Heute Nacht habe ich ein wenig über die Weimarer Republik gelesen. Unter dem Kapitel „Deuter und Denker“ wurden Wissenschaftler und Philosophen aus der Weimarer Zeit vorgestellt. Unter anderem auch Siegfried Kracauer (1889-1966), ein soziologisch geschulter Journalist, der einer der ersten war, der sich dem Film als Phänomen der neuen Massenkultur widmete. Und dabei stieß ich zu schon sehr später Stunde auf ein Zitat, das mich wieder hellwach machte:“
Die Masse der Angestellten unterscheidet sich vom Arbeiter-Proletariat darin, daß sie geistig obdachlos ist“.
Da gab es also schon vor langer Zeit jemanden, der nicht, wie allgemein üblich, den Arbeitern einen geistigen Mangel - denn Obdachlosigkeit ist ein Mangel - diagnostiziert, sondern den Angestellten. Das stellt die herkömmliche Ansicht auf den Kopf. Trifft aber mitten ins Schwarze. Auch wenn man heute den verstaubten Begriff des Arbeiter-Proletariats zu Seite legen muss, gibt es immer noch Differenzierungen in der Arbeitswelt, die vielleicht nicht so sehr aus einer wirklich soziologischen Sicht resultieren als vielmehr aus der Sicht der Menschen über sich selbst. Die Menschen, die nicht körperlich arbeiten, definieren sich nach wie vor als diejenigen, deren Arbeit anspruchsvoller ist als die körperliche Arbeit. Und schon seit ewigen Zeiten beizeichnen diese Menschen ihre Arbeit als „Geistige Arbeit“.
Im Mittelalter, als Lesen und Schreiben eine Fähigkeit weniger Auserwählter und fast immer mit einer umfangreichen Bildung verknüpft war, mag der Begriff „Geistig“ zugetroffen haben. Aber heutzutage ist dies nicht nur falsch sondern auch völlig lächerlich. Ein Standesdünkel einer Klasse ohne Stand.
Nach Kracauer geht es dem Angestellten nie um Inhalte, sondern nur um Glanz (im Sinne von Wirkung nach außen), er möchte in erster Linie auf unkomplizierte Art genießen und sich nicht mit Problemen auseinandersetzen. Von dem Genuß der Umwelt möchte er sich nicht durch ernste Gespräche ablenken lassen:
„
Das Höhere ist dem/der Angestellten nicht Gehalt, sondern Glanz. Es ergibt sich ihm nicht durch Sammlung, sondern in der Zerstreuung".
Geistig obdachlos – darüber könnte man lange nachdenken, denn Kracauer sagt ja nicht
Geistig beschränkt. Es dreht sich also nicht um ein eingeschränktes Wissen sondern um ein Wissen, das in irgendeiner Weise unbeheimatet ist. Ein beliebiges überall anwendbares und austauschbares Wissen. Ohne Bezug auf irgendetwas oder irgendwen und ohne jeden Hintergrund. Lesen, Schreiben, Rechnen. Vielleicht für ein Möbelgeschäft, ein Ingenieurbüro, ein Krankenhaussekretariat – vielleicht auch für eine rechte Partei oder aber eine linke. Auswechselbar und überall einsetzbar - eben ohne Obdach.
Und ob ich will oder nicht - mir kommt die Darstellung
Etty Hillesums ins Gedächtnis, die über ihre Arbeit in einem Büro klagt und ihre Kollegen dabei nicht gerade liebevoll beschreibt als: "
sie sind in bezug auf ihre eigene Person optimistisch verblendet, sie intrigieren und verteidigen ehrgeizig ihre Pöstchen, das Ganze ein riesiger Saustall". Das deckt sich mit Kracauers Begriff der geistigen Obdachlosigkeit, denn es fehlt in der Tat das "gemeinsame Dach", das über das formale Arbeiten Hinausgehende.