Die eigene Begrenztheit anerkennen - Abschied von Idealen
In dem Buch „Sammle Deine Kraft“ von Henri J. M. Nouwen geht es um das Recollectio-Haus, in dem Menschen, die durch ihre Arbeit im sozialen Bereich irgendwann einmal an den Punkt gekommen sind, an dem die Kraft zum Weitermachen fehlt, lernen möchten, mit ihren Kräften anders umzugehen. Man sollte sich nicht daran stören, dass es sich dabei um eine konfessionelle Einrichtung handelt, denn es geht bei weitem nicht um ein religiöses Thema, sondern um ein Thema, das alle Menschen betrifft, die Gefahr laufen, soviel zu investieren, dass irgendwann gar nichts mehr geht.

In den im Recollectio-Haus angeboten Kursen wird die Möglichkeit angeboten, zu erlernen, wie man sich der Arbeit im sozialen Bereich widmen kann, ohne dabei selbst auszubrennen. Mir ist aus dem Buch der Satz im Gedächtnis hängengeblieben: „Die eigene Begrenztheit anerkennen“. Was ist mit diesem Satz gemeint und an wen richtet er sich? Es geht bei der Anerkennung der eigenen Begrenztheit darum, zu akzeptieren, dass von den vielen Dingen, die man gern ändern möchte, nur ein sehr winziger Teil wirklich geändert werden kann. Wer mit offenen Augen durch das Leben geht, sieht sehr viel Leid und sehr viel Dinge, die dringend einer Änderung bedürfen. Dies ist natürlich nicht nur auf diejenigen begrenzt, die im sozialen Bereich arbeiten, sondern betrifft auch all jene, die unabhängig von ihrer Berufswahl Interesse für das zeigen, was sich im sozialen Leben ereignet. Im sozialen Bereich ist dies jedoch noch komprimierter. Man sieht Familien, in denen Kinder völlig vernachlässigt werden, man sieht Altenheime, in denen alte Menschen vor sich hinvegetieren, man sieht Armut, die eine wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nahezu unmöglich macht und man sieht Menschen, die so sehr am Leben leidern, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihr Leben wegzuschmeißen.

Man sieht allerdings außerdem auch durchaus Möglichkeiten, die die Chance auf zumindest kleine Veränderungen bieten könnten. Und dies macht es vielleicht gerade so schwer, denn man lernt irgendwann, dass diese Möglichkeiten mehr oder weniger ungenutzt bleiben, weil es an Menschen fehlt, die sich dafür einsetzen. Dies alles kann irgendwann dazu führen, zu resignieren und die alltäglichen Belastungen nicht mehr zu bewältigen und daran zu zerbrechen.

„Die eigene Begrenztheit anerkennen“ heißt zu akzeptieren, dass die eigenen Kräfte nicht ausreichen, um jedem die Bitte um Hilfe erfüllen zu können. Man muss lernen, Menschen auch abzuweisen ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Und man muss mit dem Begriff Mitleid anders umgehen. Dieser Begriff wird ist ja schon seit längerem umgedeutet in ein Gefühl, welches mit Geringschätzigkeit dem anderen gegenüber verbunden ist. Dies halte ich für eine komplette Fehlinterpretation. Aber Mit-Leid ist dennoch ein zweischneidiges Schwert, denn es hilft niemandem, wenn statt einer Person letztendlich zwei leiden. Ich halte Mitleid für eine sehr wichtige menschliche Eigenschaft. Aber man muss sich davor hüten, dieses Gefühl mit sich herumzutragen. Mitleid muss auf einen Impuls zum Handeln begrenzt bleiben, wenn es nicht selbstzerstörerisch wirken soll.

