Etty Hillesum
Blaise Pascal hat mal geschrieben: "Je länger ich die Menschen betrachte, desto mehr liebe ich meinen Hund". Ich habe gar keinen Hund, aber ich kann diesen Aphorismus für mich entsprechend wandeln in "Je länger ich dumme Menschen betrachte, desto mehr liebe ich Literatur". Eigentlich ist es beunruhignd, den letztendlich nur fiktiven Menschen den Vorrang zu geben vor den realen Menschen aus Fleisch und Blut. Aber ich bin schon seit langem in Kreise geraden, in denen das Denken besorgniserregend wenig wenig praktiziert wird. Ich meine dabei nicht das Denken über Möglichkeiten der Zeitersparnis, der Geldanlage oder der Außendarstellung, sondern das Nachdenken. Die geistige Beschäftigung mit etwas. Zum Beispiel mit dem Menschen. Nicht über das, was man in ihn projiziert, sondern über den Menschen mit seiner ihm eigenen Persönlichkeit.
Vor einiger Zeit habe ich hier Etty Hillesum zitiert, von der ich allerdings bisher auch nur ein Zitat und nie das Buch selbst gelesen hatte. Das habe ich inzwischen nachgeholt und mir das Buch "Das denkende Herz" besorgt. Das Buch basiert auf Tagebuchaufzeichnungen, die die Holländerin Etty Hillesum in den Jahren 1941-1943 gemacht hatte bevor sie in Auschwitz ermordet wurde.
Ich hatte ein wenig Anlaufschwierigkeiten mit dem Buch, aber jetzt bin ich drin. Vielleicht hat alles seine Zeit und vor ein paar Wochen war es eben noch nicht soweit. Etty Hillesum ist aus zwei Gründen im Moment das, was ich so dringend brauche. Zum einen ist es eben dieser Mangel an Möglichkeit des geistigen Austauschs. Zum anderen hat sie genau das, was mir fehlt: Verständnis für die Schwächen der anderen. Sei es Dummheit, sei es primitive Gewalttätigkeit - Etty Hillesum trägt in sich einen tiefen Humanismus, der über die eigene Person als Betroffene hinausgeht. Leid ist für sie so etwas Universelles, daß es überhaupt nicht an den eigenen Erfahrungen festgemacht werden darf. Es geht um Größeres.
Und sie hat - im Gegensatz zu mir - erkannt, daß Denken nicht der Weg ist: Mit Denken komme ich ja doch nicht weiter. Denken ist eine schöne und stolze Beschäftigung beim Studieren, aber aus schwierigen Gemütszuständen kann man sich nicht "herausdenken". Dazu muß man anders vorgehen. Man muß sich passiv verhalten und horchen. Wieder den Kontakt mit einem Stückchen Ewigkeit finden .
Ich werde dieser großartigen Frau hier in meinen Kommentaren in ihrem Buch folgen.
behrens am 16.Sep 09
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An einer Stelle beschreibt Etty Hillesum ihr Leiden an dem Zusammenleben mit der Mutter, von der sie sich wegen deren ständigen Sorgen um den Haushalt unterdrückt fühlt. Das Leben in diesem Haus scheitert an Kleinigkeiten. Man wird von den Kleinigkeiten aufgefressen und kommt nicht zum Wesentlichen. Ich würde zur berufsmäßigen Melancholikerin, wenn ich länger hierbleiben müßte. Ich unterbreche mein Leben so lange , bis ich wieder fort von hier bin. Hier fehlt mir jede Energie zu ernsthaftem Arbeiten, als ob einem hier jede Energie ausgesogen würde
Ich blieb sofort an der Formulierung "ich unterbreche mein Leben" hängen. Normalerweise kennt man Ausdrücke wie: sein Leben verbringen, sein Leben verkürzen, sein Leben verlängern, sein Leben beenden. Der Ausdruck sein Leben unterbrechen ist ungewöhnlich. Und wenn man sein Leben ansieht, dann bemerkt man plötzlich, daß es an vielen Stellen unterbrochen ist. Zum Beispiel, wenn man in einer stinkenden Fabrik arbeitet und dort 8 Stunden lang Waren von einem Fließband stapelt. Oder wenn man in einem muffigen Büro 8 Stunden lang nichtssagende Briefe tippt. Oder wenn man mit Menschen zusammen ist, die permanent Überflüssiges reden. Oder wenn man stundenlang dämliche Fernsehserien sieht.
