Eine These, die zum Nachdenken anregt
“Überhaupt ist zu beobachten, daß die verführerische westliche Lebensart mit ihrem gepflegten Hedonismus und materialistisch praktizierten Atheismus bei den Kindern muslimischer Einwanderer innerhalb weniger Jahre schafft, was christlichen Missionaren über Jahrzehnte nicht gelungen war: junge Muslime ihrer Religion zu entfremden und ihnen diese als Fortschritthemmnis erscheinen zu lassen."
Murat Wilfried Hofmann aus „Der Islam als Alternative“
Bin gestern beim Stöbern in Wikiquote auf diesen Satz gestoßen, der mich zum Nachdenken angeregt hat. Der Satz ähnelt einem Gedanken, den ich auch schon in Bezug auf Situation der Tibeter hatte. Solange die Chinesen versucht haben, den Tibetern ihre Religion mit Gewalt zu nehmen, hat dies das genaue Gegenteil bewirkt und die Tibeter haben an ihrer Religion noch viel überzeugter festgehalten. Seit einigen Jahren gibt es aber eine andere Strategie, denn es wird einfach ein Stück westliche Welt in Tibet angesiedelt, die wahrscheinlich ihre Wirkung auf die Jugendlichen nicht verfehlt. Westliche Pop- und Rockmusik und Jeans scheinen etwas Magisches an sich zu haben. Etwas, was alles Traditionelle hoffnungslos überflüssig und lächerlich wirken lässt. Wer will schon in der Schaffelljacke herumlaufen, wenn die anderen Jeansjacken von Lee oder Lewis tragen? Wer will schon den monotonen Hirtenliedern lauschen, wenn nebenan Rap oder Hip-Hop gespielt wird?
Gestern und heute wurden die Sendungen „Die wilden Siebziger“ wiederholt, die ich mir natürlich angesehen habe. Daniel Cohn-Bendit kommentierte die Demonstrationen anlässlich des Vietnamkriegs mit der Bemerkung, dass diese eine Wende darstellten im Verhältnis zu Amerika, denn es war das erste Mal, dass die Übermacht und die Überlegenheit Amerikas angezweifelt wurde. Plötzlich wurde der Freund, der den hungernden Nachkriegsdeutschen Carepakete geschickt hatte zum Feind, der sich überall mit einem Herrschaftsanspruch breitmacht.
Diese beiden Positionen geben ein merkwürdiges Kontrastprogramm ab. Auf der einen Seite macht sich die amerikanische Lebensart mit ihren Shoppingcentern, Fernsehserien und ihrer allgegenwärtigen Lust am Oberflächlichen bis in die letzten Winkel der Erde breit. Auf der anderen Seite gab es durchaus auch mal eine Epoche, in der ein heftiger Überdruss gegen den amerikanischen Vormachtsanspruch bestand. Anscheinend ist der aber irgendwie versandet. In den islamischen Ländern ist dieser Überdruss jetzt plötzlich wieder aufgetaucht.
Zurück zu Murat Wilfried Hofmann. Auch wenn man mit seinem Bekenntnis zum Islam nicht übereinstimmt, so kann man dennoch nicht abstreiten, dass seine These zutrifft. Eine Religion mit einer anderen Religion zu bekämpfen – der Ausdruck „bekämpfen“ drückt schon aus, worum es geht – ist in der Tat nur bedingt erfolgreich. Die westliche Lebensart jedoch hat einen ungetrübten Siegeszug angetreten. Ich habe nun schon so einige Länder bereist und es war kein einziges Land dabei, das frei von amerikanischem Einfluss war. Überall MC-Donalds und Coca Cola. Überall Westfernsehen und westliche Kleidung. Manchmal durchaus in friedlichen Nebeneinander mit den jeweils landesüblichen Pendants. Auf Bali beispielsweise tragen die Jugendlichen sowohl Jeans als auch den traditionellen Sarong und gehen sowohl in die Disco als auch in den Tempel. Trinken Coca Cola genauso gern wie Kokosnussmilch. Aber es gibt eben keine Jugendlichen, die gänzlich ohne die Westversion auskommen.
Was ist es nur, dass diese Lebensart so erfolgreich macht?
