Montag, 22. November 2010
Die Nestwärme der Masse
Wer Anpassungszwängen taktisch nachgibt, wohl wissend, dass er ihnen mit vertretbarem Risiko widerstehen könnte und auch sollte, wird nach und nach die Unzumutbarkeit von Anpassungsforderungen gar nicht mehr wahrnehmen, d.h., die eigene Gefügigkeit auch nicht mehr als Fluchtreaktion durchschauen. Alles erscheint normal: die Verhältnisse, denen er sich ergibt, und der Verzicht auf Gegenwehr, den er eben gar nicht mehr erlebt.
Horst-Eberhard Richter (*1928)

Selten hat jemand den Mechanismus der Angepasstheit so treffend und zugleich so philosophisch formuliert. Anpassung ist nämlich viel mehr als nur eine Haltung. Anpassung ist eine grundsätzliche und folgenschwere Lebenseinstellung.

So wie eine Droge mit einem Wohlgefühl verbunden ist, so ist dies auch bei der Angepasstheit der Fall. Man wird belohnt durch die Zustimmung der anderen. Durch die Nestwärme, die die Masse gibt. Das Gefühl, für nichts den Kopf hinhalten zu müssen, denn man ist ja im Kollektiv, in dem es keine Einzelverantwortung gibt. Ein wohlig-warmes Gefühl der Nichtverantwortung und des Beschützseins.

Der Angepasste zieht den Käfig der freien Welt vor und irgendwann hält er diesen Käfig für die freie Welt. Er ist auf der Flucht vor Eigenverantwortung, aber er weiß eines Tages nicht mehr, dass er flüchtet, sondern er hält die Flucht für einen netten Spaziergang.

Der Angepasste bestreitet vehement, dass er angepasst ist. Und von seiner Warte aus gesehen, ist dies noch nicht einmal eine Lüge, da er ja, wie Richter treffend formuliert „die eigene Gefügigkeit nicht mehr als Fluchtreaktion durchschaut“.

Der Angepasste kann mit seiner Angepasstheit gut leben. Schwer haben es die anderen. All die, zu deren Lasten seine Angepasstheit geht. All die, die er verrät. Aber es geht dabei gar nicht nur um einzelne. Es geht um einen folgenschweren Mechanismus, der jeden Missstand zulässt und jede Verbesserung verhindert. Der Angepasste ist verantwortlich für Stillstand. Für das Auf-der-Stelle-Treten.

Niemand ist ein so unentbehrlicher und zuverlässiger Helfershelfer wie der Angepasste - wenn es darum geht, Entwicklungen aufzuhalten.



Montag, 22. November 2010
Verdrängte Traumen
Es gibt eine kreisförmige Wechselbeziehung zwischen Machen und Erkennen. Wenn man nicht macht was man als notwendig, wenn auch mit persönlichen Unannehmlichkeiten behaftet, erkannt hat, dann kann man irgendwann auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist. Wer Anpassungszwängen taktisch nachgibt, wohl wissend, dass er ihnen mit vertretbarem Risiko widerstehen könnte und auch sollte, wird nach und nach die Unzumutbarkeit von Anpassungsforderungen gar nicht mehr wahrnehmen, d.h., die eigene Gefügigkeit auch nicht mehr als Fluchtreaktion durchschauen. Alles erscheint normal: die Verhältnisse, denen er sich ergibt, und der Verzicht auf Gegenwehr, den er eben gar nicht mehr erlebt.
Horst-Eberhard Richter (*1928)

Gerade habe ich mir auf ARTE die Dokumentation „Helden ohne Heimat“ über Kriegsheimkehrer nach 1945 angesehen. Da auch der von mir verehrte Horst Eberhard Richter mitwirkte, habe ich mir nochmals seinen Lebenslauf angeschaut und dabei das obige Zitat gefunden, das mir aus der Seele spricht.

In der Sendung ging es um das Leiden des Krieges, das nicht nur die Opfer traf, sondern auch diejenigen, die auf der Seite der Täter standen. Die unendlich schwierige Situation der Kriegsheimkehrer, die in eine Welt zurückkehrten, die ihnen fremd geworden ist. Und die als Täter kein Anrecht darauf hatten, über ihren Schmerz zu reden. Auch nicht über den Hunger, die Kälte und das Sterben in den Arbeitslagern. Männer, die sich verkauft, verraten und verheizt fühlten. Die aber auf der anderen Seite auch völlig verdrängt hatten, dass sie auch beteiligt waren.

