Was ich Frau Kaddor gern mal persönlich sagen würde und warum ich mir eher die Zunge abbeißen würde, als bestimmte Argumente zu verwenden
Zu der Demonstration am vergangenen Wochenende wurden Muslime aus ganz Deutschland aufgerufen, um sich öffentlich von islamistischer Gewalt zu distanzieren. Von den über vier Millionen Muslimen sind allerdings nur etwa 1500 gekommen, wobei in dieser Zahl auch viele nichtmuslimische Deutsche enthalten sind, die ebenfalls an der Demo teilnahmen. Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor hat dazu mit der Äußerung Stellung genommen „Vielleicht liegt es daran, dass Muslime keine Demonstrationskultur kennen“. Weitere Analysen gibt es nicht, stattdessen gibt es von Muslimen wieder das Argument des Generalvorwurfs, der dazu führe, dass Muslime „doppelt“ leiden müssen – zum einen unter der islamistischen Gewalt, zum anderen unter der angeblich ständigen Rechtfertigungspflicht.
Seitdem ich mich begann, mich für Politik zu interessieren ( das war ungefähr im Alter von 13 Jahren), beschäftigt mich auch das Dritte Reich und der Holocaust. Da ich seit über 25 Jahren mit einem Franzosen liiert bin, wurde und werde ich in Frankreich auch immer wieder auf die Verbrechen des Dritten Reichs angesprochen. Es ergaben sich zu diesem Thema schon unzählige Diskussionen. Dabei habe ich alle möglichen Aspekte zu diesem furchtbaren Kapitel der Geschichte berührt, nur eines habe ich niemals getan und werde es mit absoluter Sicherheit auch niemals tun: damit kontern, dass man nicht alle Deutschen unter Generalverdacht stellen darf. Obwohl ich für dafür sehr gute Argumente aus meiner eigenen Familie anführen könnte, denn während einer meiner Großväter begeisterter Nationalsozialist war, ist mein anderer Großvater trotz aller Repressionen standhaft Mitglied der SPD geblieben. Und obwohl dies kein Einzelfall ist und ich viele andere kenne, bei denen es genauso war, würde ich mir eher die Zunge abbeißen, als die Opferrolle für die Deutschen zu beanspruchen und mit dem Hinweis auf einen ungerechtfertigten Generalvorwurf jede weitere Auseinandersetzung im Keime zu ersticken.
Ich glaube, dies ist der eigentliche Unterschied zwischen muslimischer und nichtmuslimischer Kultur: die absolute Verweigerung jeglicher Selbstkritik und die immer und überall beanspruchte Opferrolle.
Übrigens haben Muslime durchaus eine „Demonstrationskultur“ oder hat Frau Kaddor die Demo von vierzigtausend Muslimen vergessen, die vor einem halben Jahr für einen Mann auf die Straße gingen, der jeden Oppositionellen ins Gefängnis steckt, offen für die Todesstrafe plädiert und außerdem den Genozid an den Armeniern als Lüge bezeichnet? Und schon lange vor dieser Großdemo gab es auch unter Muslimen viele Demos, wie zum Beispiel in Frankreich gegen das Kopftuchverbot oder in Deutschland gegen die Ausstrahlung eines Tatorts, in dem die Täter keine Deutschen, sondern Muslime waren.
Warum konstruiert Frau Kaddor den umständlichen Begriff der mangelnden „Demonstrationskultur“ und spricht stattdessen nicht Klartext und nennt mangelndes Interesse als Grund für die Minidemo?
Mag sein, dass es keine „guten“ oder „schlechten“ Religionen gibt, und zu jeder Religion immer auch eine Geschichte der Gewalt und der Unterdrückung gehört (so wie dies übrigens auch immer der Fall bei atheistischen Ideologien ist). Aber mit Sicherheit gibt es einen enormen Unterschied innerhalb der einzelnen Religionen in Bezug auf die konkrete Bereitschaft zur Selbstkritik. Da mag man jetzt wieder Namen wie Seyran Ates, Hamed Abdel-Samad, Necla Kelek etc. anführen. Solange diese mutigen Menschen jedoch mit dem Tod bedroht werden und es noch nicht einmal den Hauch von Solidarität gibt, wird sich daran niemals etwas ändern. Und auch Frau Kaddors Philosophie des „Schuld sind immer die Anderen“ stellt wohl kaum einen Beitrag zur kritischen Selbstreflexion dar. Demonstrationskultur hin, Demonstrationskultur her.
Das Argument der fehlenden Demonstrationskultur finde ich sehr naiv. Schließlich kam es in allen Teilen der Welt zu sehr gewalttätigen Demonstrationen nach der Publikation der Mohamed-Karrikaturen in einer relativ unbekannten Zeitschrift in Dänemark. Muslime haben auch offensichtlich kein Problem damit, in großer Zahl für Erdogan auf die Straße zu gehen oder an den propalästinensischen Demos teilzunehmen.
Auf der anderen Seite kann ich verstehen, dass die liberalen, bestens integrierten Muslime keine Lust haben, zu einer Demo zu reisen, weil sie faktisch Teil der Mehrheitsgesellschaft sind und nicht für alle Muslime dieser Welt stellvertretend auftreten möchten.