Authentizität und Erfolg
Vor kurzem habe ich ein wenig in eine Dokumentation über Madonna hineingezappt. Ein bisschen später habe ich einen Teil der Aufzeichnung eines Auftritts von Amy Winehouse angesehen. Ein anschaulicheres und deutlicheres Beispiel für den Kontrast von Authentizität und Nichtauthentizität hätte man nicht haben können.
Ich mochte Madonna noch nie und habe es nie auch nur ansatzweise nachempfinden können, was man an ihrer Micky-Mouse-Stimme finden kann. Es gibt durchaus Lieder, die man im Auto vielleicht mal unbewusst mitsummt – wie das bei eingängigen Melodien nun mal der Fall ist. Viele – auch gerade junge Frauen – sind beeindruckt von den Bühnenshows, die Madonna inszeniert. Aber auch das kann ich überhaupt nicht nachempfinden. Jeder Tanzschritt genau festgelegt. Jede Geste und Mimik exakt einstudiert. Kostümwechsel und Beleuchtung – alles ein minuziös geplanter Ablauf.
Und dann Amy Winehouse. Eine Stimme, die direkt unter die Haut geht. Da ich mich so gut wie gar nicht mehr für aktuelle Musik interessiere, bin ich erst sehr spät auf Amy Winehouse aufmerksam geworden. Irgendwann habe ich mir ein YouTube Video angesehen, weil ich doch mal neugierig war. Und als ich die Stimme hörte, war es sofort um mich geschehen. Ich bin ein ausgesprochener Stimmenmensch, das heißt, eine Stimme kann mich sehr beeindrucken und auch sehr abstoßen.
Auf der einen Seite eine show, die in ihrer Perfektion und minuziöser Durchführung an den Ablauf einer Militärparade erinnert. Auf der anderen Seite eine show, bei der es reine Glücksache ist, ob sie überhaupt stattfindet oder aber gleich ins Wasser fällt. Bei der man nie sicher sein kann, ob es in einem Debakel endet oder in einem Glanzstück. Auf der einen Seite die immer perfekt durchgestylte und durchtrainierte Madonna, deren shows ein Musterbeispiel an Perfektion darstellen. Auf der anderen Seite die mit merkwürdigen tattoos und zerzauster Bienenkorbfrisur verzierte Amy, die oftmals lallend über die Bühne torkelte.
Madonna symbolisiert ein wenig den amerikanischen Traum. Schaut her, was für Wunder man mit Disziplin und eisernem Willen alles erreichen kann! Sich nie gehen lassen, seine Leben voll und ganz der Planung von Erfolg widmen. Selbst mit 52 Jahren noch gut aussehen und über die Bühne wirbeln wie ein Teenager. Und als Markenzeichen dabei immer wieder in eine andere Rolle schlüpfen.
Amys Stimme und Leben erinnert an das von Janis Joplin. Bei beiden verkörpert die Musik weitaus mehr als nur Musik. In den Liedern schwingen all die Gefühlswelten die ein Leben ausmachen – Leiden, Wut, Glück, Liebe, Zweifel, Trauer. Eine Authentizität, die manchmal schon fast an die Schmerzgrenze gehen kann. Bei Madonna dagegen ist nichts authentisch, in ihren unzähligen Selbstinszenierungen ist ihre Authentizität irgendwie abhanden gekommen. Ein bisschen merkwürdig ist es schon, dass man damit soviel Erfolg haben kann.
Der himmelweite Unterschied zwischen Lehrer und Oberlehrer
Um ein gleich vorab zu sagen – ich habe mit Lehrern überwiegend gute Erfahrungen gemacht. Nicht unbedingt in der Grundschule, aber später auf dem Gymnasium und auf der Fachoberschule. Bei den meisten handelte es sich hauptsächlich um junge Lehrer, die mit viel Idealismus und Spaß an ihr Werk gingen und dabei viel frischen Wind an die Schule brachten – immer dem Prinzip folgend, dass Lehren heißt, die Individualität und die Selbstbestimmtheit eines Schülers zu achten und zu fördern. Lehrer, die fernab von Dogmatik an den Grundsatz glaubten, dass viele Meinungen gleichberechtigt nebeneinander bestehen können.
