Die Lust am Verdrängen
„Sei froh, dass du das nicht mitgemacht hast“ ist die Antwort, die in Kirsten Boies Buch ”Ringel Rangel Rosen” all den Kindern gegeben wird, die danach fragen, was im Krieg passiert ist. Es scheint ein allgemeines Übereinkommen aller Erwachsenen darin zu bestehen, dieses Kapitel mit einem Erwähnungsverbot zu belegen. Traumen verarbeitet man nicht, sondern verdrängt sie. Und es gab ja auch eine neue Beschäftigung, der man sich mit viel Begeisterung widmete – Fernsehen. Zuerst noch in nachbarschaftlicher Gemeinschaft, denn anfangs konnten sich nicht alle einen Fernseher leisten. Auf diese Weise wurden Fernsehsendungen zu Gemeinschaftserlebnissen und später zu kollektiven Kindheitserinnerungen. „Familie Hesselbach“, „Bonanza“, „Am Fuß der blauen Berge“ und „Zum blauen Bock“. Endlich mal keine Politik. Endlich mal wieder Spaß haben. Und das Wirtschaftswunder mit seinen scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten hat sein Übriges dazu beigetragen.

Um Traumen zu verarbeiten, braucht man Abstand. Abscheuliches und Furchtbares braucht seine Zeit, um überhaupt in Worte gefasst zu werden. Die eigene Position kann oftmals erst aus der Ferne richtig erkannt werden. Wer mitten im Geschehen steckt, verfügt nicht über die notwendige Distanz, um zu erkennen, was überhaupt geschieht. Erst wenn einige Zeit verstrichen ist, kann das beginnen, was man als Trauerarbeit bezeichnet. Die kam allerdings nie. Dazu ließ das Fernsehen den Menschen auch nicht genug Zeit. Und die Möglichkeit des Geldverdienens mit seinem Häuslebauen, Ratenzahlungskäufen und Supermärkten nahmen die Menschen dann vollends in Beschlag. Materialismus lässt weder Platz für Gefühle noch zum Nachdenken.

Eigentlich kann man die Nachkriegszeit als „fröhliche Verdrängung“ bezeichnen. Für diejenigen, die in diesem Klima heranwuchsen, war der Krieg etwas, von dem man zwar irgendwie wusste, aber irgendwie auch nicht mehr. Das seltsame Redeverbot wurde niemals hinterfragt.

Verdrängung ist immer das Verschenken einer Chance. Wer verdrängt, macht Weiterentwicklung unmöglich. Verdrängen ermöglicht es, dass sich Tragödien wiederholen. Warum verdrängt man trotzdem? Weil Aufarbeiten anstrengend und mühevoll sein kann. Und Fernsehen und Einkaufen mehr Spaß machen.




Es stimmt. Auch meine Großeltern waren betroffen. Doch nie haben sie wirklich darüber erzählt. Nur allgemeine Bruchteile. Neulich saß ich mit meiner Mutter zusammen und selbst sie wusste kaum etwas. Darüber wurde nicht gesprochen. Nun sind meine Großeltern verstorben und ich würde gerne ein bisschen mehr wissen und kann sie nicht mehr fragen.

Buchtipp
@moony-world
Ich habe gerade mit dem Lesen eines Buches begonnen, in dem die damalige Generation der Kriegskinder über ihre Situation berichten. Das ersetzt zwar nicht das direkte Gespräch mit den Großeltern, aber hier trotzdem der Titel: "Die vergessene Generation - Kriegskinder berichten" von Sabine Bode, Piper Verlag.

Meiner Meinung nach ist es nicht die reine Bequemlichkeit, die die Menschen zur Verdrängung bringt. Es ist vor allem ein Nicht-Fühlen-Wollen der eigenen Schuld, der damit einhergehenden Scham und Trauer, dem Schmerz. Krieg und Diktatur sind nur möglich, wenn ein demagogisch begabter Mensch es schafft, das innere Wertesystem der Menschen umzuschalten und darauf auszurichten, Mitgefühl und Zusammenhalt zu ersetzen durch Denunziation und Verrat, Berührbarkeit durch Härte, moralische Ideale durch Angst und Hass. Das geschah so nachhaltig, dass es einer ganz intensiven Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen bedurft hätte (allen voran: Wer bin ich eigentlich?), um die inneren Widersprüche aufzulösen und sich dann befreit der Zukunft zu widmen. Das ist Schwerstarbeit, die von unterschwelligen Emotionen beeinflusst und behindert wird. Zu groß die Angst, zu groß die Schuld und zu groß die innere Verkehrung im einzelnen Menschen - zumal in einer Zeit, in der Gefühle völlig anders gehandhabt wurden.

