nennenswerte Solidaritätsdemo. Wobei ich allerdings auch noch genau das Foto eines Syrers vor Augen habe, der völlig allein vor dem Kölner Dom stand und dort ein Pappschild hochhielt, auf dem geschrieben stand „Sorry“. Und auch in der Emma wurde über einen Flüchtling berichtet, der während der Hetzjagd selbstlos Frauen half. Natürlich gibt es einzelne, ohne Frage und ich ziehe meinen Hut vor diesen mutigen Menschen. Aber Einzelne gab es auch im Dritten Reich, ohne dass dadurch die Todesmaschinerie gestoppt wurde.

Wir überlassen der rechtsextremen Szene das Feld für die kritische Auseinandersetzung mit dem Islam und das wird sich irgendwann rächen. Es besteht ein verheerendes und unheilvolles Tabu, Dinge beim Namen zu nennen. Bricht man dieses Tabu, landet man unweigerlich in der rechten Ecke. Das geht so weit, dass sich Journalisten noch nicht einmal entblöden, Ralph Giordano als einen „von dumpfen Ressentiments getriebenen Kleinbürger“ zu beschimpfen oder dass Professoren nicht davor zurückschrecken, Necla Kelek in Bezug auf ihre Untersuchungsergebnisse zu den Ansichten mancher muslimischer Jugendlicher damit zu drohen, ihre Promotion nicht zu unterstützen.

Mittlerweile scheinen wir nur noch zwischen Bedrohung oder Diffamierung wählen zu können. Oder aber wir praktizieren die dritte Möglichkeit, nämlich die des konsequenten Schweigens zum Thema Islam, so wie es Hape Kerkeling für sich entschieden hat: „Ich würde und werde mich öffentlich mit dem Islam nicht beschäftigen. Aus Angst." Und seine Angst ist berechtigt, wenn er nicht so enden will wie Theo van Gogh oder die Mitarbeiter von Charlie Hebdo. Haben wir wirklich keine andere Wahl mehr, als den Mund zu halten? Wollen wir wirklich so leben?

Liebe Frau Fabry, auch wenn es nach diesem düsteren Statement seltsam klingt, auch ich wünsche Ihnen ein gutes neues Jahr!