Ein kleine Szene als Lehrstück über den autoritären Charakter
Vorgestern stolperte ich über eine Szene des Films „Das Zeugenhaus“. Der Film spielt im Jahr 1946 zur Zeit der Nürnberger Prozesse und es geht um die vorgeladenen Zeugen, die von der amerikanischen Besatzungsmacht gemeinsam in eine Villa einquartiert werden. Zu den Zeugen gehörten sowohl NS-Täter als auch Opfer, was zuerst zu schwelenden und später zu offenen Auseinandersetzungen führt.

Zu den in der Villa lebenden Zeugen gehört auch Henny von Schirach, die Ehefrau des Reichsjugendführers Baldur von Schirach und Tochter Heinrich Hoffmanns, des Leibfotografen Adolf Hitlers. Henny von Schirach gehörte zum engeren Bekanntenkreis Hitlers und verbrachte auch Zeiten auf Hitlers Berghof. Henny von Schirach erwähnt gegenüber den anderen Bewohnern eine Auseinandersetzung mit Hitler, in der sie ihm ins Gesicht sagte, dass es unmenschlich sei, wie die Juden bei den Deportationen behandelt werden. Hitler reagierte sehr wütend und war so erbost, dass sie und ihr Mann vom Berghof verbannt wurden.

Es ist diese Szene, um die es mir hier geht, denn diese Begebenheit hat sich nachweislich tatsächlich so zugetragen. Sowohl Albert Speer, Traudel Junge und Goebbels bestätigen den Vorfall. Traudel Junge hat in ihrem Buch auch die Reaktion Hitlers sehr genau beschrieben: Henriette von Schirach, „die ja eine relativ vertrauliche Position gegenüber Hitler hatte, […] hat den Führer darauf angesprochen, dass es ganz schrecklich wäre, wie die Juden in Amsterdam behandelt werden..“ Daraufhin hätte Hitler ihr wütend geraten, sich nicht in Dinge einzumischen, die sie nicht versteht, sich über „diese Gefühlsduselei und Sentimentalität“ geärgert und den Raum verlassen. Henny von Schirach sei als Reaktion darauf nie wieder auf den Berghof eingeladen worden. Albert Speer beschreibt die Reaktion auf die Auseinandersetzung als „düstere Stimmung“ und als Grund für die Verbannung vom Berghof.

Warum beschäftigt mich diese Szene so? Weil mir bisher nicht bekannt war, ob es jemals dazu kam, dass Hitler innerhalb seines Bekanntenkreises mit Vorwürfen in Bezug auf das Vorgehen gegen die die Juden konfrontiert wurde. Wobei man sich über die Person der Henny Schirach nicht täuschen darf, denn sie war begeisterte Anhängerin Hitlers und ihr Mann war bekennender Antisemit. Und auch nach dem Krieg war bei Henny von Schirach nicht die geringste Einsicht in die Verbrechen vorhanden, wie schon an ihren merkwürdigen Buchtiteln „Anekdoten um Hitler“ und „Der Preis der Herrlichkeit“ deutlich wird.

Es ist eine absurde Situation – in grenzenloser Naivität und Unbedarftheit wirft eine junge Frau einem Mann, der nie ein Hehl aus seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Juden gemacht hat, deren unmenschliche Behandlung vor. Der Vorwurf richtet sich gegen jemanden, der von Anfang an klar als Massenmörder erkennbarer war und dessen Programm ebenso klar erkennbar eine Verkörperung der Inhumanität darstellte. Henny von Schirach scheint dies jedoch während all den Jahren in ihrer großen Begeisterung konsequent ausgeblendet zu haben und so kommt es zu jener grotesken Situation, in der von einem Massenmörder eine Antwort darauf erwartet wird, warum er denn Menschen nicht besser behandelt.

