Eine These, die zum Nachdenken anregt
“Überhaupt ist zu beobachten, daß die verführerische westliche Lebensart mit ihrem gepflegten Hedonismus und materialistisch praktizierten Atheismus bei den Kindern muslimischer Einwanderer innerhalb weniger Jahre schafft, was christlichen Missionaren über Jahrzehnte nicht gelungen war: junge Muslime ihrer Religion zu entfremden und ihnen diese als Fortschritthemmnis erscheinen zu lassen."
Murat Wilfried Hofmann aus „Der Islam als Alternative“
Bin gestern beim Stöbern in Wikiquote auf diesen Satz gestoßen, der mich zum Nachdenken angeregt hat. Der Satz ähnelt einem Gedanken, den ich auch schon in Bezug auf Situation der Tibeter hatte. Solange die Chinesen versucht haben, den Tibetern ihre Religion mit Gewalt zu nehmen, hat dies das genaue Gegenteil bewirkt und die Tibeter haben an ihrer Religion noch viel überzeugter festgehalten. Seit einigen Jahren gibt es aber eine andere Strategie, denn es wird einfach ein Stück westliche Welt in Tibet angesiedelt, die wahrscheinlich ihre Wirkung auf die Jugendlichen nicht verfehlt. Westliche Pop- und Rockmusik und Jeans scheinen etwas Magisches an sich zu haben. Etwas, was alles Traditionelle hoffnungslos überflüssig und lächerlich wirken lässt. Wer will schon in der Schaffelljacke herumlaufen, wenn die anderen Jeansjacken von Lee oder Lewis tragen? Wer will schon den monotonen Hirtenliedern lauschen, wenn nebenan Rap oder Hip-Hop gespielt wird?
Gestern und heute wurden die Sendungen „Die wilden Siebziger“ wiederholt, die ich mir natürlich angesehen habe. Daniel Cohn-Bendit kommentierte die Demonstrationen anlässlich des Vietnamkriegs mit der Bemerkung, dass diese eine Wende darstellten im Verhältnis zu Amerika, denn es war das erste Mal, dass die Übermacht und die Überlegenheit Amerikas angezweifelt wurde. Plötzlich wurde der Freund, der den hungernden Nachkriegsdeutschen Carepakete geschickt hatte zum Feind, der sich überall mit einem Herrschaftsanspruch breitmacht.
Diese beiden Positionen geben ein merkwürdiges Kontrastprogramm ab. Auf der einen Seite macht sich die amerikanische Lebensart mit ihren Shoppingcentern, Fernsehserien und ihrer allgegenwärtigen Lust am Oberflächlichen bis in die letzten Winkel der Erde breit. Auf der anderen Seite gab es durchaus auch mal eine Epoche, in der ein heftiger Überdruss gegen den amerikanischen Vormachtsanspruch bestand. Anscheinend ist der aber irgendwie versandet. In den islamischen Ländern ist dieser Überdruss jetzt plötzlich wieder aufgetaucht.
Zurück zu Murat Wilfried Hofmann. Auch wenn man mit seinem Bekenntnis zum Islam nicht übereinstimmt, so kann man dennoch nicht abstreiten, dass seine These zutrifft. Eine Religion mit einer anderen Religion zu bekämpfen – der Ausdruck „bekämpfen“ drückt schon aus, worum es geht – ist in der Tat nur bedingt erfolgreich. Die westliche Lebensart jedoch hat einen ungetrübten Siegeszug angetreten. Ich habe nun schon so einige Länder bereist und es war kein einziges Land dabei, das frei von amerikanischem Einfluss war. Überall MC-Donalds und Coca Cola. Überall Westfernsehen und westliche Kleidung. Manchmal durchaus in friedlichen Nebeneinander mit den jeweils landesüblichen Pendants. Auf Bali beispielsweise tragen die Jugendlichen sowohl Jeans als auch den traditionellen Sarong und gehen sowohl in die Disco als auch in den Tempel. Trinken Coca Cola genauso gern wie Kokosnussmilch. Aber es gibt eben keine Jugendlichen, die gänzlich ohne die Westversion auskommen.
Was ist es nur, dass diese Lebensart so erfolgreich macht?
