Warum ich Günter Grass nicht mag – und was haben Berufsbetreuer und Günter Grass gemeinsam?
Im Alter von 12 habe ich das erste Mal Grass gelesen: „Örtlich betäubt“. War zwar quälerisch langweilig, aber der Sinn des Romans wurde von mir dennoch verstanden. Mit 14 dann im Deutschunterricht „Katz und Maus“, da habe ich gar nichts verstanden, was mir dann mein Restinteresse genommen hat. Vor einigen Jahren auf der Hochzeit meiner Nichte (liest genauso gern wie ich), zu der auch deren Deutschlehrer eingeladen war, packte ich dann die Gelegenheit am Schopf und fragte ihn, was denn bloß mit dieser Symbolik der „Maus“ gemeint war, die sich nervtötend durch das ganze Buch zog. Der Deutschlehrer betonte gleich, wie wichtig das Buch für ihn in der Pubertät gewesen sei, denn mit der „Maus“ (also dem Kehlkopf) sei die erwachende männliche Sexualität symbolhaft dargestellt worden. Nun, endlich war meine Wissenslücke beseitigt – meine Abneigung gegen Grass allerdings nicht.

Irgendwie habe ich schon (oder vielleicht auch gerade?) im Alter von 14 Jahren gespürt, daß Grass etwas Verlogenes hat. Beim „Häuten der Zwiebel“ wurde es dann öffentlich: Grass war als Jungerwachsener in der Waffen SS gewesen. Ganz deutlich: dies ist nicht das, was ich Grass vorwerfe! Ich empfinde es aber als ekelhaft, diesen Umstand bis pünktlich zum 80. Geburtstag zu verschweigen und die ganze Zeit moralisch entrüstet auf diejenigen zu zeigen, die mit den Nazis gemeinsame Sache gemacht haben. Anscheinend legt der (doch eigentlich atheistische?) Grass Wert darauf, den Skandal noch aktiv selbst zu beruhigen und nicht posthum seine Totenruhe durch Zerstörung seines Lebenswerks beschmuddeln zu lassen.

Von einem guten Schriftsteller erwarte ich kein moralisch einwandfreies Verhalten, dies wäre anmaßend (und utopisch). Aber Authentizität ist für ernstzunehmende Literatur unverzichtbar. Die moralischen Widrigkeiten gehören in die Öffentlichkeit und nicht in den Bereich des Vertuschten. Genau das hätte die Öffentlichkeit der Nachkriegsära dringend gebraucht: die Frage nach dem Warum und Wieso. Die Frage nach dem, was in Menschen geschieht, wenn der Einzelne einem übermächtigen System ausgesetzt ist. Dies hätte der Aufarbeitung der deutschen Geschichte mehr genützt als das ständige Outen von anderen Kolaborateuren. In diesem Zusammenhang fällt mir eine Stelle aus Erica Jongs autobiographischen „Angst vorm Fliegen“ ein. Sie lernt als jüdische Amerikanerin im Nachkriegsdeutschland einen ehemaligen Nazi kennen, der ganz deutlich sagt, daß ihm das ganze „wir haben von nichts gewußt“ gegen den Strich geht. Und er resümiert: die Deutschen hätten einfach nur ganz ehrlich sagen sollen „wir haben Hitler geliebt“. Das, was mir die Stelle so in Erinnerung bleiben läßt, ist die Reaktion der jüdischen Erica Jong, die sich mit ihm anfreundet, weil sie als Schriftstellerin Ehrlichkeit der Verlogenheit vorzieht. Und das hat Grass nie getan – was eine 14jährige anscheinend eher bemerkt als Literaturkritiker.

Was hat denn das alles um Himmelswillen schon wieder mit Berufsbetreuern zu tun?
Das Verbindende zwischen Grass und meinen Berufskollegen ist die Abneigung gegen das offene Aussprechen von Widrigkeiten und die Strategie des Vertuschens. Das beharrliche Festhalten daran, daß unser Bild in der Öffentlichkeit aalglatt und harmonisch sein muß. Das Tabuisieren von Defiziten und deren Übertuschen durch peinliche Außendarstellungen. Und das gedankenlose Vertun der besseren Möglichkeit: das Verbessern von Bedingungen und das Verändern von Mißständen. Genauso wie gute Schriftsteller die Aufgabe der Veränderung haben, haben dies auch gute Berufsbetreuer. Wird diese Aufgabe zugunsten eines guten Images vernachlässigt, dann wirkt der moralische Zeigefinger des Literaten genauso wie die PR-Aktionen der Berufsbetreuer unglaubwürdig.