Genauso absurd wie Henny von Schirachas naiv vorgebrachte Kritik fällt auch Hitlers Reaktion aus. Der unumschränkte Herrscher über Deutschland und Herrscher in spe über die gesamte Welt verlässt beleidigt den Raum wie ein kleiner Junge, der von der Mama zu Unrecht getadelt wurde. Man stellt sich unweigerlich die Frage, warum jemand, der sich der Rechtmäßigkeit seines Antisemitismus so ungemein sicher ist, durch den naiv vorgetragenen Vorwurf der Unmenschlichkeit dermaßen seine Fassung verliert. Umso mehr, als doch seiner Ideologie entsprechend Unmenschlichkeit eine Tugend und keine Schwäche darstellt, der man sich folglich auch nicht schämen muss. Wieso wird jemand, der Millionen von fanatischen Menschen hinter sich hat, die bereit sind für ihn zu sterben, durch einen einzigen Satz einer im Grunde völlig unwichtigen Frau dermaßen verunsichert?

Wenn ich mir die Szene bildhaft vorstelle und vor mir den Mann sehe, der sich in einem krankhaften Größenwahn dazu berufen fühlte, erst Deutschland und dann die ganze Welt zu unterwerfen und der in einem ebenso krankhaften Hass die Verantwortung für alle Übel dieser Welt auf die Juden projizierte – was spielte sich in dessen Denken ab, als ihm von einer durch und durch treu ergebenen jungen Frau der Vorwurf der Unmenschlichkeit gemacht wurde? Was löst es bei jemandem aus, der sich für unfehlbar und von höheren Mächten berufen wähnt, wenn sich unter das uneingeschränkte Bejubeln seines Handelns doch einmal ein winziger Funken Kritik einschleicht?

Die grenzenlose Unbedarftheit Henny von Schirachs und die ins Lächerliche gehende Reaktion Hitlers erinnern mich an Hannah Arendts Theorie der „Banalität des Bösen“. Dieser Theorie zufolge ist das Böse nicht das Werk von monströsen Psychopathen und menschlichen Ungeheuern, sondern das der ganz normalen Durchschnittsbürger. Menschen, die grundsätzlich noch nicht einmal pathologisch gefühlskalt sein müssen, sondern die durchaus in der Lage sein können, Unmenschlichkeit als Unrecht zu empfinden. Und die trotz des subjektiven Empfindens von Unrecht dem Verursacher dieses Unrechts keinen Widerspruch leisten.

Es ist diese Banalität des Bösen, die das Ungeheure zu etwas Allgegenwärtigem machen, das zeitlos ist und weit über das Dritte Reich hinausgeht. Das Dritte Reich mag Vergangenheit sein, die ihm zugrunde liegenden menschlichen Mechanismen bestehen nach wie vor und finden sich wiederkehrend in den alltäglichen Situationen unseres Lebens. Es wird immer Menschen geben, die sich berufen fühlen anderen Ordern zu geben und für die es keinen größeren Frevel gibt, als den der Kritik an ihrem Handeln. Und genauso wird es immer Menschen geben, die diese Ordern und Verbote in blinden Gehorsam befolgen.

Nein, es geht eben nicht nur um die großen Diktatoren, die sadistischen Kapos und die fanatischen Gefolgsmänner. Es geht genauso um den kleinen Angestellten, der eifrig auf eine Position hinarbeitet, in der er vom Getretenwerden zum Treten wechselt. Es geht genauso um den Geschäftsführer, der sich geschickt Bedingungen schafft, in denen niemand mitbekommt, wie in die eigene Tasche gewirtschaftet wird und Menschen Unrecht zugefügt wird. Es geht genauso um die kleine Bürohilfe, die das alles mitansieht und trotz des Wissens über die Unrechtmäßigkeit in dumpfer Gewohnheit treu ihre Pflicht erfüllt. Es geht genauso um den Kaufmann, der in soziale Arbeitsfelder eindringt und in Menschen nichts anderes sieht als eine Einkommensquelle.