Ich persönlich glaube nicht, dass die These stimmt. Die westliche Lebensart verdrängt nicht die Religion. Im Gegenteil, ich meine zu beobachten, dass angesichts des kalten Materialismus und der innerlichen Leere, die sie mit sich bringt, viele den Rückschritt in strengere und eifrigere Religion gehen. Auch muslimische Jugendliche sind meiner Auffassung nach nicht zwangsläufig säkular, sondern in vielen Fällen eher traditionell gestimmt, was "Werte" betrifft (und das Buch ist von 1992 - seitdem hat sich viel getan). Sonst wäre es wohl auch kaum möglich, dass sogenannte "Ehrenmorde" gerade von den jüngeren Verwandten der Opfer begangen werden. In der westlichen Welt begeben sich die Menschen vermehrt wieder auf Sinnsuche, und nicht wenige landen schließlich bei der Religion. Dass junge Menschen westlicher Lebensart gleichzeitig auch religiös sein können, zeigte sich ja auch jüngst beim Weltjugendtag der katholischen Kirche.
Natürlich ist die westliche Lebensart verführerisch. Sie ist wie Coca Cola - süß, belebend und äußerst klebrig. Dabei sättigt diese Lebenart aber nicht, die Energie ist schnell verbrannt, der Magen knurrt, und das ganze ist auch noch schlecht für die Gesundheit. Es ist mit dem Kapitalismus ein wenig wie mit einer Sucht, man will immer mehr, wenn man mal genascht hat, und das gerade wegen der Leere, die der Genuß hinterlässt. Problematisch ist, dass dieses System auch bewusstlos macht. Man sitzt kollektiv dem Irrtum auf, Wohlstand und Besitz wirkten als Allheilmittel. Was der Mensch braucht, wird auf das Materielle reduziert. Sogar und gerade im Bezug auf seelische Bedürfnisse gaukelt die Werbewelt uns vor, sie seien mit materiellen Dingen zu stillen. Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe verspricht die Kosmetikindustrie mit allerhand Schönheitsmitteln zu erfüllen, die Angst vor dem Altern soll beschwichtigt werden mit Collagen-Cremes oder dem Skalpell. Ein niedriges Selbstbewusstsein kompensiert man(n) mit schnellen Autos, dem neuesten Smartphone oder Tablet-PC. Zugehörigkeit zu einer Gruppe signalisiert man durch das Tragen bestimmter Kleidung und kompensiert so die Furcht vor dem Getrennt- und Ausgegrenztsein. Der Ghetto-Gangsta träumt von Bling-Bling, fetten Autos und großen Villen - dem materialistischen Gegenbild zur aus täglichen Überlebenssorgen bestehenden Realität. Seelische Bedürfnisse lassen sich aber nicht mit stofflichen Mitteln decken. Der Kapitalismus negiert die Seele und degradiert sie zum würdelosen Motivator für Konsum.
Ich bin der Ansicht, dass die Kritik an Amerika und dem amerikanischen Lebensstil nur aus relativem Wohlstand entstehen konnte. In den Siebzigern sind sich insbesondere die jungen Menschen der Leere bewusst geworden, die diese Art zu leben mit sich bringt. In Deutschland gerieten die Wirtschaftswunder-Profiteure, die sich an neugewonnenem Wohlstand mit Sonntagsbraten und eigenem Häuschen im Grünen erfreuten, in die Kritik ihrer Kinder. Nur, wer diesen Wohlstand gelebt hat, kann ihn auch kritisieren oder gar ablehnen. Ähnlich wie die Menschen aus dem östlichen Teil Deutschlands erst erkennen lernen mussten, dass sie nach der Wende nicht plötzlich im gelobten Land angekommen waren, sondern dass dieser Lebensstil einen hohen Preis fordert, können auch junge Tibeter, die sich dieser verführerisch bequemen Lebensweise gegenüber sehen, nicht abschätzen, was sie wirklich bedeutet. Protest gegen Besitz und Konsum ist ein Luxus, den sich nur die Privilegierten leisten können.