Das sind im Grunde genommen Unterbrechungen des eigentlichen Lebens. Und wenn man nicht aufpaßt, dann wird aus den temporären Unterbrechungen ein Dauerzustand...
behrens am 26.Sep 09
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Es ist ein langsamer und schwieriger Prozeß, zur wirklichen, inneren Selbständigkeit geboren zu werden. Mit immer größerer Sicherheit zu wissen, daß es nie und nimmer Hilfe, Unterstützung und Zuflucht bei anderen für dich gibt. Daß die anderen genauso unsicher, schwach und hilflos sind wie du selbst. Daß du immer der Stärkere sein mußt. Ich glaube nicht, daß es in deiner Art liegt, bei anderen Zuflucht zu finden. Du wirst immer auf dich selbst gestellt sein. Es gibt nichts anderes. Das übrige ist Fiktion. Aber dies jedesmal wieder von neuem erkennen zu müssen. Vor allem als Frau. Es besteht doch immer der Drang in dir, dich in dem anderen, dem Einzigen zu verlieren. Aber das ist eine Fiktion, wenn auch eine schöne. Es gibt kein gemeinsames Verlaufen zweier Leben.
Etty Hillesum hat im zarten Alter von 27 Jahren etwas erkannt, was wahrscheinlich die schmerzhafteste Erkenntnis im Leben ist - allein auf sich selbst geworfen zu sein. Man mag ihre Formulierung als pessimistisch empfinden. Realistisch ist sie allemal. Vielleicht haben wir manchmal Glück und jemand steht schützend hinter uns. Aber allen ist dies nicht vergönnt. Äußerst schmerzhaft, sich dessen bewußt zu werden. Ein Gefühl von größter Einsamkeit und Schutzlosigkeit. Aber hat man dies erstmal erkannt, kann das Leben trotzdem weitergehen.
Geborgenheit ist unsere größte Sehnsucht. Aber der Verlust von Geborgenheit geschieht nicht völlig umsonst. Als Gegenleistung erhalten wir Freiheit. Eine unbändige Freiheit von allem und jedem. Es mag dann ein sehr viel kälteres Leben sein. Aber dafür auch ein weniger schmerzhaftes. Ganz allein auf sich selbst gestellt zu sein, heißt auch, niemals etwas verlieren können. Sich der grenzenlosen Verlorenheit bewußt zu sein und diese gleichzeitig ertragen zu können.
Ein Leben jenseits aller Erwartungen und jenseits aller Illusionen. Fröstelnd aber ohne Angst.
