Montag, 6. Dezember 2010
Der Normalfall und die Ausnahme
„Es geht auch anders, aber so geht es auch“, singt Mackie Messer in der Zuhälterballade der Dreigroschenoper. Bin gerade von einem mehrtägigen Seminar wiedergekommen. Und dabei bin ich wieder daran erinnert worden, dass es auch ganz, ganz anders geht als das, was als "das Normale" angesehen wird.

Es wurde nicht über Geldanlage gesprochen. Nicht über Gewinnmaximierung. Auch nicht darüber, wie man es anstellt, einen guten Eindruck zu machen. Niemand drohte damit, andere zusammenzufalten. Keiner machte prollige dumpfe Sprüche, die unter die Gürtellinie zielen. Und niemand projizierte die eigenen Fehler in andere hinein. Es gab weder Alphamännchen die kommandieren, noch Betamännchen, die sich kommandieren lassen.

Es war einfach „normal“. Aber eigentlich auch wieder nicht, denn das war nicht der Normalfall. Der Normalfall ist der des Alltäglichen und das Alltägliche ist genau andersherum. Das Alltägliche ist angefüllt mit Überflüssigem und Nutzlosem. Mit Zeitverschwendung. Denn es ist verschwendete Zeit, sich pausenlos über Geld und dessen Maximierung Gedanken zu machen, wenn man schon längst genug davon hat. Und es ist vollkommen überflüssig, sich darüber Gedanken zu machen, wie man sich besser darstellt, als man tatsächlich ist.

Es ist die Ausnahme, mit Menschen Zeit zu verbringen, die ganz andere Dinge als wichtig empfinden. Menschen, die etwas verändern und nicht stillstehen wollen und dazu etwas über sich und andere Menschen erfahren wollen.

Mein Alltag entspricht dem „Aber so geht es auch“. Ein Kompromiss zwischen dem, was man will und dem, was man angeboten bekommt – mit starker Tendenz zu letzterem.

Und das ist meist das Fazit, das ich aus meinen Seminaren ziehe: „Es geht auch anders“. Man kann das Überflüssige auch einfach weglassen. Und sucht sich dazu Menschen, die auch keine Lust auf Überflüssiges, sondern auf Wesentliches haben. Endlich mal wieder tief durchatmen anstatt zu hecheln.

In der seltenen Ausnahmesituation auftanken um den ständigen Normalfall durchzustehen. Umgekehrt wär's leichter. Doch wie Mackie Messer schon festgestellt hat: "Aber so geht es auch".



Montag, 29. November 2010
Stille, Langsamkeit und Tiefe
Vor ein paar Tagen habe ich den Film „Stilles Licht“ angesehen. Ein durch und durch ungewöhnlicher Film, der einer kleinen mennonitischen Gemeinschaft in Mexiko spielt. Der Film wurde untertitelt, da nur in „Plautdietsch“ gesprochen wurde. Ein merkwürdig anmutender Dialekt, der mich ein bisschen an unser norddeutsches Plattdeutsch erinnerte. Aber gesprochen wurde eigentlich gar nicht viel im Film. Die endlos langen Kameraeinstellungen waren mitunter fast schon anstrengend.

Die Handlung des Films ist schnell erzählt. Johan, der mit seiner Frau Esther und seinen sechs Kindern zusammenlebt, hat sich in Marianne verliebt, was für alle drei ist mit sehr viel Leid verbunden ist. Als Ester stirbt, will Marianne sich am offenen Sarg verabschieden. Und dann wird der bisher völlig realistische Film phantastisch und Ester erwacht wieder zum Leben. Ich empfinde die plötzliche Wende zum Phantastischen als etwas sehr Typisches für lateinamerikanische Literatur oder Filme, die sich oft unserem Gebot der Logik und Erklärbarkeit entziehen.

Was mich an diesem Film so beeindruckt hat, sind zum einen die kargen Dialoge. Wenn nur das Wesentliche gesagt wird und alles andere weggelassen wird, dann entsteht eine merkwürdige Intensität, die man in unserer Zeit, in der eine Invasion von Geplapper und Geschwätz herrscht, gar nicht mehr kennt. Der Film gab einen Einblick in eine archaische Welt, die von Arbeit, Glaube und Gemeinschaft bestimmt ist und in der es noch keine Unterhaltungskultur gibt.

Aber neben den ungewöhnlich kargen Dialogen hat mich etwas anderes noch mehr beeindruckt. Der tiefe Respekt vor dem Phänomen Liebe. Genauso, wie die Dialoge im Film frei vom Unwesentlichen sind, wird auch Liebe nur als das gezeigt, was es ist – eine immer noch unerklärliche Naturgewalt. Frei von dem, was der Mensch meist draus macht. Jenseits von zuckersüßer Inszenierung und auch fern von nüchterner psychologischer Analyse. Weit entfernt von der üblichen ordinären Banalität und von materialistischer Zweckgemeinschaft. Was bleibt, wenn man all dies weglässt, ist die Urgewalt Liebe. Schnörkellos, unerklärlich, jenseits von Gut und Böse.