Ich glaube, das Manko der materialistischen Lebensart des Westens besteht darin, dass alle Besitzenden nach außen so glücklich wirken. Im Rahmen dieses Systems aus Erwerbsarbeit und Konsum wird der Begriff des Glücks umdefiniert. Der Kapitalismus ist längst ein Selbstläufer, über den die Kontrolle zu haben wir uns lediglich verzweifelt einbilden. Da ist kein Platz für persönliches Unglück, seelische Qual, Unzufriedenheit und Angst, denn das wäre das Eingeständnis, dass diese Lebensart, zu der wir keine Alternative kennen, gescheitert ist. Scheitern aber wiederum ist unzulässig, denn schließlich sagt uns dieses System auch, dass jeder, der nur will, alles erreichen kann. Nicht umsonst wird Menschen, die nicht mehr klarkommen, nur allzu oft gesagt: "Ich weiß nicht, was Dein Problem ist, Du hast doch alles!" In einer Welt, in der Scheitern nicht erlaubt ist, lächelt man nach außen. Dazu kommt dann noch der Glanz der dicken Autos, Eigenheime, des Schmucks, des guten Geschmacks, und die Illusion von Glück ist perfekt. Wie soll man jemandem, der die Gesamtkomposition niemals geschmeckt hat, klarmachen, dass all das mit Glück wenig zu tun hat? Wir haben uns verrannt, wir können es nicht zugeben und sind zu Richtungsänderungen unfähig. Dieser Lebensstil hindert uns zudem daran, Bewusstsein zu erlangen und herauszufinden, was wir wirklich brauchen, weil das Geldausgeben zur Bedürfnisbefriedigung erheblich einfacher und bequemer ist, als sich immer wieder auf's neue um eine achtsame, an der Lebenswirklichkeit orientierte Geisteshaltung zu bemühen - eine Aufgabe, die kein Ende nimmt.
Religion ist in dieser Welt aus geistigem Fast Food nicht so fehl am Platze, wie sie auf den ersten Blick scheint. Hantiert sie doch häufig mit einer ganzen Reihe starrer Lebensregeln, die in der verunsichernden Welt eines sich immer schneller um sich selbst drehenden Kapitalismus Halt versprechen. Wenn man nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, sich nicht mehr zurechtfindet, sich fremdbestimmt und innerlich leer fühlt, sind moralische Dogmen und die feste Definition von Gut und Böse verführerisch einfache Denkmuster, denen viele Menschen zusprechen. Je wirrer die Welt, desto intensiver. Nicht von ungefähr bringt "God's own country", das Mutterland der totalen Vermarktung, so radikale religiöse Strömungen hervor, die bis in die höchste Politik reichen.
behrens am 31.Aug 11
|
Permalink
Du bringst das Phänomen der Ehrenmorde ein. In der Tat könnte man darauf schließen, dass dies für eine wieder zunehmende Religiosität spricht. Aber da würde so mancher Muslim auf die Barrikaden gehen, denn die Morde werden oftmals nicht von denjenigen Männern verübt, die ihr Leben nach religiösen Richtlinien ausrichten, sondern von sehr westlich lebenden Männern, die Drogen nehmen und von Papas Geld leben. Männer, die sich eine sehr seltsame Mischung aus religiöser Überzeugung kreiert haben, in der westliche Lebensart nur dann rigoros abgelehnt wird, wenn sie von Frauen gelebt wird. Gerade das macht aber den Mechanismus deutlich, wie Wertesysteme oder Leitsysteme entstehen. Nur wenn diese mit irgendwelchen Vorteilen für das Individuum verbunden sind, haben sie eine Aussicht auf Erfolgt.
Eine Rolle spielt dabei die Identifikation. Menschen suchen nach Identität. Und die kann man über einen hohen gesellschaftlichen Status oder aber auch über Religion definieren. Die westliche Lebensart, die Du sehr gut in ihren Mechanismen aus Konsum und Erwerbsarbeit beschreibst, lässt nicht alle teilhaben, weil nun mal nicht jeder Arbeit hat, um sich den gewünschten Konsum zu leisten. Religiös kann man auch sein, wenn man Hartz-IV bezieht und in einer Sozialwohnung wohnt.
Ich glaube, dass Hofmann mit seiner These ein wenig hinter die Fassade gesehen hat. Sein Buch wurde lange vor dem 11. September geschrieben, also vor dem Phänomen des um sich greifenden Islamismus. Aber der Islamismus ist eine Reaktion auf den riesigen Einfluss, den die westliche Lebensart hat. Das was Du als „Rückschritt in strengere und eifrigere Religion gehen“ beschreibst. Aber auch wenn fundamentalistische Strömungen in allen Religionen aufkeimen – Kirchen verbuchen überall Austritte und selbst bei der katholischen Kirche wurden erstmals mehr Austritte als Taufen verbucht und bei den Protestanten werden immer mehr Gemeinden zusammen gelegt, weil die Mitgliedschaften schwinden.
