Das kleine Stalingrad zu Sylvester
Es ist schon lange her, dass ich wirklich Spaß an Sylvester hatte. Mittlerweile könnte ich gut und gern darauf verzichten. Ich wohne in einem Viertel, in dem regelrecht aufgerüstet wird was Böller und Raketen angeht. Und längst scheint es den Betreffenden dabei riesigen Spaß zu machen, die Raketen nicht gen Himmel, sondern direkt auf Autos oder Fenster zu schießen. Böller in Richtung von Menschen zu werfen gab’s schon zu meiner Jugend, allerdings waren die wesentlich kleiner und nicht vergleichbar mit den jetzigen XXL-Böllern, die weitaus gefährlich sind. Ich erinnere mich mit Wehmut an einige Sylvesterabende, die ich in einem Ferienhaus in Dänemark verbracht habe. Nur von weitem einige Raketen und Böllerschüsse – so richtig angenehm. Bei einem Sylvesterabend in Paris war es nicht viel anders.

Ältere Menschen, die den Krieg miterlebt haben, sagen oft, dass die Sylvesterknallerei wieder die fürchterlichen Kriegserinnerungen lebendig werden lässt. Und das fiel mir gestern ein, als wir die Rückkehr in unsere Wohnung erst antraten, als das Geballere ein wenig nachließ. Wobei man wirklich von „ein wenig“ sprechen muss, denn es knallte und schepperte immer noch heftig. Man fühlt sich wie ein gehetztes Tier, wenn man versucht, nicht in die Schusslinie von Jugendgruppen zu geraten, die es zum Brüllen komisch finden, ihre Böller in Richtung Menschen zu werfen. Vor unserer Wohnung dann ein Schlachtfeld aus Böllerkartons, Verpackungen und Flaschen fürs Abschießen der Raketen. Und es loderten tatsächlich aus einem der Müllhaufen Flammen, so dass der Begriff „Schlachtfeld“ wirklich nicht übertrieben ist. In Hamburg gab es fast 220 Brände in der Sylvesternacht und mehr als 1.000 Feuerwehreinsätze.

Leider lag ich die meiste Zeit zwischen Weihnachten und Sylvester krank auf dem Sofa, so dass aus unserem Plan nach Dänemark zu fahren nichts wurde. Aber nächstes Jahr wird mich keiner daran hindern Reißaus zu nehmen. Wohin ist mir letztendlich egal – Hauptsache weg aus dieser fürchterlichen Gegend, aus der ab dem 30.12. ein Miniaturstalingrad wird.




Wir böllern schon seit Jahren nicht mehr. Weil unsere Freunde, mit denen wir regelmäßig Silvester feiern, zwei Katzen haben, hat sich das verboten. Denn die sind meist bereits einige Tage vor Silvester so durcheinander, dass sie sich verkriechen - in den Schrank, unters Bett, unter die Decke - und bei jeder Kleinigkeit schreckhaft abzischen.

So geht es mir auch schon seit einiger Zeit. Wenn in den letzten Tagen vor unserer Haustür die Kids und Jugendlichen in Grüppchen entlang zogen und sich einen Scherz draus machten, Böller in die Kanalisation zu werfen, habe ich mich zu Tode erschrocken. Keine Ahnung, ob das früher tatsächlich anders war, aber mir gefällt die Knallerei definitiv nicht.

Und der Vergleich mit den Geräuschen des Krieges sind nicht so weit hergeholt. Wir hatten zuletzt ein paar Kriegsdokus gesehen und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass eine solche Geräuschkulisse in der Tat Gefahr signalisiert. Das auch zu recht. Mir fiel es nicht schwer, oben in meinem Bett unter dem Dach liegend, mir auszumalen, wie sich das wohl in etwa angefühlt haben muss.

Dass es absolut inakzeptabel ist, Menschen mit Feuerwerkskörpern zu bewerfen, steht außer Frage. Es hat wohl viel mit Sich-stark-fühlen zu tun, wenn Jugendliche das tun. Dumm nur, dass das so oft auf Kosten anderer geschieht.

Ich habe manchmal das Gefühl, dass vielen Menschen in den sogenannten „Friedenszeiten“ ein Ventil fehlt um ihre Aggressionen abzulassen. Und gleichzeitig geht die zunehmende Verrohung auch an den Sylvesterbräuchen nicht vorbei. Ein bisschen Knallen, ein paar Raketen abschießen ist ja völlig OK, aber es findet ja eine regelrechte Aufrüstung statt und die normalen Böller, die noch irgendwelchen Sicherheitsvorschriften unterliegen, reichen nicht mehr aus, sondern es werden illegale bestellt. Alles XXL versteht sich.