Ich habe das besagte Buch zu diesem Thema schon vor längerem gelesen. Jetzt kommt es mir wieder in den Sinn, weil ich von einem sehr unerfreulichen familiären Konflikt erfahren habe, der eigentlich nur deswegen so eskalieren konnte, weil dies von professioneller Seite auch unterstützt wurde. Ich würde gern in irgendeiner Form einen Ratschlag geben, aber leider weiß ich in der Angelegenheit auch nicht weiter und dies muss ich eben auch voll und ganz akzeptieren. Was es so schwer macht, ist die Tatsache, dass es sich nicht um etwas Unvermeidbares handelt, sondern um eine Situation, die durchaus hätte vermieden werden können, wenn nur Interesse daran bestanden hätte. Und dies muss ebenso akzeptiert werden wie auch die eigene Begrenztheit – auch die Fähigkeit zu einem mitmenschlichen Umgang ist bei vielen begrenzt.

Es ist schwer, sich von Idealen zu verabschieden. Das gilt für die auf die eigene Person bezogenen Ideale genauso wie für die Ideale, die die Möglichkeiten von Veränderungen betreffen.

Das Ideal des Möglichen zu ersetzen durch die Realität der Begrenztheit – darum geht es wohl. Einfach ist es nicht.




Ich bin da irgendwie sehr zwiegespalten. Die eigene Begrenztheit anzuerkennen ist wichtig, schon allein deshalb, weil niemand etwas davon hat, wenn - wie Du richtig schreibst - zwei Menschen leiden anstatt einem.

Ich halte es schon für sehr wichtig, ein Gefühl für andere zu bewahren und das eigene Mitgefühl, das man hat, nicht zu bekämpfen oder zu unterdrücken oder gar, was noch schlimmer wäre, total abzustumpfen. Die Gleichgültigkeit gegenüber anderen und mangelnde Anteilnahme sind es, die meines Erachtens nach erheblich zum Leid der Menschen beitragen. Dabei ist nicht immer nur die rein sachliche Hilfe oder der fundierte Rat wichtig, es kann auch bereits tröstend und lindernd für andere sein, wenn man Mitgefühl und Respekt ausdrückt. Dann geht es darum, dass der andere spüren kann, er ist nicht allein. So etwas vermittelt Kraft.

Andererseits halte ich es aber auch für ganz wichtig, dass man seine eigene Motivation hinterfragt, wenn man merkt, dass man am eigenen Unvermögen, allen zu helfen, krankt. Aktiv zu werden, das Leben anderer zum vermeintlich Positiven zu beeinflussen, wertvollen Rat geben zu können - all diese Dinge können meiner Meinung nach auch vorrangig dazu dienen, sich selbst zu stabilisieren und wertvoll und anerkannt zu fühlen, anstatt dass man wirklich den Fokus auf das Leben und Fühlen des anderen richtet. Ich will damit jetzt keine Unterstellungen machen, denn ich glaube, in vielen Fällen ist das Mitleid und das Leiden daran, nicht helfen zu können, echt und authentisch.

Aber es gibt eben auch diese Menschen, die es für die eigene seelische Integrität lebensnotwendig brauchen, helfen zu können, hilfreich zu sein, nützlich zu sein. In dem Moment wird Helfen zum Selbstzweck, und selbst, wenn es in der Praxis bisweilen keinen merklichen Unterschied macht, weil das Ergebnis so oder so "gut" ist, besteht eben doch die Gefahr, dass das Helfen an sich in den Vordergrund gerät und nicht mehr der Mensch, dem geholfen werden soll. Da wird dann auch mal ganz schnell am Bedarf vorbeigeholfen, oder gut gemeint, was, wie man ja weiß, längst nicht immer gut getan ist.

