Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mich nicht über das Thema Beschneidung zu äußern. Zum einen ist es fast unmöglich, dieses Thema ohne Polarisierungen zu behandeln, zum anderen ist das Thema untrennbar mit Religion verknüpft und meine Erfahrung mit der Diskussion über Religion/Glauben ist nicht allzu gut. Aber ich versuche es hier trotzdem einmal.
Zuerst einmal stellt für mich die Beschneidung als Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses seit jeher ein Phänomen dar, das mich verwundert. Für Atheisten erübrigt sich wahrscheinlich jede abwägende Diskussion über das Thema, weil jedes auf Religion begründete Handeln als irrational, wenn nicht gar als primitiv eingeschätzt wird. Für Nicht-Atheisten ist es sehr viel komplizierter, da man Glauben als einen wichtigen Bestandteil des menschlichen Seins begreift und somit auch ein Glaubensbekenntnis an sich nicht ablehnt. Allerdings endet damit auch schon die Gemeinsamkeit, denn entweder man hängt einer Religion an, die die Beschneidung bedingungslos für erforderlich hält oder aber man hängt einer Religion an, für die das Thema Beschneidung gar keine Rolle spielt.
Ich bin gläubig, kann also grundsätzlich verstehen, dass jemand das Bekenntnis zu seinem Glauben auch ausdrücken möchte. Allerdings befremdet es mich, dass der Bund mit Gott ausgerechnet durch das Herumschneiden am Geschlechtsteil geschlossen wird. Dies räumt dem Geschlechtsteil eine immense Wichtigkeit ein. Nicht der Geist stellt die Verbindung zu Gott dar und auch nicht das Handeln, sondern das männliche Geschlechtsteil. Es ähnelt einem Opfer: „Sieh her Gott, ich opfere Dir unter Schmerz ein Stück meines Körpers“. Ausgerechnet ein Stück desjenigen Körperteils, das eigentlich Lust – und nicht Schmerz – bereiten soll.
Ich habe für dieses Ritual meine eigene Erklärung, für mich ist es ein Imitieren der Defloration. In fast allen Kulturen dieser Welt wird die Eheschließung als Symbol des Bundes zwischen zwei Menschen angesehen. Für die Frau – sofern sie noch Jungrau ist – ist die Hochzeitsnacht auch mit Schmerz verbunden. Muslimische Frauen formulieren manchmal die Wichtigkeit der Jungfräulichkeit bei der Eheschließung mit den Worten: „Das ist mein Geschenk an meinen Mann, der Beweis meiner Liebe“. Diesen Liebesbeweis tritt der Mann durch die Beschneidung an, allerdings nicht in der Beziehung zur Frau sondern in der Beziehung zu seinem Gott. Auch die Zeremonie als solche ähnelt sehr. Das Beschneidungsfest ist der größte Tag im Leben eines Jungen, der für dieses Ereignis wie ein Prinz ausstaffiert wird. Eine Hochzeit ist der größte Tag im Leben einer jungen Frau, die ebenfalls wie eine Prinzessin ausstaffiert wird. Bei einem traditionellen Beschneidungsfest wird die Vorhaut auf einem silbernen Tablett herumgereicht, bei der Hochzeit ist es nach der Hochzeitsnacht das blutige Laken. Blut scheint bei beiden als Symbol der Hingabe unverzichtbar zu sein, was wiederum die Assoziation eines religiösen Opferritus nicht abwegig erscheinen lässt.
Eine Beschneidung ist ohne Wenn und Aber eine Körperverletzung. Diese wird einem Kind allerdings nicht zugefügt, um ihm weh zu tun, sondern um es in die Gemeinschaft aufzunehmen. Jüdische oder muslimische Eltern lassen ihre Söhne beschneiden, weil sie der festen Überzeugung sind, dass sie damit für ihr Kinde etwas Wichtiges und Gutes tun. Es ist kaum möglich, an dieser Überzeugung zu rütteln. Jüdische Vereinigungen haben beispielsweise das Beschneidungsverbot umgehend mit dem Vorwurf des Verbots der Religionsfreiheit gekontert, ohne dabei argumentativ auf den Tatbestand der Körperverletzung einzugehen.
Das Recht auf freie Ausübung der Religion gehört zu den Grundrechten. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit allerdings auch. Und Kinder stehen dabei unter dem besonderen Schutz des Staates, der sie eben manchmal auch gegen Handlungen der Eltern schützen muss. Kann man unter diesen Umständen überhaupt eine Diskussion über das Thema Beschneidung führen, die den anderen in seiner Position achtet?
Was mir bei der ganzen Diskussion fehlt, sind Aussagen der Betroffenen selbst, also derjenigen Männer, die beschnitten worden sind. Fühlen sich diese Männer tatsächlich in ihren Menschenrechten verletzt? Wie haben sie die Beschneidung empfunden? Nur Schmerz oder auch Stolz? Durfte offen geweint werden oder musst der Schmerz und die Angst verborgen werden? War es ein wichtiger Schritt ins Erwachsenensein? Was empfindet es der kleine Junge, dem die Beschneidung unmittelbar bevorsteht? Wird eventuell im nachherein der Schmerz und die Angst verdrängt? Warum überlässt man die Entscheidung nicht dem Kind und wartet bis zum Erwachsenensein oder der Pubertät?
Wie ich bereits im Blog von Sturmfrau beschrieben habe, hat in meinem Bekanntenkreis ein Muslim darüber berichtet, dass er seine Beschneidung als äußerst schmerzhaft erinnert. Er wollte dies daher seinem Sohn ersparen, was aber von seinen Eltern nur schwer akzeptiert wurde, so dass es schließlich den Kompromiss einer „Mini-Beschneidung“ gab. Mir fällt gerade ein, dass Heinrich Heine, der jüdischer Abstammung war, die Beschneidung als „barbarischen Brauch“ beschrieben hat. Eine Kollegin schilderte mir, wie ihr aus medizinischen Gründen beschnittener kleiner Sohn an großen Schmerzen litt und lange geweint hat. Für sie wäre es daher unvorstellbar, diesen massiven Eingriff ohne wirklich triftigen Grund vornehmen zu lassen.
Wenn jemand felsenfest davon überzeugt ist, dass sein Glaube zu einem glücklichen Leben führt, dann wird er meist versuchen, alles zu tun, um seinem Kind diesen Glauben zu vermitteln. Das betrifft
alle Glaubenssysteme – Hinduismus, Judentum, Buddhismus, Christentum, Islam. In gewisser Weise trifft dies auch für den Atheismus zu, der ja – anders als Agnostizismus oder schlichter Unglaube – genau wie Religionen auch von einem Richtig und Falsch ausgeht. Allerdings kann ein Glaubensbekenntnis, wie etwa das der Taufe oder einer buddhistischen Segnung später einfach ignoriert werden. Man zerreißt seinen Taufpass und lässt das geweihte Wasser wieder einfaches Leitungswasser sein. Eine Beschneidung hingegen kann nicht ignoriert werden, sondern stellt einen nie wieder zu revidierenden Eingriff dar.
Und weil Glaubenssysteme – religiöse genauso wie politische – immer den Andersdenkenden als den Falschgläubigen ansehen, wird man beim Thema Beschneidung keine Lösung finden.
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