Damals nach der DDR – Verlust einer Utopie
Ich habe noch nicht alle sechs Folgen der Dokumentation „Damals nach der DDR“ gesehen, sondern nur die ersten vier. Während die meisten großen geschichtlichen Ereignisse sich vor meiner Zeit abgespielt haben, habe ich den Mauerfall und den Zusammenbruch der DDR ganz bewusst erlebt. Am 9. November arbeitete ich als Kellnerin in einer Freizeitsauna. Kurz nach dem Mauerfall kamen dann auch schon die ersten DDR-Bürger, die von ihren Westverwandten eingeladen worden waren. Es waren Begegnungen, die von einer merkwürdigen Mischung aus Neugier und Scheu geprägt waren.

Ich empfand es spannend und bewegend, was sich in dieser Zeit tat. Als jemand, der für sein Leben gern reist, war es für mich immer ein Albtraum, hinter einer Mauer eingesperrt zu sein. Und genauso wichtig wie das Reisen ist für mich seit ich denken kann, das Recht auf freie Meinungsäußerung. Und so gab kein Land unter den vielen Ländern, die ich schon bereist habe, in dem ich mich so fremd wie in der DDR gefühlt habe. Als dann am 9. November im Fernsehen nonstop die Menschenmassen gezeigt wurden, die zum ersten Mal den Grenzübergang passierten, war dies etwas, was auch für mich etwas unbeschreiblich Befreiendes verkörperte.

Wenn man die mittlerweile dreiundzwanzig Jahre komprimiert in ein paar Stunden aus der Retrospektive ansieht, wirkt es sehr bedrückend, wie schnell sich die große Begeisterung in Ernüchterung gewandelt hat. Während Kohl kurz nach dem Mauerfall frenetisch bejubelt wurde, flogen kaum vier Jahre später Eier.

Was ich jetzt das erste Mal gesehen habe, waren die vielen Arbeitsorte, die kurze Zeit nach dem Mauerfall völlig verwaisten und schon bald verfielen. Ein Land, in dem jeder ein Recht auf Arbeit hat, ist binnen kürzester Zeit mit Massenarbeitslosigkeit konfrontiert. Noch heute habe einige Tränen in den Augen, wenn sie von dem plötzlichen Verlust ihres Arbeitsplatzes sprechen.

Ich hatte damals in einer grenzenlosen Naivität daran geglaubt, dass zwar die Mauer für immer und ewig abgerissen wird, aber die DDR trotzdem ein eigener Staat bleibt. Den Sozialismus mit der Freiheit verbinden, so hatte ich mir dies ganz arglos vorgestellt. Und manchmal frage ich mich, ob das wirklich nur naiv und blauäugig ist, oder ob es vielleicht doch eine Möglichkeit gewesen wäre.

Es hätte mit ziemlicher Sicherheit nicht geklappt. Der allseits präsenten Konsumwelt des Westens hätte die DDR nicht standgehalten. Andererseits liebten viele ihr Land und es wären nach dem Mauerfall vielleicht endlich einmal die wirklichen Sozialisten ans Ruder gekommen.

Manchmal frage ich mich immer noch, ob der Sozialismus eine Chance hätte, wenn man ihn nicht mit einer Diktatur verknüpft hätte. Wenn jeder frank und frei seine Gedanken hätte äußern dürfen und sich jederzeit an jeden Ort der Welt hätte begeben dürfen. Wenn das unsäglich dumpfe Schmähwort Konterrevolutionär mit einen heftigen Tritt in den marxistisch-leninistischen Hintern beantwortet worden wäre.

Wenn, wenn, wenn…..Nein, alles war wohl so oder so zum Scheitern verurteilt. Ein Traum, der nur so lange schön war, wie er noch geträumt und nicht in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. Jetzt gibt es keine Träume mehr. Man muss sich wohl mit diesem elendigen menschenverheizenden Turbokapitalismus abfinden und das Beste draus machen. Wobei ich nicht weiß, was das Beste sein soll. Wenn mittlerweile selbst der soziale Bereich nicht mehr sozial, sondern gewinnorientiert ist, dann gibt es keine Nischen mehr für diejenigen, denen noch etwas anderes vorstrebt. Vielleicht sollte man Künstler werden? Aber das beruht nicht auf einer Entscheidung, sondern auf einer Berufung und die habe ich leider nicht. Bleibt noch das Reisen, das das kurzzeitige Begeben in Lebensräume ermöglicht, deren Weg in den mit Entfremdung verbundenen Fortschritt noch nicht so weit vorangeschritten ist wie bei uns. Aber das stellt immer nur eine kleine Auszeit dar.

Letztendlich muss man lernen, ohne Utopien zu leben. Schön ist das nicht. Und einfach auch nicht.




Ohne Utopien leben zu wollen, halte ich für falsch.
Natürlich lassen sich Utopien nicht verwirklichen, dafür sind sie auch nicht da. Man braucht sie, damit man eine Richtschnur hat und weiß, wo man hin will. Was für ein Handeln dabei herauskommt, wenn man utopische Überlegungen von vornherein ausblendet, sieht man in der Politik sehr gut an Personen wie Angela Merkel oder Olaf Scholz: zweckrationale Betriebsblindheit, Verzicht auf ethische Überlegungen.

Dass die Existenz der DDR auf utopischen Überlegungen basierte, glaube ich übrigens nicht. Sie war ein Produkt der Teilung Europas durch die Alliierten. Wenn es in der DDR hier und da an der sozialistischen Utopie orientierte Projekte gab, dann trotz und nicht wegen der Staatsform der DDR - weil aus historischen Zufälligkeiten der Situation nach 1945 ab und an wirkliche Sozialisten in wichtige Positionen kamen und es nicht gelang, diese später vollständig zu entfernen oder mundtot zu machen.

Utopie als Vor-schein
Für mich besteht der Sinn einer Utopie (auch) darin, sie in die Realität umzusetzen, ansonsten würde es sich meiner Meinung nach nur um ein schönes Märchen oder einen Mythos handeln. Der entscheidende Punkt dabei ist jedoch, dass eine Utopie immer wieder auf ihre Vereinbarkeit mit der Realität überprüft werden muss. Eine Utopie darf also niemals Dogma werden, denn genau dadurch wird sie weltfremd und somit nicht mehr umsetzbar. Man muss sich bei einer Utopie immer wieder bewusst sein, dass es sich zuerst einmal um reines Wunschdenken handelt und immer wieder den anstrengenden Schritt der Überprüfung ihrer Umsetzbarkeit machen. Damit tue ich persönlich oftmals schwer, wie ich leider zugeben muss. Es ist nicht so einfach, seine Ideale in den Wind zu schießen.

Ernst Bloch hat ja in seinem „Prinzip Hoffnung“ den Begriff des „Vor-Scheins“ geschaffen, mit dem ausgedrückt wird, dass eine Vorstellung von etwas Neuem durch den Ist-Zustand hindurch scheint und uns dadurch der Blick eröffnet wird auf das, was sein könnte. Ich empfinde dies als ein schönes Bild für die Idee einer besseren Welt.