Die eigene Motivation zu hinterfragen mag sicherlich hilfreich sein. In meinem Fall glaube ich jedoch nicht, dass mir das Helfen vorrangig dazu dient, mich selbst zu stabilisieren und mich wertvoll und anerkannt zu fühlen. Ich fühle mich weder weniger wert, wenn ich nicht helfe noch stabilisiert es mich wirklich, wenn ich helfe. In Supervisions/Beratungsgesprächen haben wir das Thema Begrenztheit schon mal angesprochen. Ich will mich ein wenig vorsichtig ausdrücken, denn obwohl ich einerseits immer denke, dass in diesem Blog nicht viel gelesen wird, wird dann doch irgendwo etwas zitiert (meist völlig aus dem Zusammenhang gerissen oder absurd fehlinterpretiert) und dies ist ein sehr persönliches Thema. Nur so viel – ich habe als Kind und Jugendliche sehr viel Ungerechtigkeit und noch viel mehr Wegsehen erlebt und vielleicht identifiziere ich mich daher mit Menschen, die in irgendeiner Form hilfebedürftig sind. Und möchte gleichzeitig auf jeden Fall vermeiden, auch ein Weggucker zu sein. Aber dies stößt natürlich an Grenzen, denn wie bereits erwähnt, kann man nicht jede Bitte nach Hilfe erfüllen.

Ich habe ja nun mal einen Beruf, der zum Ziel hat, Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in vollem Maße am Leben in der Gemeinschaft teilnehmen können, dabei zu helfen, diesen Zustand zu ändern. Zwangsläufig habe ich also auch mit Biographien zu tun, die oftmals mit sehr viel Leiden verbunden sind.

Ich habe mal ein halbes Jahr gekellnert und mir ging es dabei sehr gut. Ich hatte tolle Kollegen, die sich weitaus mehr für politische oder kulturelle Dinge interessierten, als dies bei Betreuern der Fall ist – mit anderen Worten: es war möglich, sich geistig auszutauschen. Wenn Du mich jetzt fragst, warum ich dies denn nicht weitergemacht habe, so muss ich ganz ehrlich antworten, dass dies zum einen ganz klar finanzielle Gründe hatte, denn obwohl Betreuer, bzw. Menschen, die im Büro arbeiten, ständig über ihre Unterbezahlung jammern, verdienen sie jedoch ein Vielfaches dessen, was eine Kellnerin verdient. Zum anderen wollte ich auch meine immerhin 4 ½ jährige Ausbildung nicht völlig umsonst gemacht haben und hatte das Gefühl, dass ich zugreifen muss, als mir eine Stelle angeboten wurde, denn die ist mir tatsächlich in den Schoß gefallen und ich wurde regelrecht angeworben. Und so gern ich die Arbeitsatmosphäre beim Kellnern auch mochte, manchmal war es schon ein wenig eintönig, immer nur Bier zu zapfen und Salate zu servieren.

Eine Supervisiorin hat mir mal gesagt, dass die in meiner Biographie begründeten Erlebnisse nicht übertragen werden sollten. Als Kind und Jugendliche ist man weitgehend schutzlos ausgeliefert, aber als Erwachsener nicht. Und in sofern muss das Leiden, das ich zwangsläufig durch meine berufliche Tätigkeit mitbekomme, nicht mit der gleichen Ohnmacht verbunden sein, wie das eines Kindes oder eines Jugendlichen. Ich glaube, dies ist der rote Faden, an dem ich anknüpfen muss.

Ich könnte jetzt schon wieder ein ABER anfügen, denn in der Sozialarbeit hat man eben oftmals auch mit Kindern zu tun. Und da fehlt mir tatsächlich die Fähigkeit des Ertragens, wenn ich sehe, unter welchen erbärmlichen Umständen manche Kinder aufwachsen müssen. Es löst ein Gefühl der Ohnmacht aus, dies mitansehen zu müssen. Allerdings habe ich früher vor meiner Betreuungsarbeit auch schon die positive Erfahrung der Unterstützung eines guten Teams gemacht. Es hilft manchmal schon, sich austauschen und zu wissen, dass die Kollegen das Gleiche fühlen. Keine sarkastischen oder plumpen Sprüche anhören zu müssen, sondern sich wirklich austauschen zu können lässt dann tatsächlich die eigene Begrenztheit besser ertragen. Und dabei nicht nur das Augenmerk darauf zu richten, was man nicht ändern kann, sondern auch darauf, was an kleinen Schritten möglich ist. Auch das ist etwas, an das ich anknöpfen möchte.