behrens am 08.Okt 09
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Bin mittlerweile zur Buchmitte von Ettys Tagebüchern vorgerückt – ich komme immer nur langsam vorwärts, da ich meist mehrere Bücher auf einmal lese. Das Buch wird jetzt ungemütlicher. Während es im ersten Teil vorrangig um die Beziehung(en) Ettys ging, tauchen jetzt immer öfter Beschreibungen der zunehmenden Verfolgung der Juden auf. Menschenunwürdige Gesetze und Vorschriften jeder Art – Juden dürfen nicht mehr Radfahren, Juden dürfen nicht mehr die Straßenbahn benutzen, e.t.c. Und es wird zunehmend von den Lagern besprochen, in die immer mehr Juden deportiert werden. Jetzt kommt langsam der Wesenszug von Etty Hillesum zum Vorschein, der diese Frau so einmalig macht. Manchmal fällt es mir allerdings schwer, die fast schon brutale Friedfertigkeit nachzuempfinden:
Das Leiden tastet die Würde des Menschen nicht an. Ich meine damit: Man kann menschwürdig und menschenunwürdig leiden. Ich meine damit: die meisten Menschen des Westens verstehen die Kunst des Leidens nicht und haben tausend Ängste davor. Das ist kein Leben mehr, wie die meisten Menschen leben: in Angst, Resignation, Verbitterung, Haß, Verzweiflung. Mein Gott, man kann es so gut verstehen. Aber wenn ihnen dieses Leben genommen wird, dann wird ihnen doch nicht viel genommen? Man muß den Tod als einen Teil des Lebens akzeptieren, auch den schrecklichsten Tod. Aber erleben wir nicht jeden Tag ein ganzes Leben, und macht es denn viel aus, ob wir ein paar Tage mehr oder weniger leben? Ich bin jeden Tag in Polen, auf den Schlachtfeldern, so könnte man sagen, manchmal drängt sich mir eine Vision von giftgrünen Schlachtfeldern auf; ich bin bei den Hungernden, bei den Mißhandelten und Sterbenden, jeden Tag bin ich dort, aber ich bin auch hier bei dem Jasmin und dem Stück Himmel vor meinem Fenster, in einem einzigen Leben ist für alles Platz. Für den Glauben an Gott und für einen elenden Untergang.
Ich habe mit dem Leben abgerechnet, mir kann nichts mehr passieren, denn es geht ja nicht um meine Person, und es kommt nicht darauf an, ob ich zugrunde gehe oder ein anderer, sondern es geht um den allgemeinen Untergang.
Mir flößt der radikale Nichtindividualismus von Etty Hillesum einen tiefen Respekt ein. Es gibt kaum Menschen, die fähig sind, sich selbst nicht in den Mittelpunkt ihres Seins zu stellen. Einerseits. Aber Andererseits erinnert mich dieses Verhalten auch an Schafe, die seelenruhig zur Schlachtbank trotten. Menschen, die bewaffneten Kampf und Gewalt ablehnen sind bewundernswert. Aber muß man deswegen auf jede Form des Widerstands verzichten? Wer so stoisch seinem Schicksal entgegentritt, der könnte doch auch genauso stoisch einfach den Gehorsam verweigern. Einfach nicht auf den wartenden Lastwagen steigen. Einfach zum patrouillierenden Soldaten nein sagen, wenn der das Kommando zum Wechseln der Straßenseite gibt. Oder einfach nur den Kopf schütteln, wenn die Gestapo zum Verlassen der Wohnung auffordert.
Vielleicht mache ich einen Denkfehler. Vielleicht ist eine bis zum Letzten gelebte Friedfertigkeit nur auf die duldende und demutsvolle Art möglich. Vielleicht muß man sich selbst in eine Art Trancezustand versetzen, der nicht nur Gewalt, sondern auch jedes geplante Handeln unmöglich macht. Vielleicht ist radikaler Gewaltverzicht nur so und nicht anders möglich. Vielleicht.
behrens am 05.Nov 09
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"Wenn man ein inneres Leben hat, spielt es mit Sicherheit keine Rolle, auf welcher Seite des Gefängniszauns man sich befindet (...) Ich bin schon tausend Mal in Konzentrationslagern gestorben. Das alles kenne ich. Es gibt keine Neuigkeiten, die mich beunruhigen könnten. Auf die eine oder andere Weise weiß ich schon alles. Und dennoch empfinde ich dieses Leben als schön und sinnvoll. In jedem Augenblick."
In meinen Augen sind Menschen wie Etty Hillesum "Teilhabende Menschen". Das sind jene außergewöhnlichen Menschen, die nie nur auf sich selbst und und nie nur auf die eigene Realität und Wahrnehmung begrenzt sind. Menschen, die in der Teilhabe am Leben anderer leben. Solche Menschen haben ein ganz anderes Spektrum der Wahrnehmung. Sie enden nicht beim eigenen Leiden, sondern nehmenTeil am Leiden anderer. Solchen Menschen kann noch nicht einmal Auschwitz etwas anhaben.