Das sehe ich ganz genauso.
behrens am 25.Jun 17
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Die Aussage zur den Gründen mangelnder Motivation für die Teilnahme an einer Demo sehe ich ein wenig anders. Man geht auf Demos um Zeichen für oder gegen etwas zu setzen oder um sich zu solidarisieren. Viele Menschen, die beispielsweise auf Anti-Rassismus Demos gehen, sind persönlich meilenweit vom Rassismus entfernt und haben in ihrem eigenen Umfeld kaum Berührungspunkte damit. Trotzdem oder gerade deswegen ist ihnen die Teilnahme an solchen Demos enorm wichtig.
Lamya Kaddor hat auch zu diesem Thema eine bemerkenswerte Aussage gemacht „Es gibt keinen Grund, sich öffentlich zum Islamismus zu distanzieren, weil im Islam ja überhaupt keine Nähe dazu besteht.““(!) Würde man dieser Logik folgen, dann wären demnach Anti-Rassismus-Demos in Zukunft völlig überflüssig, denn die Teilnehmer derartiger Demos haben ja ebenfalls keine Nähe zu dieser Thematik.
Frau Kaddor scheint da etwas Grundlegendes zu verwechseln und zum Glück trifft ihre unsinnige Begründung nicht zu, denn dann hätten mindestens neunzig Prozent der bisherigen Demos niemals stattgefunden.
Ich stimme zu, dass man über die öffentlichen Statements von Frau Kaddor manchmal nur staunen kann. Auch ich kann mit ihrer Logik wenig anfangen.
Wenn es um "Migrantenthemen" geht, versuche ich mir eine ähnliche Situation vorzustellen, die mich betreffen würde. In diesem Fall würde es bedeuten, dass sich viele Polen dermaßen schlecht verhalten (fehlende Integrationsbereitschaft, Terror, Selbstmordattentate etc.), dass ich mich dafür schämen und entschuldigen müsste. Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde. Vielleicht würde ich sagen: "Leute, ich habe mit diesen Vollidioten nichts zu tun, auch in meiner Heimat hätte ich mit ihnen nichts am Hut gehabt, und ich habe keine Lust, mich für diesen Mist zuständig zu fühlen". Wer weiß?
Ich glaube es ist eine Mischung aus Sich-Nicht-Verantwortlich-Fühlen (wie im Beispiel oben) und - leider! - passivem Einverständnis. Ich gehe davon aus, dass viele nicht gewalttätige, aber sehr konservative Muslime zwar mit dem Terror selbst nicht einverstanden sind, aber mit einigen Grundgedanken schon.
behrens am 28.Jun 17
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Mir geht es bei der Teilnahme an einer Demonstration nicht so sehr ums Schämen oder darum, mich für andere zu entschuldigen, sondern darum, ein Zeichen zu setzen. Ich bin beispielsweise nach dem
Brandanschlag in den 90er Jahren auf ein Haus mit türkischstämmigen Bewohnern bewusst zur Trauerkundgebung gegangen um meine Haltung zum Ausdruck zu bringen. Ich möchte einfach derartige Gewalttaten nicht unkommentiert lassen und ich bin mir relativ sicher, dass ich dies ähnlich handhaben würde, wenn ich selbst als Ausländerin in einem anderen Land leben würde. Ich habe übrigens auch geplant, an einer Veranstaltung in Ausschwitz teilzunehmen, da ich mich damit auseinandersetzen will, welche Verbrechen von dem Land ausgingen, von dem ich nun mal ein Teil bin.
Ich musste wieder an unsere Diskussion denken - es gab einen erneuten Versuch einer aus der muslimischen Community heraus initiierten Demo gegen den islamischen Terrorismus. Diesmal waren die Organisatoren vor allem französische Imame, die nun zum Teil in ihren Communities als Verräter betrachten werden.
Wäre ich Muslimin, würde ich an dieser zweiten Demo wahrscheinlich teilnehmen, nachdem überall in den Medien vom äußerst geringen Interesse der deutschen Muslime an der Demo von Frau Kaddor berichtet wurde, und kann Ihr Argument mit dem "Zeichen setzen" besser nachvollziehen :-)
behrens am 16.Jul 17
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Und ich denke des Öfteren an unsere Diskussionen darüber, ob der Islam irgendwann einmal eine Reform in Richtung Menschenrechte erleben wird. Ich würde gern Ihren Standpunkt teilen und an eine Veränderung glauben. Aber während die Moscheegründung von Seyran Ates eine wahre Lawine von Hasskommentaren ausgelöst hat, ist die Reaktion auf die Attentate gleich Null – mal abgesehen von den Statements der islamischen Verbände, die allerdings jede Positionierung gegen Gewalt an den unvermeidlichen Vorwurf des angeblichen „Generalverdachts“ koppeln. Für Veränderungen braucht man Menschen, die überhaupt einen Grund für Veränderungen sehen. Wenn die kleine Minderheit, auf die dies zutrifft, mit dem Tode bedroht wird und dies auf erschreckende Gleichgültigkeit stößt, dann wird jede Veränderung im Keim erstickt.