In der Schlussszene wird langsam ein Sonnenuntergang gezeigt. Und während das Licht der Sonne immer mehr verschwindet, tauchen nach und nach die ersten Sterne am Himmel auf. Zuerst blass und vereinzelt, dann immer stärker leuchtend und zahlreicher, so dass aus dem Himmel schließlich ein funkelndes Sternenzelt wird. Die Unendlichkeit und Unergründlichkeit des Alls kann erst dann sichtbar werden, wenn das Tageslicht verloschen ist. Erst die Dunkelheit ermöglicht den Blick für die Existenz des fernen Lichts und für die unendliche Weite.

In einer Zeit, in der man von einer Kultur des Überflüssigen sprechen kann, in der Respektlosigkeit die Regel ist und in der es mittlerweile kaum noch etwas gibt, das nicht zur Banalität gemacht wird, wirkt dieser Film seltsam unpassend. Und ein bisschen wie eine Erinnerung an etwas, das man schon fast vergessen hat.



Mittwoch, 24. November 2010
The roaring seventies – Ideologien und Wendehälse
„Die letzen 30 Jahre“ – weil’s so schön wehtut, habe ich mir diesen Film jetzt ein zweites Mal angesehen. Anscheinend sind Wendehälse mein Thema. Im Film geht es um zwei grundsätzlich verschiedene Menschen – Resa, die „um der Gerechtigkeit Willen“ Jura studiert und Oskar, der um „der Gerechtigkeit Willen“ Schulungen in Marxismus gibt, bei den Roten Zellen mitarbeitet und mit der RAF sympathisiert.

Das waren sie auch schon, die Ähnlichkeiten. Zwei Menschen, die der Meinung sind, das Gleiche zu tun und zwischen denen in der Wirklichkeit Welten liegen. Denn nur einem der beiden geht es wirklich um Gerechtigkeit – dem anderen geht es in Wahrheit nur um eines: um Macht. Während sich bei Oskar alles darum dreht, diejenigen zu bekämpfen, die für ihn die Macht verkörpern, die er selbst (noch) nicht hat, geht es Resa darum, für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu kämpfen.

Und wie es dann so kommt im Leben – letztendlich ist es Oskar, der Karriere macht. Er ist immer noch ein großer Kämpfer – allerdings jetzt nur noch für sich selbst. Irgendwann ist das von den Eltern bezahlte Studium beendet und dann ist der Weg offen, um selbst an die Macht zu kommen. Und dann wird klammheimlich die Seite gewechselt. Allerdings nicht, ohne immer wieder zu beteuern, dass man „immer noch der Alte“ geblieben ist. Reza hingegen geht ihren Weg der kleinen Schritte und vertritt Umweltschutzorganisationen.

Die Charaktere der beiden Protagonisten mögen für manche überzeichnet und unrealistisch wirken – wer die 70er bewusst miterlebt hat weiß, dass es bittere Wahrheit ist. Insbesondere eines ist bedrückende Realität: die Tatsache, dass gerade diejenigen Menschen, die für „die großen politischen Ziele“ kämpfen, im wirklichen und konkreten Leben andere Menschen einfach nur benutzen. In der Theorie groß und mit allen rhetorischen Tricks gewappnet, versagen sie kläglich, wenn es um Mitmenschlichkeit geht. Man läuft aber gegen ihre sophistischen Wände, wenn man mit ihnen darüber reden will.

Während ich hier schreibe, läuft der Film noch und jetzt kommt gerade der Zeitsprung, in dem sich Oskar und Resa nach zwanzig Jahren wiedertreffen. Resa vertritt eine Umweltschutzinitiative in Ihrem Kampf gegen die Enteignung von Obstplantagen durch ein Braunkohlewerk. Oskar ist im Vorstand von eben diesem Braunkohlewerk und hat es sich inzwischen in einer kleinen privaten Welt mit Haus, Frau, zwei Autos und zwei Kindern gemütlich gemacht. Wie im wahren Leben gewinnt den Prozess natürlich er und nicht Reza.

Und wie es so ist – auch in meinem wahren Leben habe ich so manchen „Oskar“ getroffen. Allerdings nie in einer Beziehung, meine Abneigung gegen Unechtheit war zu ausgeprägt, um mich mehr als unbedingt erforderlich zu nähern. Und immer noch gibt es die Oskars. Einen davon gibt es sogar in meinem Bekanntenkreis. Jemand, der stolz berichtet, „kurz davor gewesen zu sein, sich der RAF anzuschließen“. Der sich berufen fühlte, für die Entrechteten in unserer Gesellschaft einzutreten. Heute kämpft er nicht mehr gegen die Staatsmacht, im Gegenteil – bei jeder Gelegenheit droht er mit ihrer Zuhilfenahme. Die Sympathie für Hausbesetzer hat er geschickt kompensiert in den Status des „Hausbesitzers“. Letztendlich ist dies für ihn aber nur ein kleiner orthographischer Unterschied – ein „i“ statt ein „e“. Aber in einem ist er sich treu geblieben – noch immer bekämpft er jeden, der nicht seiner Meinung ist.

Wie heißt es so schön „Die Herrschenden musst du solange bekämpfen, bis du ihnen angehörst“. Tja, und mit der Möglichkeit, viel Geld zu verdienen, ist dies dann erreicht und somit ändert sich dann auch grundlegend die Richtung. Jeder hat dies mitbekommen, außer Oskar selbst. Denn er ist nach wie vor der Meinung, noch „immer der Alte“ zu sein. Und irgendwie hat er damit ja auch nicht ganz unrecht.