Etty Hillesum ist ein Mensch, der nicht erst dann leidet, wenn er selbst von Leid getroffen wird. Der die tiefe Bedeutung von Leid und Unrecht erkennt und es dadurch transzendiert. Etty Hillesum spricht von einem "inneren Leben". Diese innere Leben existiert jenseits aller Äußerlichkeiten und Zeitströmungen. Und schafft paradoxerweise gerade dadurch den Bezug zu allem Existierenden und läßt daran teilhaben.
Ich habe einen tiefen Respekt vor so einem Menschen.
behrens am 27.Nov 09
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Habe Etty Hillesums Tagebuchaufzeichnungen jetzt beendet. Gutes dauert etwas länger.
Es gibt Dinge, die ich voll und ganz nachempfinden kann. Die tiefe Abneigung gegen Menschen im Büro. Die große Liebe zu Rilke. Die Skepsis gegenüber der Institution Ehe. Ihre Verachtung für Materialismus: Mit einem Hemd am Leibe und einem Hemd in meinem Rucksack...ferner noch die winzige Bibel...ganz vielleicht ist auch noch Platz für einen Band von Rilkes Briefen...und der Pullover aus reiner Schafwolle - ich habe noch viele Besitztümer, mein Gott. Nachempfinden kann ich auch ihre Suche und Sehnsucht nach Gott.
Wovon ich weit entfernt bin, ist ihre fast schon anarchistische Bejahung des Lebens. Für mich ist es nicht nachvollziehbar, daß sie zeitweilig fast schon euphorisch über das Leben schreibt, obwohl die Deportation in das KZ schon sicher bevorsteht. Kann das wirklich möglich sein? Oder ist dies nicht vielmehr eine Art Selbstlüge?
Aber vielleicht ist es tatsächlich möglich, das Leben auf eine anarchistische, resolut kompromißlose Weise zu lieben: Alles nur als Facette eines allumfassenden Ganzen zu sehen Aber ist es denn nicht immer dieselbe Erde unter meinen umherirrenden Füßen und derselbe Himmel, einmal mit dem Mond, einmal mit der Sonne, um all die Sterne nicht zu vergessen, über meinen entzückten Augen? Warum von einer unbekannten Zukunft reden?
Ich hatte immer Schwierigkeiten, den Begriff Existentialismus wirklich zu verstehen. Dank Ettys Tagebuchaufzeichnungen dämmert mir jetzt ein wenig, was sich hinter diesem Begriff verbirgt. Das Abwerfen allen Überflüssigen, der Verzicht auf alles nicht Notwendige. Quasi das Konzentrat des Da-Seins. Vielleicht ist es das, was Sartre bezeichnet als das "auf sich selbst zurückgeworfen sein". Tiefes Leiden oder tiefe Bedrohung hat zwangsläufig auch immer etwas Existentialistisches. Es gibt nichts mehr, was vom Dasein ablenkt. Nur noch die nackte Existenz.
Vielleicht eröffnet dies Ebenen, die uns im normalen Dasein versperrt sind. Aber dennoch hat es etwas fast schon Unheimliches, daß jemand dies ohne Angst und Verzweiflung durchlebt.
