Gestern fand es nun endlich statt – das lange vorbereitete Klassentreffen. Und nicht eine einzige meiner Befürchtungen hat sich bestätigt. Es war der schönste und witzigste Abend, den ich seit langem verbracht habe. Keine einzige Sekunde war „Mein Haus, meine Frau, mein Auto“ Thema. Es ging eigentlich die meiste Zeit um das, was früher alles passiert war - und das war eine Menge. Und wir waren uns alle einig, dass unsere Klasse etwas Besonderes war. Ziemliche Charakterköpfe mit Ecken und Kanten. Es ist erstaunlich, wie sich Menschen trotz eines langen Zeitraums und der damit verbundenen Entwicklung nicht nur äußerlich, sondern auch in ihren grundlegenden Wesenszügen immer noch sehr ähnlich sind.
Der Abend klingt immer noch in mir nach. Denn im Grunde ging es nicht nur um ein Klassentreffen. Es ging um die kurzeitige Rückkehr in eine Zeit, in der ich glücklicher war als jetzt. Je mehr ich über alles nachdenke, desto mehr wird mir klar, dass es hierbei um Authentizität geht und dass die eigene Authentizität von der der anderen abhängt. Menschen, die nicht authentisch sind, projizieren die eigene Nichtauthentizität in andere hinein und sind dadurch unfähig, andere so wahrzunehmen, wie sie tatsächlich sind. Wenn Menschen sich nicht gegenseitig wahrnehmen können, kommuniziert man zwangsläufig aneinander vorbei. Manche können damit umgehen. Ich leider nicht. Obwohl in unserer damaligen Klasse nicht immer nur eitel Sonnenschein herrschte, sondern es auch Streit gab, war das Miteinander klar und direkt. Ein schönes Gefühl, so wahrgenommen und akzeptiert zu werden, wie man nun mal ist.
Eigentlich war der gesamte Abend das genaue Gegenteil von meinem normalem Lebensalltag. Ich hatte schon fast vergessen, wie es ist, wenn es keine Diktatur der Alphamännchen gibt und man endlose Gespräche führen kann, ohne dass diese durch dumpfe Platituden bestimmt werden und es nur um Geldanlage und Außenwirkung geht. Und wie herrlich angenehm Offenheit, Esprit und wirklicher Humor sein kann.
Sehr berührt hat es mich, dass sich alle bei mir bedankt habe und ich sogar kleine liebevoll ausgesuchte Geschenke bekommen habe. Obwohl es so viel Arbeit nun auch nicht war, habe ich dafür viel Anerkennung erhalten. Etwas nicht als selbstverständlich hinnehmen – auch das habe ich schon seit langem nicht mehr erlebt.
Abende wie gestern gibt es viel zu selten - schade.
Das Lesen Deiner Beschreibung von diesem Treffen bereitete mir Gänsehaut. Es ist schön, dass Ihr Euch so unbefangen miteinander unterhalten konntet, und dass etwas von dem alten Geist, der alten Begeisterung, im Raum war. Das strahlt auch das Foto aus, dass Du dazugestellt hast. Es wirkt sehr menschlich und deswegen wunderbar gelassen.
Tischfußball spielen könnt' ich auch mal wieder...
Liebe Frau Behrens, uns ging es genau so. Ich bin eher kontra Klassentreffen, aber weil ich kein Spielverderber bin, war ich dabei. Von unserer Grundschulklasse waren schon zehn Personen (entschuldigen Sie bitte den unpersönlichen Begriff 'Person') verstorben. Zehn von dreißig, das macht zu denken und zu schaffen.
Das Klassentreffen (Reünion, sagen wir) war ein Erfolg. Und wie Sie recht haben: nach einer Stunde merkt man, daß sich jeder kaum verändert hat. Qua Character.
Gruß, T.