Liebe Gitta, das war jetzt keinesfalls auf Dich bezogen, was ich da schrieb. Ich kenne nur Menschen, die aus eigensüchtigeren Motiven helfen, als es zunächst den Anschein hat und auch, als sie vielleicht selbst ahnen. Ich wollte nun nicht, dass Du Dich davon angesprochen fühlst. Das war eher eine Äußerung von allgemeiner Natur.

Und natürlich kann ich es gut verstehen, dass man insbesondere dann, wenn man am eigenen Leib erfahren hat, was Ungerechtigekeit und Ausgeliefertsein bedeutet, einen großen Wunsch hat, zu helfen. Der hat dann auch rein gar nichts mit Egoismus zu tun. Du hattest ja hier und da einmal angedeutet, wie es Dir damit selbst ergangen ist.

Gerade, was Kinder betrifft, sind solche Ungerechtigkeiten und auch schwierige soziale Situationen schwer erträglich, und da bin ich voll und ganz bei Dir. Die Kleinen können sich nicht wehren, sie brauchen Menschen, die Lobby für sie machen, ganz klar. Wenn man dann gegen Mauern stößt, seien sie jetzt gesetzlich oder in der Ignoranz der Mitmenschen begründet, dann fühlt man sich besonders hilflos und dann ist es auch schwer, das alles abzuhaken mit der Begründung, man selbst sei eben begrenzt.

Ich verstehe auch, dass Du keine Kellnerin bleiben wolltest. Die Einblicke, die ich vom Beruf des Betreuers bekommen habe, stammen großenteils von Dir, und ich kann mir denken, dass das ein zweischneidiges Schwert ist. Denn natürlich ist das ein Beruf, zu dem einen ursprünglich sicher mal so etwas wie die eigene soziale Ader getrieben hat, aber nicht bei jedem (oder vielleicht auch nur bei den wenigsten) bleibt die dann auch dauerhaft bestehen.

Ich sehe ähnliches an meiner Schwester und meinem Schwager. Ich weiß nicht, was die beiden ursprünglich einmal dazu trieb, Medizin zu studieren, aber es wird wohl nicht allein die technische Neugier über die Funktionen des menschlichen Körpers gewesen sein. Auch Mediziner zu sein bedeutet ja, dass man mit Menschen arbeitet und vermutlich aus der Ursprungsmotivation heraus, Menschen zu helfen. Das hat sich nun im Laufe der Zeit bei beiden sehr gewandelt, ich spüre in ihren Berichten über ihre Arbeit nicht sehr viel Liebe zu den Menschen. Im Gegenteil, da wird teilweise schon sehr, sehr herablassend berichtet über die "Dummheit dieser Leute" - gemeint sind Patienten, die sich irrational verhalten, die scheinbar selbst verursachte Probleme wie beispielsweise Drogensucht haben, die Krankheiten verschleppen, weil sie sich vor dem Arzt fürchten und vieles mehr. Man kann darüber in der Sache denken, was man mag, aber mir fehlt bei beiden definitiv der Bezug zu den Menschen hinter der Krankheit. Ob das ein Mechanismus ist, sich zu schützen, das weiß ich nicht. Aber ein bisschen Selbstreflektion sollte schon auch drin sein in dem Beruf, und der geht beiden total ab. Das ist traurig.

Das jetzt nur so am Rande als kleiner Exkurs.