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behrens am 05.Jan 10
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Am deprimierendsten ist, daß es unter den Leuten, mit denen ich arbeite, fast niemanden gibt, dessen innerer Horizont sich erweitert hätte. Sie leiden auch nicht wirklich. Sie hassen, sie sind in bezug auf ihre eigene Person optimistisch verblendet, sie intrigieren und verteidigen ehrgeizig ihre Pöstchen, das Ganze ein riesiger Saustall, und es gibt Augenblicke, in denen ich meinen Kopf mutlos auf die Schreibmaschine legen und sagen möchte: Ich kann das nicht mehr aushalten. Gott bewahre mich vor einem: Laß mich nicht mit den Menschen in ein Lager kommen, mit denen ich hier täglich arbeite. Ich werde später hundert Satiren darüber schreiben können. "
In Bezug auf die Nazis und die drohende Deportation nach Ausschwitz :
Und das Komische ist: Ich fühle mich gar nicht in ihren Klauen, weder wenn ich bleibe, noch wenn ich abtransportiert werde. Ich finde das alles so klischeehaft und primitiv, ich kann diese Argumente überhaupt nicht verstehen, ich fühle mich in niemandes Klauen, ich fühle mich nur in Gottes Armen, um es mal pathetisch zu sagen, und ob ich nun hier an meinem mir so lieben und vertrauten Schreibtisch sitze oder ob ich nächsten Monat in einer armseligen Kammer im Judenviertel hause oder vielleicht im Arbeitslager unter SS-Bewachung stehe, ich werde mich überall und immer, glaube ich, in Gottes Armen fühlen. Man wird mich möglicherweise zugrunde richten, aber man wird mir nichts anhaben können. Vielleicht werde ich der Verzweiflung anheimfallen und Entbehrungen erdulden müssen, die ich mir in meinen düstersten Phantasien nicht vorstellen kann. Und doch ist das alles belanglos, gemessen an dem Gefühl endloser Weite und Gottesvertrauen und innerer Erlebnisfähigkeit.
Durch die ganzen Tagebücher von
Etty Hillesum zieht sich eine beeindruckende Gelassenheit dem Schicksal gegenüber. Eine hochgeistige Frau, die Leiden nicht nur als individuelles Schicksal sondern als historisches, ständig gegenwärtiges Phänomen empfindet. Und dann gibt es plötzlich Zeilen, in denen ihre Gelassenheit verschwindet und sie sich beklagt. Dies passiert, als sie eine Anstellung im Büro des jüdischen Rates erhält. Sie, die Slawistik- und Psychologiestudentin, deren große Leidenschaft Rainer Maria Rilke ist, findet sich plötzlich in einem Büro wieder. Und während Etty Hillesum in dem ganzen Tagebuch eigentlich nie polemisch wird, benutzt sie plötzlich Ausdrücke wie "Tippfräulein" oder "ordinäre Tippse".
Ich habe die verschiedenen Stellen wieder und wieder verglichen. Kann es tatsächlich sein, daß die Aussicht auf die Deportation in ein KZ, deren sich Etty Hillesum durchaus bewußt ist, als weniger schlimm empfunden wird als die alltägliche Situation in einem Büro? Anscheinend ja. Mag sein, daß die Probleme einer konkreten Situation immer schwieriger scheinen als die einer abstrakten in der Ferne liegenden, und sei letztere auch noch so entsetzlich. Dennoch mag man es nur schwer glauben. Wieso leidet Etty Hillesum so unter der Arbeit in einem Büro? Sind die Menschen dort wirklich so schrecklich? Ist ein tatsächliches Grauen weniger schlimm als die alltägliche Konfrontation mit Mittelmäßigkeit und Borniertheit? Für Etty Hillesum offensichtlich schon.
