Ein wirklich saublödes Sprichwort
Wer vor seinem dreißigsten Lebensjahr niemals Sozialist war, hat kein Herz. Wer nach seinem dreißigsten Lebensjahr noch Sozialist ist, hat keinen Verstand.
Benedetto Croce
(Italienischer Historiker, Philosoph und Politiker 1866 - 1952)

Dies ist einer von den Aussprüchen, bei denen mir die Haare zu Berge stehen. Im Klartext bedeutet diese Aussage, dass derjenige, der seinen Idealen treu geblieben ist, in seiner Entwicklung erheblich zurückgeblieben ist. Gleichzeitig wird Herz – dieses etwas antiquierte Wort kann man mit Anteilnahme gleichsetzen – als etwas angesehen, was dem Verstand entgegensteht. Und im Umkehrschluss bedeutet dies folglich das Gleiche: ein intelligenter Mensch kann keine Anteilnahme haben.

Wie mag wohl zu diesem mehr als dämlichen Ausspruch gekommen sein, der bedauerlicherweise immer gern und oft von denjenigen zitiert wird, die mittlerweile in die Jahre gekommen sind?

Ich glaube, dass man sich zur Beantwortung dieser Frage vor Augen halten muss, dass es zwei völlig unterschiedliche Gründe gibt, aus denen heraus jemand in jungen Jahren Sozialist wird. Bei einem großen Teil ist es nichts anderes als Opposition zu der satten und zufriedenen Welt der Eltern. Wenn Papa nichts anderes als Arbeit und Geldanlage im Kopf hat, dann gibt es eigentlich kaum Näherliegendes, als den in der Pubertät so wichtigen Schritt der Abgrenzung dadurch zu vollziehen, dass man ins feindliche Lager überläuft. Ein Paradebeispiel hierfür wäre der unsägliche Dieter Bohlen, der auch jetzt noch gern zum Besten gibt, dass er als Student auf dem elterlichen Haus eine rote Fahne gehisst hat. Damit konnte er Papa mal so richtig schocken. Natürlich ist Dieter inzwischen längst vernünftig geworden und stellt Papa in Bezug aufs Geldverdienen schon seit langem in den Schatten.

Kommen wir jetzt zu dem anderen Grund, aus dem heraus man Sozialist werden kann. Bei diesem Grund geht es nicht um Opposition, sondern um eigene Betroffenheit. Mir fallen sofort zwei Schulfreunde ein, die beide nach der Schule den ganzen Nachmittag Zeitungen ausgetragen haben. Bei dem einen rutschte die Familie durch die schwere Erkrankung des Vaters in die Sozialhilfe, bei der anderen durch die Scheidung. Es gab auch kein Einzelhaus, auf dem man eine rote Fahne hissen konnte, sondern nur eine enge Sozialwohnung. Während die Kinder aus gutbetuchten Familien sich netten Freizeitvergnügen widmen konnten, mussten die beiden im Alter von vierzehn Jahren Geld verdienen. Auch das eigene Zimmer, das man in der Pubertät auf keinen Fall missen will, ist in dieser Szene nicht für jeden selbstverständlich. Mein Freund hatte beispielsweise keins und schlief in einem Bett, das sich in der Küche neben einem brummenden Kühlschrank befand.

Ich könnte noch unzählige weitere Beispiele aufzählen, die deutlich machen, dass auch ein vierzigjähriger Sozialist durchaus noch bei Verstand sein kann. Aber das ist überhaupt nicht nötig. Das worauf es ankommt, ist die Beschränktheit des zitierten Ausspruchs zu erkennen. Er ist beschränkt auf all jene, deren politische Haltung niemals authentisch war, sondern einzig und allein auf einem pubertierenden Aufbegehren beruhte. All jene, die ihre Einstellung pünktlich mit der Beendigung des Studiums an den Nagel hängten. Um dann genauso zu werden wie der Papa.

Was immer Benedetto Croce sich bei seinem Ausspruch gedacht hat – er hat nur einen bestimmten Typus vor Augen gehabt. Und den anderen hat er bedauerlicherweise anscheinend nie kennengelernt.




Vom RAF-Sympathisant zum Polizeifan und vom Hausbesetzer zum Hausbesitzer
Auch saublöde Sprichwörter enthalten manchmal einen Funken Wahrheit. So dämlich die Aussage vom Sozialismus als Pubertätsflause auch ist, einen Funken Wahrheit enthält sie vielleicht doch. Nicht in Bezug auf die Behauptung, dass dreißigjährige Sozialisten zwangsläufig Dummköpfe sind – das ist und bleibt eine falsche und darüber hinaus dämliche Aussage. Aber die Erkenntnis, dass eine politische Überzeugung sich mit zunehmendem Alter zunehmend ändert, kann man nicht völlig von der Hand weisen. Ich denke da an jemanden aus dem Kollegenkreis, der nach eigener (nicht ohne Stolz vorgebrachter!) Aussage in seinen jüngeren Jahren "kurz davor stand, sich eine Waffe zu nehmen und zur RAF zu gehen". Und wen ruft eben dieser ehemalige RAF-Sympathisant jetzt sofort bei allerkleinsten und wirklich banalen privaten Streitigkeiten? Die Polizei!! Und womit droht eben gerade dieser ehemalige überzeugte Staatsfeind bei Kritik? Mit einer richterlich angeordneten Unterlassungsklage! Und darüber hinaus ist aus dem Sympathisanten der Hausbesetzer schon seit langem ein mehrfacher Hausbesitzer geworden. Vielleicht ist der Unterschied aber gar nicht so groß, einfach nur ein „i“ statt eines „e“.

Fazit: das Sprichwort enthält ein kleines Fünkchen Wahrheit. Aber die Theorie des „Mit-Zwanzig-Herz-Mit-Dreißig-Verstand“ dient nichts anderem als der Idealisierung des Wendehalsphänomens. Denn wenn man ehrlich ist, hat es an beiden konstant gemangelt – sowohl mit zwanzig als auch mit dreißig!