Ich kann gut verstehen, dass man an der eigenen Begrenztheit auch verzweifeln kann. Die Menschen haben ein unterschiedlich ausgeprägtes Mitgefühl, und während viele in der Lage sind, das Leid anderer einfach auszublenden, gelingt mir das auch nicht wirklich. Das war vor Jahren noch anders, denn ich habe erst lernen müssen, Sensibilität wieder zuzulassen. Das Leiden anderer erinnert einen ja auch immer irgendwie an das eigene bereits erlittene Leiden oder daran, dass einem das auch selbst irgendwann einmal geschehen könnte oder gar wird. Ohne Mitgefühl gibt es keine Bestrebungen, wie man das Leben insgesamt besser machen kann, und deswegen bin ich der Auffassung, dass man sich selbiges tunlichst nicht abgewöhnen sollte. Das bedeutet dann aber auch, dass man in der Lage sein muss, sich mit dem eigenen Leiden offen auseinander zu setzen, und das gelingt nicht jedem gleich gut.

Dann würze man das alles noch mit sich weiter verschärfenden Konkurrenzsituationen im Alltag, im Arbeitsleben (und seien sie auch "nur" gefühlt), und schon geschieht das, was Du ja auch bereits häufig beklagt hast: Jeder ist sich selbst der Nächste, man hilft einander nicht mehr, sondern schwärzt sich bei Vorgesetzten an, man vertraut einander nicht mehr, und was in Nachbarwohnungen geschieht, lässt einen weitestgehend kalt.

Die eigene Begrenztheit anzuerkennen ist also eine Sache, aber das Mitgefühl dabei zu verlieren bedeutete, sich selbst zu begrenzen.

Es ist ja schon auch etwas dran an dem, was Du geschrieben hast und man sollte grundsätzlich nach Ursachen für bestimmte Dinge fragen. Es gibt ja auch noch viele andere Menschen, die mit den existierenden Missständen hadern (Du selbst gehörst ja auch dazu) und trotzdem nimmt dies nicht soviel Platz ein, wie es leider oftmals bei mir der Fall ist. Auch wenn ich das Helfen nicht als Selbstaufwertung benutze, so habe ich doch manchmal das Gefühl, dass es vielleicht Dinge gibt, die es mir schwer machen, es gelassener anzugehen. Und die Frage der Supervisoren nach Bezügen zur Kindheit ist letztendlich auch nicht unberechtigt. Mein Vater war jemand, der andere Menschen hemmungslos ausnutzte und dem es völlig fremd war, auch nur die geringste Anerkennung für die ihm erbrachte Leistung zu zeigen oder im Gegenzug auch mal etwas für die anderen zu tun. Von der Mutter von Grund auf verwöhnt war es ihm völlig gleichgültig, ob andere durch seine Ansprüche an die Grenzen ihrer Kraft kamen. Ich habe lange niemanden getroffen, der so extrem egoistisch ist – bis ich in dem besagten Betreuungsverein angestellt wurde.

Für mich war es immer die schlimmste Schreckensvorstellung, so wie mein Vater zu werden und für mich darf Verhalten noch nicht einmal in die Nähe des Verhaltens meines Vaters kommen. Das stellt natürlich in gewisser Weise auch Druck dar. Es ist nicht möglich, nie an sich zu denken und es gibt auch einen gesunden Egoismus, der noch nichts damit zu tun hat, dass man generell auf dem Ego-Trip ist. Und handeln aus einer Antihaltung heraus ist nicht immer ein guter Ratgeber. Aber Du weißt ja selbst, wie schwer es ist, sich von dem Einfluss der Eltern zu lösen und ich habe noch niemanden kennengelernt, der dies völlig geschafft hat. Unsere wunden Punkte (allerdings auch unsere Stärken) sind eng verknüpft damit, wie wir in unserer Kindheit Beziehungen erlebt haben.

