Man sollte sich keine dämlichen Videos ansehen, aber irgendwie passiert es mir ab und zu doch mal. Bei youtube grassiert ein Video, in dem ein Sohn seinem Vater vor laufender Kamera erzählt, dass er schwul ist und eine Beziehung zu einem Mann hat. Daraufhin bekommt der Vater einen Wutanfall und ohrfeigt seinen Sohn etliche Male. Aber – wie sollte es anders sein – alles stellt sich als lustiger Scherz heraus, denn selbstverständlich ist Sohnemann nicht schwul.
Die Entrüstung über dieses Video führt zu einem zweiten mit dem Titel „Statement zum gay prank“, in welchem besagter Vater betont, dass er natürlich überhaupt nichts gegen Schwule habe – nur eben nicht in der eigenen Familie. Sohnemann versteht die Welt nicht mehr, denn alles ist doch nur eine superwitzige Verarschung, wie kann man denn nur so humorlos sein?
Wäre es auch Humor, wenn ein deutscher Vater seinen Sohn wutentbrannt ohrfeigt, nachdem dieser ihm von seiner Beziehung zu einer Türkin erzählte und dies dann anschließend als ach-so-komische Verarschung geoutet wird?
So mancher rät dazu, derartige Einstellungen einfach zu ignorieren. Angesichts der Dämlichkeit dieser zwei Protagonisten mag dieser Ratschlag angemessen erscheinen. Aber Dämlichkeit kann leicht gefährlich werden. Wir hatten einmal eine Zeit, in der Schwule den sogenannten „Rosa Winkel“ tragen mussten. Ich war sehr glücklich darüber, dass sich an Situation Homosexueller vieles verbessert hat. Dieser Fortschritt – denn es ist ein Fortschritt – trifft bei manchen Bevölkerungsgruppen auf Unverständnis. Mich erschreckt die Ignoranz dieser gefährlichen Entwicklung, die stets damit begründet wird, Homophobie ist durch und durch unabhängig vom kulturellen Hintergrund. Dass dies nicht der Fall ist, kann man leicht recherchieren, indem man nachliest, in welchen Kulturen Homosexualität unter Strafe – manchmal sogar Todesstrafe – gestellt wird. Ja, natürlich ist keine Gesellschaft völlig frei von homophoben Gruppen. Aber dennoch gibt es immense kulturelle Unterschiede, die realen Möglichkeiten betreffend, seine Homosexualität offen und frei zu leben.
Manchmal stelle ich mir vor, wie wohl mein Großvater auf die jetzige Zeit reagieren würde, wenn er heute im Jahr 2016 plötzlich wieder zum Leben erwachte. Wenn er beispielsweise in einem Bus sitzen würde, in dem neunzig Prozent der Fahrgäste hochkonzentriert in ihr Handinneres blicken. Oder wenn ihm jemand gegenüber säße, der plötzlich aus heiterem Himmel anfängt zu reden und zwar ohne jeglichen Gesprächspartner. Und was würde mein Großvater empfinden, wenn auf einem Familienfest immer wieder eines der Familienmitglieder plötzlich mitten im Gespräch für eine kurze Zeit verschwindet, weil sich irgendetwas in der Hosentasche befindet, das anscheinend irgendein Signal sendet auf das umgehend reagiert werden muss?
Was wäre die Reaktion meines Großvaters, wenn man abends nicht mehr wie üblich gemeinsam eine Fernsehsendung ansehen oder ein Brettspiel spielen würde, sondern stattdessen jeder gebannt in ein kleines Gerät schaute, auf das er gleichzeitig hochkonzentriert in Windeseile mit den Fingerspitzen tippen würde? Was würde mein Opa davon halten, wenn jemand mit Stöpseln im Ohr auf das kleine geheimnisvolle Gerät schaut und sich dabei angeregt unterhält?
Ich glaube, mein Großvater verstände die Welt nicht mehr. Wodurch er sich von mir als seiner Enkelin gar nicht wesentlich unterscheiden würde. Menschliche Kommunikation ist inzwischen zur Karikatur geworden.
Die Generation Smartphone befindet sich überall – nur nicht in der konkreten Situation mit ihren real vorhandenen Menschen. Diese sind zur verzichtbaren Nebensache degradiert und der menschliche Geist hat sich klammheimlich aus der analogen Realität verabschiedet, irgendwo in der digitalen Diaspora, wo er mit anderen ebenfalls nur digital vorhandenen Geschöpfen kommuniziert. Wobei der Ausdruck menschlicher Geist im Grunde gar nicht mehr gerechtfertigt ist. Denn Geist kann nicht getrennt werden vom Denken und von sinnhafter menschlicher Sprache. Und von Denken und Sinnhaftigkeit kann man mit Sicherheit nicht mehr sprechen angesichts der unzähligen *lol*, *grins*, *omg*, ;-), :-( etc.
Um auf meinen Großvater zurückzukommen – er würde wahrscheinlich nur verständnislos den Kopf schütteln und es nicht bedauern, diese Zeit nicht mehr miterlebt zu haben.
Übrigens: Als mein Opa in den Sechzigern das erste Mal einen Anruf erhielt, hörte er nichts, da er den Hörer verkehrt herum – also die Sprechmuschel anstatt die Hörmuschel – ans Ohr hielt. Ein eigenes
Telefon hat er auch zeitlebens nie für notwendig gehalten, das Telefon seines im Untergeschoss wohnenden Sohnes reichte völlig aus für die ein- bis zwei Telefonate, die er im Jahr führte und die nie mehr als ein paar Minuten Minuten dauerten.