Die beiden Protagonisten dieser absurden Situation – Henny von Schirach, die unbeirrt ihrem Führer die Treue hält, obwohl sie das Unrecht und Leid erkennt, das er anderen zufügt. Eine unbedarfte Frau, die selbst nach ihrer Verbannung noch um Verständnis für einen Massenmörder wirbt. Und auf der anderen Seite ein kleiner Gefreiter, der sich zum unangefochtenen Alphatier einer Nation hochgearbeitet hat, aber den dennoch eine einzige Kritik so aus dem Konzept bringt, dass er wie ein schmollendes Kind wegläuft. Ein Lehrstück über das, was den autoritären Charakter im Wesentlichen ausmacht – das Stehenbleiben auf einer kindlichen Entwicklungsstufe, in der ein Kind mit allen Mitteln und um jeden Preis trotzig seinen Willen durchsetzen will.




Ich finde, Ihr letzter Satz bringt es auf den Punkt - insofern ist doch Hitlers Reaktion alles andere als absurd. Er war doch eben nicht der gelassene Überzeugungstäter, "der sich der Rechtmäßigkeit seines Antisemitismus so ungemein sicher ist", sondern ein psychisch kaputter Krimineller. Ich bin auch sicher, dass er sich der Bösartigkeit seines Tuns bewusst war. Die Akt, wie er Politik machte, war ja gerade nicht geschäftsmäßig kalt und skrupellos (so würde ich eher einen Putin einschätzen), sondern geprägt von einem panischem Aktionismus, der den hastigen Überraschungsangriff (sei es die Ermordung eines Gegners oder Weggefährten, sei es der Überfall auf ein Land) immer der überlegten Verfolgung eines langfristigen Ziels vorzog.
Auch mit Ihrer Übertragung auf kleinere Beispiele im Alltag haben Sie Recht: In der Regel sind die Täter keine Monster, sondern labile Neurotiker - man kann, soll und muss sie stoppen.

Ich frage mich bei Menschen mit krankhaft autoritärem Charakter immer wieder, worauf sich deren Überzeugung der Rechtmäßigkeit ihrer Dominanz über andere eigentlich begründet. Wenn es wirklich eine profunde Überzeugung wäre, dann würde Kritik nicht so eine heftige Reaktion auslösen. Insofern trifft Ihre Einschätzung zu, dass Hitler eben doch nicht felsenfest von seinem Antisemitismus überzeugt gewesen sein kann und er infolgedessen die Boshaftigkeit seines Tuns auch nicht gänzlich vor sich verleugnen konnte. Es stimmt zwar, dass Hitler ein psychisch kaputter Krimineller war, aber das Paradoxe an ihm war, dass sein Selbstbild dem eines Heilsbringers entsprach. Und darin unterscheidet sich ein psychopathischer Krimineller von einem nicht psychopathischen Kriminellen, denn der macht sich nicht vor, der Welt durch seine Taten Gutes zu tun.

Als ich von der Begebenheit las, die sich zwischen Henny Schirach und Hitler ereignete, war ich zum einen überrascht, dass es tatsächlich einmal zu so etwas wie einem direkt vorgebrachten Vorwurf der Unmenschlichkeit gekommen war (so naiv und unbedarft auch der Hintergrund war), zum anderen erinnerte mich dies unweigerlich auch an ein eigenes Erlebnis bei dem es ebenfalls dazu kam, dass jemand nur aufgrund einer Kritikäußerung empört den Raum verließ,wobei ich mit meiner Kritik bei weitem nicht allein stand. Aber es war anscheinend das erste Mal, dass der Betreffende sich direkt mit Kritik auseinandersetzen musste.

Ob es nun um das große Weltgeschehen oder den ganz banalen Alltag geht – die Mechanismen, die dem autoritären Charakter zugrunde liegen, sind immer die gleichen: jede Kritik, sei sie noch so klein, bedeutet eine existentielle Bedrohung des Allmachtstrebens, denn sie bringt das Selbstbild des sich zum Führen Berufenen ins wanken. Autoritäre Persönlichkeiten trotzen konsequent jeder Selbsterkenntnis – das macht diesen Typus so unangenehm für alle, die mit ihm zu tun haben.