Und das ist er dann auch schon – der riesengroße Unterschied zum Oberlehrer. Der ist nämlich zutiefst davon überzeugt, dass es nur eine Wahrheit gibt und das ist selbstverständlich die, die von ihm selbst vertreten wird. Der Oberlehrer reagiert mit Unverständnis darauf, dass es Menschen wagen, eine völlig andere Meinung als die seine zu vertreten. Und da es nur eine Wahrheit gibt – nämlich die von ihm vertretene – braucht er die Einteilung in richtig und falsch. Und weil diese Einteilung für ihn so wichtig ist, braucht er wiederum Schubladen, in die er all die verschiedenen Meinungen einsortiert. Ein buntes Nebeneinander gibt es bei ihm nicht, er will seinen Kategorien gemäß zuordnen, damit er am Ende das vorfindet, was ihm so wichtig ist: die Bestätigung der Richtigkeit seiner Ansichten.
Der eigentliche Unterschied zwischen Lehrer und Oberlehrer ist, dass ein Oberlehrer nicht lehren will, sondern be-lehren. Sein Ziel ist kein anderes als die uneingeschränkte Zustimmung. Ganz anders als ein Lehrer, der Spaß am Lehren hat, weil er es als spannend empfindet, was sich in den Köpfen der Schüler abspielt. Dieser Typus wird treffend dargestellt durch den Lehrer Mr. Keating in dem Film „Der Club der toten Dichter“. Mr. Keating antwortet auf die Frage, warum er Lehrer geworden sei, schlicht und einfach: „I like teaching“. Und damit ist gemeint, jungen Menschen dabei zu helfen, sich selbst ein Bild von der Welt zu machen und dementsprechend den eigenen Weg (nicht zwangsläufig den von Mr. Keating!) zu finden.
Im Gegensatz dazu erinnert der Oberlehrer viel mehr an den Typus des Gymnasialprofessors Crey - genannt Schnauz - aus dem Film „Die Feuerzangenbowle“, der mit Vorliebe auf sich selbst als Quelle hinweist. Ob's gefällt oder nicht - er läßt keine Gelegenheit aus, aus seinem Buch „Die Gerechtigkeit des Lehrers“ zu zitieren, da er sein Buch für eine Art Bibel hält. Ein weiteres Merkmal des Oberlehrers ist, dass er ungeachtet der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit weder französisch noch lateinisch spricht, mit Vorliebe französische Bonmots oder lateinische Sprichwörter zitiert.
Mit Andersdenkenden geht der Oberlehrer nicht gerade zimperlich um und lässt dabei schon mal – obwohl er für sich selbst ein hohes Niveau in Anspruch nimmt – sowohl Respekt als auch Differenziertheit vermissen. Was allerdings nicht bedeutet, dass er anderen dieses Recht auch zugesteht. Im Gegenteil – hochbeleidigt reagiert er so, als würde es sich um eine Menschenrechtsverletzung handeln.
Ach ja – es ist ein Kreuz mit den Oberlehrern. Und deswegen bin ich auch froh, dass mir diese Spezies nach der Grundschule erspart geblieben ist. Allerdings ist ein Zusammentreffen im Leben nach der Schule trotzdem unvermeidlich. Insbesondere bei bestimmten politischen Seminaren – in die man anfangs naiv stolpert – ist der Oberlehrer wieder mit Leib und Seele dabei. Aber auch in Diskussionen, Foren und in Blogs taucht er immer wieder auf. Und nach bekannter Manier wird ohne Wenn-und-Aber jedes Argument niedergemacht, das der von ihm als Wahrheit angesehen Theorie scheinbar widerspricht. Man fühlt sich wieder an die Grundschule erinnert, in dem man stur Gedichte, Geschichtszahlen oder die zehn Gebote auswendig lernen musste – nur dass es sich jetzt eben nicht um Gedichte, Zahlen oder Gebote handelt, sondern um politische Glaubenssysteme. Und das Merkwürdige – aber wiederum auch völlig Logische – ist, dass sich die Oberlehrer trotz vermeidlich völlig konträrer Glaubenssysteme zum Verwechseln ähnlich sind. Im Grund könnten beide – Jobsharing machen!