Ich will Film und Fernsehen nicht vollständig schlechtreden. Für mich ganz persönlich haben beide sowohl einen emotionalen Wert als auch einen Bildungs- und Informationscharakter, den ich durchaus schätze. Mir fiel aber in meinem Alltag auch folgendes auf: Es war möglich, dass ich mich mit der festen Absicht an den Wohnzimmertisch setzte, Tagebuch oder etwas anderes zu schreiben, zu zeichnen oder anderweitig kreativ zu sein bzw. mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Ich griff dann aber doch oft "mal kurz" zur Fernbedienung, und es ist beim besten Willen nicht möglich, neben diesem Konsum gleichzeitig Output und Auseinandersetzung zu schaffen. Man wird überlärmt, übertönt, übertüncht. Genau dieser Effekt zeigt sich auch nach Feierabend, wenn ich nicht länger über meinen Job (und seine unangenehmen Seiten) nachdenken mag und die Glotze einschalte. Und im großen Maßstab verhinderte die Welle der Heimatfilme und Unterhaltungssendungen die Auseinandersetzungen mit dem unangenehmen Kern der Nation. So lange wir alle schunkeln und so wunderbare saftige Bergwiesen, junge Mädel und Blumensträuße haben, ist doch alles in bester Ordnung!

Das funktioniert heute noch genau so. Nur, dass wir in den öffentlich-rechtlichen schnulzige Telenovelas haben (woran bemerkenswert ist, dass dieses Konzept aus Lateinamerika stammt, wo tausende Menschen trotz Elend vor der Glotze von einem besseren Leben mit romantischem, reichem Liebhaber inklusive Hochzeit träumen) und in den Privaten voyeuristischen "Andere-sind-noch-viel-asozialer-als-wie-wir"-Quatsch. Die quietschbunte Pampe tötet aufwandsarm die innere Tiefe, vor der die Menschen sich so sehr fürchten. Das macht die Sache so beliebt und begehrt.

Wir sind wie eine betäubte Herde, die hypnotisiert durch die Gegend rennt auf der Suche nach einem besseren Leben. So war das auch schon gestern, nur damals sorgte dann das Wirtschaftswunder auch noch für den passenden Lack an der Fassade - der bröckelt heute doch mächtig.

Nur, das was heute - im Hier und Jetzt - stattfindet, mit allen Ecken und Kanten, ist das einzig wirkliche Leben. Im Grunde ist diese Massenbetäubung wie eine Religion. Sie bannt uns mit dem Versprechen auf Erlösung, und zwar so sehr, dass wir nicht einmal mehr wissen, wovon wir uns Erlösung erhoffen.

Auschwitz jederzeit und überall
Du beschreibst sehr treffend die Auswirkungen des Fernsehens. Mittlerweile lebt eine große Masse von Menschen viel mehr in der Fernsehparallelwelt als in der Realität. Die Möglichkeiten der Manipulation sind dadurch schier unbegrenzt. Sicher, es gibt den Knopf zum Abschalten. Aber das ist nun mal genau das, was das Problem ausmacht – man nutzt diesen Knopf nicht und man schaltet nicht ab.

In der vergangenen Woche habe ich mir mal wieder eine Auszeit gegönnt – ohne Fernsehen, ohne Telefon und im Schweigen. Es gibt kaum etwas, was ich mehr genieße. Ich habe die Seminarleiterin gefragt, wie sie es schafft, mit dem Fernsehen verantwortungsvoll umzugehen. Sie antwortete darauf kurz und bündig „Ich habe gar keinen Fernseher“.

Zum Thema der Verdrängung: ich bin mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob Gefühle wie Schuld, Scham und Trauer überhaupt bei allen Menschen vorhanden sind. Ich habe eher die gruselige Befürchtung, dass manche Menschen in der Lage sind, ihr Gewissen komplett auszuschalten. Wie Horst Eberhard Richter es auf den Punkt bringt: “Die eigene Gefügigkeit wird nicht mehr durchschaut und der Verzicht auf Gegenwehr wird gar nicht mehr als Verzicht erlebt”.

Es mag einen Unterschied in der Ursache geben. Bei dem einen ist es Feigheit und Bequemlichkeit, bei dem anderen ist es schlichtweg ein ins Perverse gesteigerter Opportunismus, der alles rigoros ignoriert, was nicht den eigenen Vorteil betrifft. Mit manchen Menschen ist es überhaupt nicht möglich, über Aspekte zu sprechen, die nicht dem eigenen Vorteil dienen. Versucht man dies trotzdem , wird dies als höchst lästig empfunden. Oder es löst sogar Belustigung aus – manche Menschen fangen sofort an zu grinsen, wenn nur der Hauch einer Thematik aufkommt, in der es um Kritik an mangelndem Sozialverhalten geht. Es scheint fast so, als würde man von Elfen und Feen erzählen.

Mir wird übrigens Angst und Bange bei diesen Menschen, denen jegliche Moral abhanden gekommen ist. Ich meine damit nicht Schwerkriminelle und Psychopathen. Ich meine die lieben, netten Mitbürger. Man darf sich keine Illusionen machen - Auschwitz wäre jederzeit und überall wieder möglich.