Das, was Du über Deine Schwester und Deinen Schwager schreibst, erinnert mich an meine Gefühle während meiner Arbeit im niedrigschwelligen Drogenbereich. Es war mir einfach nicht möglich, immer genug Verständnis und Empathie aufzubringen. Auch wenn ich mir immer wieder gesagt habe, dass es Gründe für das Verhalten gibt, konnte ich mit dem oftmals extrem miesen Verhalten uns Mitarbeiterinnen gegenüber nicht umgehen. Und da hat sich dann doch mal ein gesunder Egoismus bei mir gezeigt und ich habe die Arbeit nach relativ kurzer Zeit an den Nagel gehängt. Hätte ich es nicht getan, dann hätte ich vielleicht eine ähnlich ambivalente Einstellung entwickelt wie Deine Schwester und Dein Schwager, die sich dann leider oftmals auch in Abfälligkeit ausdrückt. So war es ehrlicher und meine damaligen (sehr netten) Kolleginnen hatten meinen Entscheidung auch völlig akzeptiert. Mir fällt übrigens beim Schreiben dieser Zeilen ein, dass mein Vater, wenn er noch gelebt hätte, ein ziemliches Donnerwetter losgelassen hätte, denn oberste Devise war „durchhalten“.

Du greifst da etwas sehr wichtiges auf, das man meiner Meinung nach nicht außer Acht lassen darf: Aus Empfindlichkeiten, eigener Vergangenheit und wunden Punkten kann auch Stärke erwachsen. Natürlich sind die Umstände, die uns prägen, nicht immer gut und man hätte in der Rückschau lieber auf die schlimmen Momente im eigenen Leben verzichtet. Aber andererseits schärfen ja gerade die eigenen Erlebnisse den Blick für andere - so man denn in der Lage ist, hinzusehen.

Dein Vater hat sehr lange Finger, die bis heute in Dein Leben reichen, und mit meinem geht es mir ganz ähnlich. Erst neulich habe ich einen alten (und wie alle anderen auch niemals abgeschickten) Brief an ihn entdeckt, in dem ich mich bitter darüber beklagte, wie unglaublich unfair ich es finde, wie er mit meiner Mutter umgeht. Erst jetzt, beim neuerlichen Lesen, wurde mir klar, dass ich da nur einen Stellvertreterkrieg geführt habe, und dass ich im Grunde seine wahnsinnige Ungerechtigkeit, seine mangelnde Empathie und Skrupellosigkeit mir gegenüber zur Sprache gebracht hatte. Es ist bezeichnend, dass ich den Brief nie abgeschickt habe, denn ich habe in meinem Leben lange nichts mehr gefürchtet als seinen Zorn. Das bedeutet aber nicht, dass sich all die Wut und der Schmerz nicht doch Bahn gebrochen hätten in Form dieser Klage. Manchmal ist man noch nicht so weit, die Konfrontation zu suchen, und dann sucht man sich andere Ventile oder tritt stellvertretend für andere Menschen ein anstatt für sich selbst. Ich glaube, es ist einfach wichtig zu sehen, wessen Spiel man da eigentlich spielt. Und andererseits ist es auch so, dass all unser Fühlen und Handeln immer subjektiv ist, aber daher auch irgendwie universell. Das Unrecht im eigenen Leben (an-)zuerkennen ist meines Erachtens die Voraussetzung, um es generell zu bekämpfen.

Ich verstehe das Handeln von Schwester und Schwager schon durchaus als Schutzmechanismus. Man kann einen solchen Beruf glaube ich nicht ausüben ohne ein bisschen Hornhaut auf der Seele. Es gab einmal eine Begebenheit, in der ein Drogensüchtiger meine Schwester leicht verletzt hatte und sie wochenlang darum bangen musste, nicht mit HIV oder Hepatitis infiziert worden zu sein. Dass einem da der Kamm schwillt, ist nachvollziehbar. Aber die Haltung von Schwester und Schwager geht schon darüber hinaus, beide sehen sich selbst gern als die Wissenden, die Patientenschaft gern mal als die Dummen - eine Haltung, die ich an Ärzten öfters beobachte. Dabei ist meine Schwester, gelinde gesagt, eine lausige Diagnostikerin.

