Mittwoch, 9. Februar 2022
Opferranking - und weiter geht's
Welch merkwürdige Entwicklung das Opferranking nehmen kann, zeigt ein auf Whoopi Goldberg bezogener Artikel von Tsvi Sadan in "israel heute", in dem es um die Definition des Holocaust geht. Sadan lehnt die Definition des Holocaust-Gedenktags als Gedenken, das neben den Juden auch andere Minderheiten wie "Invaliden, Homosexuelle, Zigeuner, Christen usw." zu den Opfern zählt, ab. Dies sei nicht die Weise, wie Israel des Holocausts gedenkt. Seiner Ansicht nach hat eine Miteinbeziehung anderer Minderheiten dazu geführt, dass alles, was mit dem Holocaust zu tun hat, bedeutungslos wurde, so dass nun ein "Nazi" ein Jude sein kann, der in Hebron lebt, und ein "Jude" ein muslimischer Gefangener, der im "Konzentrationslager" Guantanamo Bay eingesperrt ist. Hierfür sieht er auch Hannah Arendts Theorie (Die Banalität des Bösen) mitverantwortlich, die er als eine Trivialisierung des Holocaust einstuft.

Hierzu könnte man sehr viel sagen und insbesondere das Werk Hannah Arendts ist zu komplex, um hier kurz abgehandelt zu werden. Tsvi Sadan steht mit seiner Einschätzung auch nicht allein da, auch der Schriftsteller Eli Wiesel forderte beim Gedenken an den Holocaust eine ausschließliche Konzentration auf Juden.

Wofür steht das befremdliche Gerangel um die Frage nach dem Opferstatus? Selbstverständlich ist der Holocaust aus jüdischer Sicht eine Tragödie für das jüdische Volk. Und es ist wichtig, diese Tragödie niemals in Vergessenheit geraten zu lassen. Aber für Behinderte, Roma, Sinti, Zeugen Jehovas, Homosexuelle stellte der Holocaust auch eine Tragödie dar. Wieso wird alles bedeutungslos, was mit dem Holocaust zu tun hat, nur weil auch andere Opfer der Tragödie wurden? Leitet sich Bedeutung erst aus alleiniger Opferschaft ab?

Was bei diesem Streit deutlich wird, ist der erschreckende Einfluss der Identitätspolitik. Die Zeit des großen Ideals von Gleichheit und universeller Solidarität ist vorbei, da es eben nicht mehr um jene großen Ideale geht, sondern um Abgrenzung und Kampf. Gegner statt Verbündete lautet die Devise. Ich glaube allerdings, dass dies im Grunde schon immer so war, aber erst jetzt sichtbar wird. Die Sichtbarkeit entsteht durch eine Entwicklung, in der es gar nicht mehr vorrangig um die Verbesserung der Situation von Minderheiten geht, sondern um einen schon pathologisch anmutenden Eifer, anderen Rassismus oder Sexismus nachzuweisen. Ähnlich wie in der Mc Carthy-Ära, in der jeder nachweisen musste, kein Kommunist zu sein. Oder aber auch in der Ära des Sozialismus, in der man wiederum das Gegenteil beweisen musste - nämlich kommunistische Linientreue. Und was eignet sich hierfür besser als der Hinweis auf die mangelnde Linientreue oder aber auf den vermeintlichen Rassismus anderer? Und dieser abstruse Eifer hat sich jetzt auf den Begriff des Opfers ausgeweitet, denn auch hier geht jetzt alles um den Nachweis der Zugehörigkeit zur Gruppe der Opfer. Opfer sind zwar viele, aber manche anscheinend mehr und andere weniger. Und darauf scheint es anzukommen.



Montag, 7. Februar 2022
Opferranking
"Im Holocaust geht es nicht um Rassismus, sondern um die Unmenschlichkeit des Menschen gegen den Menschen - das sind zwei weiße Gruppen von Menschen (these are two white groups of people)".

Diese in einer Fernsehdiskussion gemachte Aussage Whoopi Goldbergs hat zu einem Eklat geführt, der - wie sollte es anders sein - mit ihrer (vorerst befristeten) Verbannung aus den öffentlichen Medien verbunden ist. Wobei geht es hier eigentlich? Auf den ersten Blick geht es um die unselige Cancel Culture, die erbarmungslos jeden, der gegen Political Correctness zu verstoßen scheint, aus der Gemeinschaft ausschließt und eine Diskussion strikt unterbindet. Der zweite Blick allerdings offenbart den erbärmlichen Umgang mit dem Begriff des Opfers. Es geht nicht mehr um die Lösung gesellschaftlicher Missstände, sondern nur um deren Plakatierung. Polarisierung statt Solidarität. Die Folge ist ein groteskes Opferranking, das an Absurdität nicht zu überbieten ist.