Der Materialismus hat den Menschen nicht das Glück gebracht, das ihnen versprochen wurde. Weder der kommunistische Materialismus, noch der kapitalistische. Die Folge ist aufkeimende Orientierungslosigkeit. Die geht aber nicht so weit, dass die bestehenden Wertesysteme grundlegend in Frage gestellt werden. Nach wie vor gehen wir der Unterhaltungs- und Konsumindustrie auf den Leim. Es scheint – und da bin ich wieder bei Hofmann – irgendetwas zu geben, auf das wir nicht mehr verzichten wollen und das uns in den Bann zieht.
Wenn ich bei mir selber gucke – und das ist ja nie verkehrt – dann erinnere ich mich daran, dass ich schon als Elfjährige alles Glück der Welt darin vermutete, endlich eine Jeans (hieß damals noch Nietenhose) tragen zu können. Und schon als Elfjährige habe ich Rockmusik gehört, obwohl ich natürlich kaum ein Wort verstanden habe, da ich ja erst mit dem Englischunterricht begonnen hatte. Und ich fand es „cool“, so oft wie möglich mit einem Filzschreiber „Love“ und „Piece“ auf irgendwelche Flächen zu schreiben. Ich wäre todunglücklich gewesen, wenn ich typisch deutsche Mädchenkleider hätte tragen müssen und ich hätte nichts schlimmer gefunden, als mir deutsche Volksmusik anzuhören. Mir war damals natürlich überhaupt nicht bewusst, dass der der von mir so verehrte Stil ein amerikanischer war. Alles, was die bisherige traditionelle Welt darstellte, war für mich hoffnungslos veraltet, hausbacken und spießig. Ich wollte teilhaben an der neuen vielversprechenden Lebensart.
Ich stimme weiterhin nicht mit Dir überein, dass die Religiosität abnimmt. Die Kirchen verzeichnen Austritte wie nie zuvor, aber das bedeutet lediglich, dass die Kirchen etwas verkehrt machen bzw. die ihnen eigene Form der religiösen Gemeinschaft nicht mehr dem Empfinden der Menschen angemessen ist. Aus eigener Erfahrung weiß ich von vielen Menschen, dass sie sich selbst durchaus als gläubig bezeichnen, allerdings mit den Konventionen und offiziellen Ansichten "ihrer" Kirchen nicht mehr zurechtkommen, weil diese sich als zu rückschrittlich erweisen. Der Glaube verlagert sich dann ins Private, was allerdings nicht bedeutet, dass er nicht existiert. Meiner Meinung nach ist das übrigens der einzige Ort, wo er hingehört.
Ob jemand die offiziellen Dogmen einer Religionsgemeinschaft auf der Fahne vor sich herträgt oder ob er sein Handeln danach ausrichtet, was er als für sich selbst als die wahre Religion auffasst, macht übrigens im Effekt keinen Unterschied. Jeder kann sich auf Gott berufen, das ist ja gerade das Problem.
...sondern von sehr westlich lebenden Männern, die Drogen nehmen und von Papas Geld leben Ist das so? Das war mir bislang nicht bekannt, zumal ja die sogenannten Ehrenmörder zur Rechtfertigung ihrer Taten häufig anführen, das Opfer habe sich in unangemessener Weise dem westlichen Lebensstil angepasst. Wenn sie nun für sich selbst in Anspruch nehmen, westlich leben zu dürfen, aber das nicht ihren Verwandten (es sind auch junge Männer unter den Opfern!) zugestehen, dann haben sie von der "westlichen Welt" definitiv nur den Teil mitgenommen, der ihnen selbst zusagt, müssen aber zur Aufrechterhaltung ihres Denkgefüges doch wieder auf veraltete, traditionelle Strukturen zurückgreifen, weil alles andere sie verunsichert.
Es sind nicht die Jeans das Problem. Dein Hang zur Nietenhose ist sicher als ein Akt der Auflehnung gegen das Gewesene, die Welt der Eltern zu betrachten. Diese in der Jugend notwendige Abgrenzung gegen Eltern und Erwachsene ist normal, eine Nietenhose macht noch keine Revolution, und ich werte sie auch nicht als fraglose Bejahung alles amerikanischen. Jugendliche wie Erwachsene gehen heute der Annahme auf den Leim, dass der Kapitalismus alternativlos ist und dass Wohlstand die Lösung für alle Probleme birgt. Wenn es die Eltern vorleben, wieso sollten es die Jugendlichen anders machen? Dieses Wertesystem wird gar nicht als Ursache des Übels erfasst. Wie gesagt, man bleibt bewusstlos über die Umstände, in denen man lebt. Fataler Irrglaube ist, dass mit einem Mehr sich alle Sorgen beseitigen lassen.