Dass Du es aufgegeben hast, ist in meinen Augen kein Zeichen von Schwäche, auch wenn Dein und vermutlich auch mein Vater es so sehen würden. Deren Maßstäbe sagen nichts darüber aus, welches Handeln wir für uns und andere als stark, mutig und integer erachten. Blöd, dass man die Maßstäbe so geschluckt hat, aber heute sind wir ja diejenigen, die es in der Hand haben, zu beurteilen. Auch, wenn es manches Mal schwer fällt und wohl ein lebenslanger Prozess ist.

In diesem Sinne ist es sicher auch, wenn man letztlich für sich selbst weiß, welche Dinge man hinnehmen kann und welche nicht. Ich empfinde es als enorm wichtig, dass man selbst trotz Begrenztheit und Ohnmacht das Mitfühlen nicht verlernt und nicht stumpf und gleichgültig wird. Sagen zu müssen "Da kann ich nichts tun!" ist nicht dasselbe wie "Mir doch egal!"

Der Begriff „Stellvertreterkrieg“ bringt es auf den Punkt, dass man oftmals nicht nur gegen das aktuelle Gegenüber kämpft, sondern gleichzeitig auch gegen ein altes Gegenüber. Wobei das Wort „auch“ wichtig ist, denn die Auseinandersetzungen, die man als Erwachsener führt, reduzieren sich niemals nur auf die früheren Konflikte, sondern haben durchaus auch Anteile des erwachsenen Ichs. Wenn man es schafft, die alten Beziehungsmuster zu erkennen und abzulegen, werden die Auseinandersetzungen gelassener und konstruktiver. Das ist es ja, worauf es ankommt – Auseinandersetzungen ohne Destruktivität zu führen.

Dem besagten Mechanismus unterliegen alle Menschen, die Aufarbeitung kann allerdings grundverschieden ausfallen. Bei einigen kommt es irgendwann zur vollständigen Identifikation und diejenigen werden eines Tages zu schauerlichen Abbildern der eigenen Eltern. Bei anderen wiederum hält der Kampf lebenslang an und kann schnell selbstzerstörerisch werden, weil Kämpfen sehr viel mehr Energie fordert als sich auseinanderzusetzen. Wenn man dies etwas polarisierend ausdrückt, so bleiben die einen in der Identifikation gefangen, während die anderen in der Antihaltung gefangen bleiben. Der einzige Weg, weder in die eine noch in die andere Falle zu geraten, ist der der Aufarbeitung.

Ich empfinde es manchmal als regelrecht erschreckend, wie einige Menschen zu Kopien ihrer Eltern werden. Viele haben in ihrer Kindheit sehr unter dem Verhalten ihrer Eltern gelitten und werden trotzdem irgendwann zu Abbildern. Besonders tragisch ist dies dann, wenn diejenigen selbst Kinder haben und sich die alten Muster dann wiederholen. Die gesellschaftliche Entwicklung kann in einigen Bereichen entgegenwirken, denn mittlerweile gibt es beispielsweise nur noch wenige Eltern, die Schlagen als legitimes Mittel der Erziehung empfinden. Allerdings gibt subtilere Verhaltensweise, die weniger klar erkennbar sind und daher auch eher die Gefahr mit sich bringen, wiederholt zu werden.

Was bei der ganzen Problematik hilfreich ist, ist ein Umfeld, in dem es Menschen gibt, die den beschriebenen Mechanismus erkannt haben und die auch versuchen, das eigene Verhalten kritisch zu hinterfragen. Erst dadurch besteht die Chance auf Bewegung und Entwicklung. Vielleicht bin ich deswegen auch so allergisch gegen Kritikverbote – diese sind nichts anderes als ein Einbetonieren von fragwürdigen Verhaltensmustern und stellen eine rigorose Absage an jede Form der Weiterentwicklung und des Nachdenkens dar.