Erst einmal die Fakten:

Der Begriff Holocaust steht für Katastrophe und Zerstörung. Zu den Opfern dieser Vernichtung gehörten auch Behinderte, Geistliche beider Konfessionen, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Mitglieder oppositioneller Parteien und sogenannte "Asoziale". Die Verfolgung und Ermordung dieser Menschen ist demnach keine alleinige Folge von Rassenideologien, sondern von ebenso menschenverachtenden Kategorien wie Volksfeinde, Volksschädlinge, unwertes Leben. Juden wurden hingegen ausschließlich verfolgt aufgrund einer abstrusen, menschenverachtenden pseudowissenschaftlichen Ideologie der Einteilung in Herrenrasse und Untermenschen. Hierzu gab es nachweislich ganze Kataloge von vermeintlichen Rassemerkmalen in denen Nasenformen, Haarstruktur, Augenfarbe etc. akribisch aufgelistet wurden.

Fazit: Zum einen gehören zu den Opfern des Holocaust nicht nur Menschen, die aufgrund ihrer vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer Rasse vernichtet wurden. Zum anderen ist der Holocaust dennoch untrennbar mit Rassismus verbunden.

Bei dem ganzen Vorfall stellen sich zwei spannende Fragen: Warum war für Whoopi Goldberg die Betonung wichtig, im Holocaust ginge es nicht um Rassismus, sondern um Unmenschlichkeit? Und warum löst dies eine Welle der Empörung aus, in der wiederum von jüdischer Seite der Vorwurf der Bagatellisierung des Holocaust erhoben wird?

Die Verwendung des Begriffs Rassismus ist anscheinend mit einem Exklusivrecht verbunden, so wie dies bei akademischen Titeln der Fall ist. Nur derjenige darf als Doktor bezeichnet werden, dem dieser Titel auch nachweislich nach den geltenden Kriterien zuerkannt wurde. Für Whoopi Goldberg steht fest, dass das Kriterium Rassismus nur dann zutrifft, wenn es um Schwarze als Opfer geht und die Täter weiß sind. Sie stellt allerdings das durch den Holocaust verursachte Leiden weder in Frage noch bagatellisiert sie es. Aber sie betont den Unterschied zwischen rassistisch und unmenschlich. Ist Rassismus und Unmenschlichkeit denn nicht das Gleiche? Fühlt sie als Schwarze ihrerseits den Begriff des Rassismus geschmälert, wenn dieser nicht nur Schwarze betreffen kann?

Aber die Reaktion der Öffentlichkeit macht ähnliche Bedenken deutlich. Es wird als Angriff auf die Juden gewertet, dass die Schrecken des Holocaust nicht als Folge des Rassismus, sondern als Folge von Unmenschlichkeit eingestuft werden. Ist Unmenschlichkeit denn weniger schlimm als Rassismus? Wird das Leiden der Juden geschmälert, wenn die Ursache nicht in Rassismus, sondern in Unmenschlichkeit gesehen wird? Muss jemand wegen so einer Aussage tatsächlich seinen Job (sogar den jüdischen Namen!!) verlieren und sollte möglichst nie wieder in der Öffentlichkeit auftreten dürfen?

Fakt ist, dass auch Menschen mit weißer Haut und hellem Haar Opfer von Rassismus werden können, wenn die zugrundeliegende Rasseideologie die entsprechenden fragwürdigen Kriterien (z.B. Abstammung, Zugehörigkeit) beinhaltet. Fakt ist, dass der Holocaust in jeder Hinsicht eine Bankrotterklärung der Menschlichkeit und ein Rückfall in tiefste Abgründe der Barbarei darstellt.

Was bleibt ist die Erkenntnis, dass der Begriff des Rassismus dringend neu definiert werden muss. Probleme lassen sich nur durch Dialog lösen und nicht durch Canceln. Was ist nur passiert, dass die Kultur des Dialogs verschwunden und der Reaktion des öffentlichen Rachefeldzugs gewichen ist? Anzeigen, anprangern, ausgrenzen, strafen - fällt uns wirklich nichts anderes mehr ein? Spaltung und Abgrenzung als Weg zum friedlichen Zusammenleben? Aber das ist wahrscheinlich genau der Punkt, die meisten Menschen scheinen weitaus mehr Interesse am Kampf gegeneinander als am Kampf miteinander zu haben. Neu ist das nicht.

Ich persönlich werde mich nicht am Opferranking beteiligen. Es geht nicht um das, was Menschen voneinander trennt, sondern um die gemeinsame Erfahrung der Unmenschlichkeit. Identitätspolitik führt genauso in eine Sackgasse wie das zwanghafte Bestreben, jeden, der eine abweichende oder kritische Ansicht vertritt, als Rassist, Antisemit oder Sexist zu brandmarken.



Mittwoch, 5. Januar 2022
Das Bonmot zum Nachmittag
Glaube bedeutet vierundzwanzig Stunden Zweifel und eine Minute Hoffnung

Aus dem Film "Les innocentes" von Anne Fontaine