Religiös kann man auch sein, wenn man Hartz-IV bezieht und in einer Sozialwohnung wohnt. Natürlich. Gegenteiliges habe ich auch nicht behauptet. Ich wollte nur verdeutlichen, dass sich Materialismus und Religion nicht im mindesten ausschließen, aber nicht, dass wer nichts hat, auch nichts glaubt.
Ich denke, Hoffmann ist mit Vorsicht zu genießen. Hast Du sein Buch gelesen? Ich nicht, und ich denke auch nicht, dass ich mir das antun werde. Aber der
Wikipedia-Artikel über ihn ist sehr aufschlussreich. Ich darf vielleicht daraus zitieren?
"Für seine Sicht der westlichen Gesellschaft mag die folgende Aussage über die westliche Jugend aus dem Buch "Der Islam als Alternative" stehen:
Schauen wir sie nur an, diese Opfer einer scheinbar werteneutralen Industriegesellschaft. Sie haben alles – Autonomie, Lebenssicherung von der Wiege bis zur Bahre, Sex ohne Tabus, Drogen fast nach Belieben, viel freie Zeit und alle je erdachten Menschenrechte. Aber sie erfühlen eine existentielle Leere […]."
Das hat er - wenngleich er verallgemeinert - gut beobachtet. Allerdings zieht er meines Erachtens die falschen Schlüsse daraus. Rückkehr zu einer konservativst interpretierten Religion ist nicht die Lösung für die von ihm postulierten Probleme, und die "Degeneration", die er beobachtet haben will, ist nicht der Säkularisierung zuzuschreiben, sondern der Entmenschlichung im Zuge der totalen Verwertung der Menschen. Ich persönlich traue im Übrigen Konvertiten (gleich welcher Glaubensrichtung) nicht so weit, wie ich sie werfen kann. Sie sind mir in ihrer Radikalität und ihrem Dogmatismus unheimlich. An ihnen zeigt sich mehr denn je, dass Religion allzu häufig als Instrument zur Durchsetzung von eigenen Interessen benutzt wird, nicht als persönliche spirituelle Bereicherung. In dieses Bild passt im Übrigen auch, dass der Mann vorher strunzkatholisch war. Das allerdings ist natürlich nur mein eigenes Bild von der ganzen Sache. Schon allein, dass er Menschenrechte als "erdacht" bezeichnet, macht mir gewaltiges Grummeln im Bauch!
behrens am 31.Aug 11
|
Permalink
Das Buch von Hofmann habe ich nicht gelesen und das was ich so im Internet fand, gefällt mir nicht besonders. Ich bin gegenüber Konvertiten auch eher vorsichtig, denn meist sind sie wesentlich dogmatischer und eifernder, als diejenigen, die in ihren Glauben „hineingeboren“ wurden. Aber dennoch gibt es durchaus partielle Erkenntnisse, die etwas richtig auf den Punkt bringen – so wie das von mir angeführte Zitat.
Ich habe keine Untersuchungen zu dem Thema Ehrenmord gelesen, aber ich verfolge das Thema in den Medien. Ein Beispiel für das von mir angeführte Ungleichgewicht in Sachen westlicher Lebensart ist die Geschichte der Afghanin Morsal, die von ihrem Bruder umgebracht wurde. Der Bruder nahm Drogen und war vorbestraft und war alles andere als jemand, der sich verantwortungsbewusst um seine Familie kümmert. Die junge Morsal wollte lediglich ausgehen und kurze Röcke tragen. Die Familie wollte ihre Tochter wieder in die Heimat zur „Umerziehung“ schicken und nicht den Sohn. Vor einigen Jahren geschah ein ähnlicher Mord in meinem Stadtteil und entfernte Bekannte kannten den Mörder, der seine Schwester wegen des Zusammenlebens mit einem Mann hinrichtete, obwohl er selbst auch unverheiratet mit einer Frau zusammen lebte.
Meine Behauptung: „Religiös kann man auch sein, wenn man Hartz-IV bezieht und in einer Sozialwohnung wohnt.“ habe ich nicht als Gegenargument auf Deine Ansicht gemeint. Im Gegenteil – ich meine damit, dass Menschen, die in Armut leben, auch immer anfällig dafür sind, Religion als einzigen Ausweg anzusehen. Und genau dies ist in der Geschichte ja auch oft genug ausgenutzt worden, indem Menschen eingeredet wurde, sie müssten sich nicht für eine Änderung der Verhältnisse einsetzen, da ja das Diesseits sowieso nicht so wichtig ist. Letztendlich hat ja auch Luther trotz seines Bruchs mit dem Papst die Bauern dazu aufgerufen, ihre Auflehnung gegen die Obrigkeit zu beenden, da Gehorsam zum Glauben gehört.
