Akutes Leben – chronischer Tod
Wie ist es möglich, sich des Gedankens an den Tod zu entledigen und nicht zu denken, daß er uns jeden Augenblick am Kragen packen kann?...Nehmen wir dem Tod seine Fremdheit, praktizieren wir ihn, gewöhnen wir uns an ihn; nichts sollen wir so oft im Kopf haben wie den Tod in jedem Augenblick unserer Vorstellung und in allen Antlitzen...Es ist ungewiß, wo der Tod uns erwartet; erwarten wir ihn auf jeden Fall. Die überlegte Vorstellung (préméditation) des Todes ist die überlegte Vorstellung der Freiheit: wer gelernt hat zu sterben, hat verlernt, untertänig zu sein: es gibt kein Übel mehr für denjenigen, der gut begriffen hat, daß der Verlust des Lebens kein Übel ist: das Wissen, daß wir sterben, befreit uns von jeder Unterwerfung und jedem Zwang.

Diese Zeilen von Montaigne werden von Peter Noll in seinen „Diktaten über Sterben und Tod“ zitiert. Und gerade jetzt, wo ich dieses Buch lese, höre ich vom Mord an den beiden jungen deutschen Frauen im Jemen. In eine Dokumentation äußern sich Bekannte und Freunde über sie. Beide waren Studentinnen einer Bibelschule mit starkem Missionscharakter standen felsenfest in ihrem Glauben und aus diesem Glauben heraus haben beide ehrenamtlich in einem Krankenhaus im Jemen gearbeitet.

Die Frauen – 24 und 26 Jahre alt – wußten ohne Zweifel genau, auf welche Gefahr sie sich im Jemen einlassen. Die erste Reaktion ist die, daß man innerlich aufschreit, warum zwei engagierte Menschen so jung sterben mußten. Wenn ich aber an die Entscheidung von Peter Noll denke, eine lebensrettende Operation nicht durchführen zu lassen, weil er sich dann in die Abhängigkeit der Ärzte begeben und hierdurch zum Dauerpatient werden würde, dann sehe ich die Entscheidung der beiden jungen Frauen in einem anderen Licht. Es gibt Menschen, die ihr Leben nur ganz oder gar nicht leben können. Die keine Kompromisse wollen. Diese Sichtweise weicht ab von der gewohnten quantitativen Auffassung des Lebens. Ein erfülltes Leben kann nur ein langes Leben sein. Ist aber nicht gerade ein langes Leben manchmal eben nur ein halbes Leben? Sämtliche Entscheidungen an die Maxime des größtmöglichen Überlebens zu knüpfen? Wäre es eigentlich wirklich vermessen, wenn man in der Trauerrede für die beiden Frauen nicht auch von einem „erfüllten Leben“ sprechen würde, so wie man es üblicherweise nur bei alten Menschen tut?

Die meisten Menschen leben chronisch. Und manche eben akut.