Das sogenannte Exemplarische
Goethe bleibt insofern vorbildlich, als er vom Beginn bis zum Ende seiner Schriftstellerei das Persönliche (Individuell-Konkrete) mit dem Klassischen (Generell-Abstrakten) in – freilich sehr wechselnder Verbindung – hielt. Fast immer beschrieb er sein eigenen Leben, und manchmal gelang es ihm, einzelne Episoden ins Exemplarische zu heben. Von Sophokles’ persönlichen Problemen weiß man nichts, noch weniger von Homers und anderen der Alten, was allgemein als Vorteil empfunden wird, aber doch eigentlich zu bedauern ist. Die totale Trennung von persönlichem Leben und der aus diesem Leben geschaffenen Literatur hat etwas Antikes. Nur noch Objektivität und Allgemeinheit. Weil wir nichts von Sophokles wissen. Dabei gibt es bei ihm Szenen, in denen man sofort sieht, daß er sie selber geschrieben haben muß. Oder war auch das schon damals reine literarische Technik?

Du sollst nicht deinen Fall beschreiben, sondern ihn ins Exemplarische erheben. Du sollst aus deinem Fall einen Fall für alle machen. Du sollst aus deinem Fall ein Gesetz machen, und das kannst du nur, wenn dein Fall exemplarisch ist, und er ist es nur, wenn du lange genug über ihn nachgedacht hast. Die Literatur soll oder sollte in ihrer Thematik wie der Gesetzgeber die Regel finden für viele Fälle und in ihrer Beschreibung wie der Richter dem Einzigartigen gerecht werden.

Peter Noll (Diktate über Sterben und Tod)

Das Persönliche als das Exemplarische. Oder anders ausgedrückt: das Private als das Exemplarische. Und hier kann dann zutage kommen, was von vielen so gefürchtet wird: das Offensichtlich-Werden des Nicht-Authentischen. Vielleicht ist es das, was Kritik immer sofort im Keim ersticken läßt mit dem Einwand „Das ist jetzt aber persönlich!“ Man schafft eine künstliche Trennung zwischen Persönlichem und Öffentlichem. Leider nicht irgendwo, sondern grundsätzlich immer da, wo es heikel werden könnte. Da, wo Widersprüche sichtbar werden könnten. Da, wo das nach außen gekehrte Bild überhaupt nicht mit dem tatsächlichen Handeln übereinstimmt. Da, wo sich die Selbstinszenierung als Lüge erweist. Da, wo unter dem schönen Deckmantel von demokratischem und sozialem Handeln das häßlich diktatorische oder rein geschäftsmäßige Handeln hervorblitzt.

Es hätte mit Sicherheit niemand etwas dagegen, wenn man eine nette Episode aus dem Privatleben erzählen würde. Wenn man z.B. eine besonders engagierte Handlung wie eine Spende oder ein Hilfeleistung erwähnen würde. Und es hätte ebenfalls mit Sicherheit niemand etwas dagegen, wenn man z.B. ein „rein privates Beispiel“ dafür nennen würde, wie jemand besonders differenziert und emphatisch auf jemanden eingegangen wäre. Da wäre das Zitieren aus dem Privaten alles andere als unerwünscht. Aber eben nur da. In denjenigen Bereichen, in denen unangenehme Verhaltensweisen und Handlungen ans Tageslicht kommen würden, wird sofort in bekannter Manier ausgebremst mit dem Argument „das gehört hier nicht her!“

Apropos Goethe (zu dem ich übrigens nie einen Zugang finden konnte). Goethe hatte in seinen Romanen und Gedichten wie jeder andere Dichter nie Berührungsängste mit dem Tod. Anders im realen Leben. Als seine Frau Christiane Vulpius im Sterben lag, flüchtete er aus dem Zimmer, weil er das Schmerzensgeschrei nicht hören wollte. Der Tod auf der dichterischen Ebene ist eben doch etwas anderes als der ganz banale Tod im realen Leben. So ganz konsequent war also auch unser vielzitierter Dichterfürst nicht bei der Transformation des Individuell-Konkreten in das Generell-Abstrakte.