Eine humanistische Weltanschauung ist auch ohne Religion möglich, da gebe ich Dir vollkommen Recht. Aber ich vertrete die Ansicht, dass Religion nicht zwangsläufig unvereinbar ist mit humanistischen Idealen. Ich kenne genug gläubige Menschen, die alles andere als dogmatisch sind. Die sich sehr in der diesseitigen Welt engagieren und nicht nur auf ein schönes Jenseits hoffen. Die die Bibel nicht als Tatsachenbericht lesen, sondern als Allegorie. Menschen, die durchaus kein Problem damit haben, wenn andere Menschen anderen Glaubenssystemen anhängen. Ich habe Zweifel daran, ob Hofmann dazu gehört. Man kann richtige analytische Erkenntnisse haben und trotzdem einen Rückschluss ziehen, der in eine Sackgasse führt. Hoffmann stellt seine Wahl als die einzig richtige dar – das ist nie ein gutes Zeichen.
Du machst aufmerksam auf den von Hofmann genutzten Begriff der "erdachen" Menschenrechte. Das erinnert mich wieder an den von Helmth Schmidt benutzten Begriff der "abendländischen Überheblichkeit". Darüber grüble ich immer noch nach. Ist es wirklich überheblich, die Rechte von der persönlichen Freiheit und Gleichheit des Individuums als absolut zu setzen? Zeugt es wirklich von Überheblichkeit, wenn man Hierachie als etwas ansieht, was dem Menschen in seiner Entwicklung schadet?
Nein, das ist nicht überheblich.
Wir hatten diese Diskussion ja schon einmal in ähnlicher Form. Ich will mit meinen Äußerungen nicht sagen, dass alle religiösen Menschen es an gesundem Menschenverstand vermissen lassen. Das wäre überheblich. Zwar ist für mich meistens gefühlsmäßig schwer nachvollziehbar, was Menschen an ihre Religion bindet (und damit meine ich nicht Spiritualität). Aber so lang sie nicht missionieren und ihre Religion als eine private Bereicherung anstatt ein für die gesamte Menschheit geltendes Gesetz betrachten, ist das in Ordnung für mich.
Grenzen gibt es in meinen Augen aber da, wo die Menschenrechte in Mitleidenschaft gezogen werden. Es hängt mir einfach gewaltig zum Halse heraus, dass mit Religion wirklich alles gerechtfertigt wird. Herr Hofmann beispielsweise hält es wohl für angebracht, den Koran wörtlich zu nehmen und hält auch die Scharia für eine angemessene Rechtsgrundlage im Zusammenleben, schließlich sei sie ja das Wort Gottes. Zu diesen perversen Auswüchsen gehört auch, dass religiöse Menschen häufig dazu neigen, sich von andersgläubigen und andersartigen Menschen abzugrenzen, indem sie behaupten, sie allein seien im Besitz der Wahrheit und seien gegenüber anderen auserwählt.
Die gröbsten Menschenrechtsverletzungen lassen sich mit Religion rechtfertigen, weil man unter Berufung auf einen Gott (den keiner sieht und hört und den daher auch keiner nach seinem wirklichen Willen fragen kann) alles behaupten kann. Auch z.B. die Minderwertigkeit der Frau, wie es so schön unter anderem auch im "Buch der Bücher" schriftlich festgehalten wurde von Menschen, die an dieser Hierarchie ein handfestes Interesse haben. Alles ist hinterfragbar, sogar die stumpfen biologistischen Behauptungen der heutigen Zeit, aber nicht der angebliche Wille Gottes.
Hofmann war auch schon 1992 nicht der erste, der einen angeblichen Werteverfall anprangerte. Um zu sehen, dass Kapitalismus nicht glücklich macht, nicht gemeinschaftsförderlich ist und an unserer Menschlichkeit nagt, muss man kein großer Hellseher sein. Der Werteverfall wurde und wird immer und zu aller Zeit beschrieen, und umso lauter vor denen, die sich vor Veränderung fürchten.