Ich kann Etty Hillesums Gelassenheit gegenüber dem Schicksal nicht nachempfinden und bin mir sicher, daß ich an ihrer Stelle Todesangst gehabt hätte. Aber ich kann ihre Abscheu gegen die Mittelmäßigkeit einiger Menschen nachempfinden. Es geht dabei um Menschen, die man weder in einer Fabrik noch auf einem Bauernhof findet. Die Arbeit dort ist viel zu anstrengend und kräftezehrend als daß man gekränkten Eitelkeiten viel Zeit widmen könnte. Dort sind die Menschen ehrlich und authentisch und wenn es Konflikte gibt, dann kracht und knallt es. Anders bei der Arbeit in einem Büro. Dort arbeiten Menschen, die sich ständig darüber beklagen, daß ihre hochwichtige und doch so anspruchsvolle Arbeit längst nicht angemessen anerkannt und grausam unterbezahlt sei. Menschen, die in völliger Selbstüberschätzung ihre klägliche Ausbildung als hochgeistige Aufgabe empfinden. Die in Bezug auf sich selbst unablässig davon sprechen, „hochqualifiziert“ zu sein und ein „hohes Niveau“ zu haben. Etty Hillesum hat dies vortrefflich ausgedrückt mit der Formulierung „in Bezug auf die eigene Person optimistisch verblendet“.
Ich bin Etty Hillesum unendlich dankbar für die Zeilen, die sie ihrer Arbeit im Büro gewidmet hat. Dankbar dafür, daß eine Frau, die aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit das Recht hat, Vergleiche anzustellen zwischen dem Grauen eines KZs und dem alltäglichen Grauen, ihrer Abscheu Ausdruck gegeben hat. Abscheu gegen das alltägliche Grauen, das Menschen in einer grenzenlosen Überwertung des eigenen Selbst und des eigenen Tuns veranstalten. Denn auch das kann grauenvoll sein – ständig nur um die eigene Situation und den eigenen Vorteil zu kreisen und zu allem Übel diesen Umstand auch noch ständig in andere hineinzuprojizieren, so daß völlig überflüssige Konflikte um völlig überflüssige Dinge entstehen, und hierdurch die Beschäftigung mit den wirklichen, viel wichtigeren Problemen verhindert wird.
Was Etty Hillesum hier treffend kritisiert hat ist eine Kritik an der Lebensphilosophie der Mittelmäßigkeit. Bei jedem anderen würde ich es als vermessen empfinden. Bei ihr nicht. Und man darf vor allem eines nicht vergessen – es ist die Lebensphilosophie der Mittelmäßigkeit, die Grauen wie die von Massenvernichtungen erst ermöglicht hat und auch wieder ermöglichen wird. Dummheit und Grauen gehören auf unheilbringende Art zusammen.
moeglichkeiten am 01.Feb 16
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Hallo,
ich habe Deine ausgewählten Zitate von Etty und Deine Gedanken dazu mit viel Interesse gelesen.
Als Du Situationen beschriebst, in denen das Leben unterbrochen wird (Fabrik, Büro, Fernsehen), musste ich herzhaft lachen - weil ich solche vielleicht etwas pauschalen Äußerungen und Gedanken von mir selber nur zu gut kenne und gleichzeitig weiß, dass dies der Realität doch nicht ganz gerecht wird, sie ist vielschichtiger, als es uns unser Ego, welches vereinfachen möchte, glauben macht.
Etty bestätigt mir, dass in jeder Situation, besonders in den zunächst unangenehmen Erfahrungen, ein Geschenk ausgepackt werden kann...
Zwar ist auch sie deutlich angenervt von der Situation im Judenrat und ihrer zweiwöchigen Arbeit dort, aber - ich glaube ganz sicher, dass ihre vermeintliche Ablehnung lediglich temporärer Natur ist. Dafür trägt sie einfach zuviel Liebe im Herzen.
Sie ist im Verstehen und im Verzeihen so dermaßen weit fortgeschritten, dass sie für uns, die wir staunend ihre Tagebücher und Briefe lesen, eine außergewöhnliche Lehrerin, eine Meisterin in der Kunst des Loslassens sein kann.
Unter anderem auch in der Kunst des Loslassens von Abwertungen verschiedenster Art. Abwertungen, die wir im Herzen tragen, haben immer eine gewisse Qualität von Enge, die uns davor schützen soll, unsere Verletzlichkeit zuzulassen, um wiederum den Schmerz nicht zu fühlen.