Hätte man mich als 14jährige mit Berufsbetreuern bekannt gemacht, wäre ich vielleicht mit sicherem Gespür für die falsche Fassade genauso auf Abstand gegangen wie eben bei Günter Grass. Wie war das noch mal bei Salinger? Erwachsenwerden ist Verrat am Selbst....




Nochmals etwas zu dem Buch "Örtlich betäubt". Hier geht es um einen 68er Lehrer, dessen Schüler das tiefe Bedürfnis hat, die Menschen auf das Elend des Vietnamkriegs aufmerksam zu machen. Dieser Schüler spielt mit dem Gedanken, seinen Hund in einer Einkaufsstraße anzuzünden und dabei ein Schild zu placieren, auf dem steht "Dies ist kein Napalm". Der Schüler liebt seinen Hund, aber seine Verzweiflung über die Greul des Vietnamkriegs läßt in ihm diesen Enschluß reifen. Der Lehrer ist hin- und hergerissen zwischen Verständnis und Geschocktsein über die geplante Aktion.

Thema klingt eigentlich fesselnd - war es für mich aber nicht. Günter Grass hat aus einem - mir niemals verständlichem - Grund die ganze Thematik mit der Darstellung seiner Zahnbehandlung (!) verbunden. Im Alter von 17 Jahren habe ich eine Zeit lang in einem Zahnlabor gejobbt und da habe ich dann im Nachherein staunend bemerkt, wie originalgetreu und detalliert Grass alles geschildert hat. Man man dann über die Symbolik streiten. Vielleicht Zähne als Symbol des Wehrhaften und Starkem, nur in der Jugend voll Einsetzbaren, im Alter aber Verkümmernden. Aber muß man das so ausufernd schildern? Hat man wirklich das Recht, Leser so abgrundtief zu langweilen? Erwachsene ja, aber 12jährige haben da anscheinend andere Vorstellungen.

Zu früh geschämt
Ein weiteres Beispiel für Günter Grass' fast schon uhrwerkmäßig aufgezogenen moralischen Zeigefinger. Vor etlichen Jahren gab es einen Brand in einem Ausländerheim (Ort erinnere ich nicht mehr, war aber Norddeutschland). Noch bevor überhaupt Näheres geklärt war, gab es eine Demo. Allen voran natürlich Günter Grass. Als er interviewt wurde, kommentierte er (mit seinem unverwechselhaften intellektuellem Betroffenheits-Kämpfer-Blick): "Ich schäme mich". In den darauffolgenden Tagen stellte sich dann heraus, daß der Anschlag nicht ausländerfeindlicher Natur war, sondern durch einen im Haus lebenden Libanesen (es ging - wie fast immer - um eine Frage der Ehre) verübt worden war.

Tja Günter, zu früh geschämt. Schämen gewissermaßen als Prophylaxe. Ich finde nichts wichtiger, als gegen Rechtsradikalität Zeichen zu setzen - ich selbst bin natürlich auch schon auf Demos gegangen. Nur sind mir diejenigen, die diese Zeichen setzen, oft nicht ganz geheuer. Ich habe den Verdacht, daß es vielen nur um eigene "Altlasten" geht und nicht in erster Linie um ein echtes Gefühl. Mir waren die meisten Ausländerprojekte in den 80ern immer ein wenig suspekt. Denn die meisten der Mitwirkenden hatten privat überhaupt keinen Kontakt zu Ausländern. Ich habe mich solchen Initiativen immer ferngehalten - hatte aber immer schon sehr viel Kontakt zu Ausländern (bin übringens auch mit einem liiert). Vielleicht fehlt mir deswegen auch das in der Szene so beliebte Idealisieren und Aufdrücken des Opferstatus. Die Realität - und in der habe ich mich durch meine Kontakte befunden - straft nun mal konsequent jegliches Idealisieren Lüge.