Aber anstatt sich zu überlegen, was man denn eigentlich für Werte anstrebt und wie man wirksam dorthin kommen könnte, greift man zurück auf rigorose, überkommene Muster, die uns und unserem Leben erst recht nicht mehr gerecht werden können. Das Geschwätz von den Werten ist an dem Punkt dann nur noch hohle Fassade, im Kern geht es um den Wiedergewinn von Macht und Kontrolle, zu deren Ausübung sich Religion so fantastisch eignet - besser als jedes andere Mittel.
Die Werte, an denen es heute möglicherweise tatsächlich mangelt, bleiben diffus-verklärte Ideale, die niemand konkret benennen will. Fest steht nur, dass natürlich früher alles besser war. Wie bequem, wenn man dann auch noch einen Gott hat, auf den man sich zurückziehen kann.
Beispiel Familienzusammenhalt. Da ist angeblich früher alles besser gewesen. Man hat sich noch umeinander gekümmert, zwischen den Generationen war alles prima (in der ach so hochgelobten Großfamilie), die Mütter kümmerten sich anständig um ihre Kinder, die Familie war ein Hort voller Nestwärme, der anständige, aufrechte Menschen hervorbrachte. Heute sind die Jugendlichen kriminell, drogen- und sexsüchtig, die Mädchen werden immer früher reif, es gibt mehr Alleinerziehende als je zuvor, Flatrate-Saufen und dauerndes Partyfeiern tun ein Übriges, und ein ordentliches Butterbrot kriegen die Kinder auch nicht mehr mit in die Schule. Wieviel einfacher ist es da bei diesem Werteschwund, die irreversible Entwicklung, die unsere Gesellschaft ohne Zweifel hinter sich hat, einfach auszublenden und auf die traditionell-christlichen Strukturen zurückzugreifen? Die Frau gehört zum (und unter den) Mann, die Kinder haben den Eltern zu gehorchen, Sex hat nur in der Ehe was zu suchen und hat gefälligst dann auch in Nachwuchs zu gipfeln... Schließlich ist das ja Gottes Wille so.
Ursachenforschung? Entwicklung neuer Perspektiven? Bewältigungsmechanismen? Mut zu Neuem? Fehl am Platz. Ich kann dieses rückschrittliche Gezeter um verlorene Werte und aufgeweichte Normen nicht mehr hören. Und Hofmann stößt genau in dasselbe Horn, wenn er von gepflegtem Hedonismus und materialistisch praktiziertem Atheismus tönt. Die Welt ist ja ach so schrecklich, und die einzige Lösung ist die Rückkehr ins Mittelalter...
Du schreibst: Eine humanistische Weltanschauung ist auch ohne Religion möglich. Ich sehe es aber so, dass Humanismus von vornherein nichts mit Religion zu tun hat. Die Pflicht zur Nächstenliebe ist zwar Element der meisten Religionen, aber sie sind nicht ihr Erfinder. Im übrigen kommt es wohl immer auf die Umstände an, ob der besagte Nächste einem nah genug ist, um geliebt zu werden. Manchmal reicht schon der Umstand, dass jemand eine Frau ist, einen anderen Glauben hat, andere wirtschaftliche Interessen oder anderer Herkunft ist, und vorbei ist es mit der humanistischen Ader. Das ist einer der Gründe, warum ich der Ansicht bin, Menschenrechte gehören verbindlich für alle verankert und nicht der Interpretationsgewalt von Religionsführern (oder sonstwem) überlassen.
behrens am 01.Sep 11
|
Permalink
Es stimmt, mit Religion lassen sich die gröbsten Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen. Allerdings ist das nicht nur bei Religionen der Fall, sondern auch bei politischen Ideologien. Ich habe gerade ein wenig über Russland gelesen und es ist einfach grauenhaft, wie schon das allerkleinste Abweichen von den Dogmen zu Zerstörung der ganzen Existenz geführt haben. Ich halte es für einen Irrtum, Religion anders zu bewerten als politische Ideologie. Der springende Punkt ist der des Absolutheitsanspruchs und der Vorstellung einer einzigen Wahrheit. Das gefällt mir übrigens so am Buddhismus - dort lehnt man die Vorstellung einer allgemeingültigen Wahrheit nicht nur ab, sondern man sieht es als eine Aufgabe an, unsere Vorstellung von der Welt als Trugbild zu entlarven.
Mich würde sehr interessieren, was die erwähnte Spiritualität für Dich bedeutet.