Aber Etty lässt ihre Verletzlichkeit zunehmend zu (vergl. ihre Gedanken nach der demütigen Situation vor der Apotheke).
Etty lehrt mich seit geraumer Zeit - Weite.
In dieser geistigen wie auch emotionalen und auch spirituellen Weite, die diese besondere Person verkörpert, zerschmilzt früher oder später jedweges Ressentiment.
Leichtigkeit kann dann entstehen, Akzeptanz und Mitgefühl für Andersdenkende.
Seit Deinem Eintrag sind über 6 Jahre vergangen, wie siehst Du heute dieses Thema?
behrens am 02.Feb 16
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Es stimmt, seit dem Beitrag sind mittlerweile sechs Jahre vergangen, und in dieser Zeit hat sich manches verändert und ich bin in meinem jetzigen beruflichen Umfeld mit anderen Menschen zusammen, die sehr viel besser für mich sind und dabei dem, was ich machen möchte und gelernt habe, sehr viel mehr entsprechen. Dieser zeitliche Abstand zu negativen Erlebnissen ist dabei ein wichtiger Aspekt für mich. Abstand macht das Verzeihen nicht nur leichter, manchmal ist eine zwingende Grundvoraussetzung dafür. Ich bewundere Ettys Fähigkeit zum Verzeihen, mache mir jedoch wenig Illusionen, dies so gut zu können wie sie.
Menschen, die Etty Hillesum sehr treffend beschreibt mit „
in Bezug auf ihre eigene Person optimistisch verblendet" sind diejenigen, die positiven Entwicklungen entgegenstehen und deren Ziele allein auf den persönlichen Vorteil ausgerichtet sind. Dies richtet nicht nur auf der persönlichen Ebene Schaden an, sondern auch auf der gesellschaftlichen. Auf rein persönlicher Ebene mag man sich für das Verzeihen entscheiden, um ein Loslassen zu ermöglichen. Auf der gesellschaftlichen Ebene ist es ungleich schwieriger, denn es geht nicht nur um das eigene Seelenheil, sondern auch das derjenigen, auf deren Kosten jene „optimistisch Verblendeten“ leben.
Wenn es etwas gibt, was man von Etty Hillesum lernen kann und sollte, dann ist es der Verzicht auf Hass im Eintreten für eine humanere Welt. Ich habe
hier ja auch schon über die RAF geschrieben, mit deren Hintergrund ich mich ebenfalls lange beschäftigt habe. Die RAF ist quasi das Gegenstück zu Etty Hillesum. Ein Kampf, der ursprünglich ein Kampf gegen Unrecht war, wandelte sich irgendwann selbst in Unrecht und übernahm erschreckend unreflektiert die gleiche Menschenverachtung, die er eigentlich bekämpfen wollte. Baader & Co hätten gut daran getan, sich Ettys Aufzeichnungen zu Gemüte zu führen.
behrens am 05.Jan 10
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Etty Hillesum bezeichnet die große Liebe ihres Lebens - Julius Spier - als den Geburtshelfer ihrer Seele. In ihren Tagebuchaufzeichnungen findet man das, was ich eigentlich für ein Phantasieprodukt halte: die Liebe in der vollkommenen Erkenntnis und Wertschätzung des Anderen. Liebe als Möglichkeit der gemeinsamen Weiterentwicklung.
Menschen, die nicht statisch leben wollen, sondern für die Leben Entwicklung heißt, können nur auf diese Art lieben. Alles andere ist grausame Fessel. Entsprechend ist auch ihre Einstellung zur Ehe: Ich finde den Gedanken ziemlich kindisch, daß man sein ganzes Leben lang nur einen einzigen Menschen lieben dürfe und sonst niemand. Darin ist etwas ganz Armseliges und Dürftiges.
Durch die ganzen Tagebuchaufzeichnungen ziehen sich die tiefen Gefühle für den Geliebten und die tiefe Wertschätzung.
Noch vor der Deportation ins KZ stirbt Ettys Geliebter.