Durch Zufall stoße ich gerade auf Ihren älteren Post zu Grass.
Verlogen? Nun ja, für die Person Grass selbst trifft das sicher zu.
In seinen Texten ist er ehrlicher: Ich las erst in den neunziger Jahren die "Blechtrommel" und "Katz und Maus" und war ziemlich überrascht. Ich kannte Grass aus den Medien als anerkannte moralische Instanz - und dagegen diese beiden Texte, die das Nazitum (treffend und sprachlich genial, wie ich finde) autobiografisch und von innen heraus schildern! Oskar Matzerath ist doch ein richtiger widerlicher kleiner Nazi, Mahlke (aus "Katz und Maus") der typische kriegsbegeisterte Jugendliche der Flakhelfergeneration und Pilenz (der Ich-Erzähler in "Katz und Maus") der Protoyp des Verdrängers, der seine Nazibegeisterung feige versteckt, indem er den heimlich bewunderten Mahlke hinterhältig tötet, als es mit dem Dritten Reich langsam zuende geht. Dass die Nazis nach 45 wenigstens mal die Klappe halten und ihre menschenfeindlichen Ideale eine Weile verleugnen mussten, wird als fieser Mord charakterisiert. So kann man es auch sehen. Vielleicht muss ein Grass so schreiben: nicht schön, aber treffend und schuldbewusst.
Interessanter finde ich die andere Seite: die Gesellschaft, die belogen sein will, die diesem Grass die Rolle eines moralischen Anklägers zuweist. Dass Grass diese Rolle öffentlich einnehmen konnte, ist mir unbegreiflich. Man kann ihn ehren für sein frühes Schuldbekenntnis - dieses Schuldbekenntnis aber umlügen in ein antifaschistisches Engagement, das ist offenbar nur möglich mithilfe bundesrepublikanischer Lebenslügen, die 1968, wie es scheint, gut überdauert haben.

Eben habe ich in Wikipedia eine Inhaltsangabe zu „Katz und Maus“ gelesen (hätte es diese Möglichkeit doch nur schon zu meiner Schulzeit gegeben…), aber es ist schon zu lange her, als dass ich jetzt ein Aha-Erlebnis haben könnte. Und nochmals das Buch lesen möchte ich auch nicht. Allerdings kann ich, trotz des langen Zeitraums, der seit dem Lesen des Buchs vergangen ist, erkennen, was für bedeutsame Metaphern Grass verwendete. Das letzte Versteck Mahlkes – nämlich das U-Boot, aus dem er einfach nicht mehr herausgeholt wird – symbolisiert ja im wahrsten Sinne des Wortes ein gezieltes „In der Versenkung verschwinden lassen“. Eben genau das, was mit dieser ganzen Zeit an sich passiert ist – man ließ sie auch einfach verschwinden.

Sie machen einen Unterschied zwischen den Büchern von Grass und ihm selbst und dies sollte man fairerweise auch tun, wenn man ihm gerecht werden will. Allerdings hat Grass die von der Gesellschaft zugewiesene Rolle auch dankbar angenommen. Ihre Formulierung bundesrepublikanischer Lebenslügen traf auf ihr Pendant, nämlich die persönliche Lebenslüge, so dass sich anscheinend zwei Formen der Lebenslügen gesucht und gefunden haben. Offenbar hatten wir einen großen Bedarf daran, dass es endlich ein personifiziertes schlechtes Gewissen gab in jener Zeit. Eine Zeit, die fast übergangslos von einer geschichtlichen Tragödie ins fröhliche Wirtschaftswunder wechselte. Man sah Heinz-Rühmann-Filme, hörte Schlager von Catarina Valente und las ungläubig die neuesten Zahlen über die rasant steigende Produktion. Da war keine Zeit für ein kollektives schlechtes Gewissen und jemand wie Grass kam wie gerufen.

Vor kurzem habe ich ein sehr interessantes Buch über die Generation der Kriegskinder gelesen. Das sehr spezifische an den Traumen, die diese Generation durchlebt hat, ist der Umstand, dass deren Aufarbeitung tabuisiert war. Die Deutschen hatten den Krieg verursacht und als Täter hatte man automatisch das Recht verloren, sich über sein Leiden zu beschweren. Man mag dem zustimmen oder auch nicht, es bleibt aber unbestritten, dass in einem Krieg ausnahmslos jeder leidet. Leiden ist nicht an Schuld oder Unschuld gebunden, und dies erst recht, wenn man noch gar nicht erwachsen war. Und so kam es, dass die große Wunde, die das Dritte Reich verursacht hatte ( individuell und gesellschaftlich), niemals die Chance eines Heilungsprozesses hatte, sondern einfach nur kaschiert wurde. Aber Wunden verheilen nun mal nicht dadurch, dass man sie einfach zudeckt.

Ich frage mich gerade, ob andere Gesellschaften genauso mit geschichtlichen Tragödien umgehen oder ob es ein typisch deutsches Problem ist.