Richtig, auch Ideologien werden dazu benutzt, Menschen zu unterdrücken, zu missbrauchen und irrezuführen. Und ich will auch gar nicht bestreiten, dass sich das im Effekt nicht sehr unterscheidet, egal was nun genau zur Rechtfertigung herangezogen wird. Allerdings denke ich, dass sich eine Ideologie immer in Zweifel ziehen lässt, auch wenn ihre Vertreter eisern an ihr festhalten. Es gibt vernünftige Argumente dagegen, und sei es schließlich nur das eine, dass eine Ideologie den Menschen nicht gerecht wird. Gegen das Argument, etwas sei Gottes Wille, ist allerdings nicht zu argumentieren. Das ist es, was mich beunruhigt, zumal es dazu führt, dass Menschen schon als Heranwachsende mit Gott und seinem Willen zu Furcht und Gehorsam erzogen werden. Gott ist wie elterliche Autorität, die keinen Widerspruch duldet. Der Mensch lernt, Dogmen nicht anzuzweifeln. Mir ist aber natürlich auch bewusst, dass man auf diese Weise immer weiter diskutieren kann. Es ist möglich, dass wir zwei in dieser Hinsicht nicht übereinkommen und Du der Religion immer eher zugeneigt sein wirst, während ich sie ablehne.
Spirtualität bedeutet für mich, dass ich der Auffassung bin, es gibt mehr als lediglich die materialistische Seite in unserem Leben. Natürlich ist es unbestritten, dass es so etwas wie den Geist gibt. Neuerdings gehen z.B. aber neurologische Forschungen immer mehr in die Richtung, Geist, Seele, Bewusstsein oder wie auch immer man es betiteln mag, ausschließlich im Gehirn zu verankern. Damit machen sie uns in unserer Gesamtheit zu Produkten unserer Körperlichkeit, und das ist eine Haltung, die ich ebenso ablehne wie den Dualismus Körper-Seele überhaupt. Ich bin der Ansicht, man verwechselt Ursache und Wirkung und reduziert seelische Lebensäußerungen zu reinen Nebenprodukten unseres körperlichen Lebens. Für mich ist beides untrennbar miteinander verbunden. Das bedeutet natürlich, dass meine Ansicht einen gewissen Hang zur Transzendenz mit einschließt. Ich bin auch der Überzeugung, dass wir (wie es auch buddhistische Auffassung ist) miteinander verbunden sind. Das beschränkt sich weder auf die seelische noch auf die körperliche Existenz - beides gehört für mich zusammen. Wir teilen uns meiner Meinung nach gemeinsam eine physische wie auch geistig-seelische Welt. Ich bin außerdem der Ansicht, dass unser geistig-seelisches Leben Einfluss hat auf die physikalische Struktur. Im Grunde halte ich unsere gesamte Welt für beseelt. Das bedeutet Spiritualität für mich.
Natürlich empfinde auch ich den Mangel an Berücksichtigung dieser spirituellen Seite in unserem Alltag. Um es mit Madonna (wie symptomatisch!!) zu sagen: "We are living in a material world, and I am a material girl...!" Das ist ein Umstand, an dem wir kranken, ganz ohne Zweifel. Denn unsere Welt ist eben nicht nur materiell, und wir gehen zugrunde, wenn wir selbst uns als rein materiell betrachten. Die Befriedigung, die der westliche Lebensstil bietet, ist rein materieller Natur, und genau da liegt sein Manko wie auch seine große Verführungskraft. Er hindert uns an und bewahrt uns zugleich vor der allzu anstrengenden, schmerzlichen, aber aufschlussreichen Auseinandersetzung mit unseren eigenen seelisch-geistigen Bedürfnissen. Es ist so, als versuchtest Du, ohne einen wesentlichen Teil Deines Körpers zu leben (blöd, dass sich auch diese Analogie auf das rein materielle beschränken muss...).
Übrigens bin ich der Ansicht, Atheismus und Spiritualität schließen sich nicht aus. Der Begriff "Atheismus" wird in religiöser Polemik leider nur allzuhäufig als Synonym für kalten Materialismus verwendet, aber das ist nicht richtig. Er bedeutet letzlich nur "gottlos", und ehrlich, gottlos bin ich gern. Das macht mich nicht zu einem Menschen ohne jegliche Werte - im Gegenteil. Ich bin der Auffassung, dass es die allerhöchste Zeit ist, dass wir lernen, unseren gesunden Menschenverstand zu benutzen, um zu Mitgefühl und Verbundenheit zu gelangen. Etwas anderes besagt übrigens auch der Buddhismus nicht.