Männer, die bei ihrer Rückkehr ihre Frauen völlig verändert wiederfanden. Selbständig und daran gewöhnt, ihr Leben eigenständig und ohne Hilfe zu regeln. Die manchmal auch nach den langen Jahren des Wartens einen neuen Partner hatten. Aber es gab auch sehr junge Rückkehrer, wie Horst-Eberhard Richter, der nicht verheiratet war und bei der Suche nach seiner Familie erfuhr, dass niemand den Krieg überlebt hatte. Jemand, auf den niemand wartete.

Verdrängen statt verarbeiten. Sich verschließen statt sich zu öffnen. Ein Volk will vergessen und stürzt sich dabei in Wiederaufbaueuphorie. Einer derjenigen, die über ihre Gefangenschaft und ihre Situation als Spätheimkehrer interviewt wurden, antwortet – nach einer langen Gedankenpause – auf die Frage, ob er oft über das Erlittene sprach: „Ich glaube, Sie sind so ziemlich der Erste, der mich danach fragt“. ..

Verdrängen satt verarbeiten. Daraus kann nichts Neues entstehen. Da wird sich nur das Alte wiederholen. Immer und immer wieder.

Das obige Zitat hat nur bedingt mit der Thematik der Kriegsheimkehrer zu tun (oder doch?), aber es drückt so treffend meinen Widerwillen gegen das „Anpassen aus taktischen Gründen“ aus und formuliert fast noch treffender die „Gefügigkeit als Fluchtreaktion“, dass ich es ich es nicht löschen werde. Aber vielleicht werde ich es nochmals aufgreifen und ihm einen eigenen Beitrag widmen.



Donnerstag, 18. November 2010
Was ist eigentlich ein Gutmensch?
Dieser Ausdruck wird erst seit einigen Jahren häufig verwendet und somit muss es sich um etwas handeln, das es früher nicht gab. Oder es muss sich um etwas handeln, dass es früher zwar gab, aber das damals so normal war, dass es keines speziellen Ausdrucks bedurfte. Aber das bringt mich in meiner Fragestellung auch nicht weiter. Ich fasse hier mal ein paar der gängigen Kriterien zusammen:

Jemand, der nicht ausschließlich an sich selbst denkt, sondern auch ab und zu auch mal an andere – ist ein Gutmensch?

Jemand, der sich von Zeit zu Zeit vor Augen hält, dass es vielen Menschen schlechter als ihm selbst geht – ist ein Gutmensch?

Jemand, der Solidarität und Authentizität für etwas Unverzichtbares hält – ist ein Gutmensch?

Jemand, der nicht einfach Abfall auf die Straße wirft und keine Eier aus Legebatterien kauft – ist ein Gutmensch?

Jemand, den es anwidert, wenn sich völlig undifferenziert und beleidigend über soziale Minderheiten geäußert wird – ist ein Gutmensch?

Jemand, dem es gegen den Strich geht, dass Menschen mit sehr viel Geld sich an Menschen mit sehr wenig Geld bereichern - ist ein Gutmensch?

Es gab einen Ausdruck, der dem des Gutmenschen vielleicht in etwa entspricht: „Moralapostel“ oder auch die Umschreibung „päpstlicher als der Papst sein“. Damit hat man jemanden bezeichnet, der es mit seiner Moral ein wenig übertrieb und dabei schon fast ins Asketische abdriftete. Aber ich glaube, dass trifft nicht den Kern des Begriffs des Gutmenschen.

Wieso kam man früher ohne diesen Ausdruck aus? Gab es all die dem Gutmenschen zugeschriebenen Einstellungen und Verhaltensweisen nicht? Oder wurden die einfach als etwas ganz Normales angesehen? Dann wäre der Gutmensch ein lebender Anachronismus, einer der die Zeichen der Zeit nicht mitbekommen hat. Dessen Horizont stehengeblieben ist. Der immer noch glaubt, die Erde sei eine Scheibe.

Ich glaube, Gutmenschen gab es schon immer und überall. Der Gutmensch war etwas Stinknormales – so stinknormal, dass es für ihn noch nicht einmal einen Ausdruck gab. Aber irgendwann wurde es unmodern, ein Gutmensch zu sein. Ein neuer Typus tauchte auf, der sich breitmachte. Und von dem Augenblick an wurde es erforderlich, dem Auslaufmodell einen Namen zu geben. Und so wurde der Ausdruck des Gutmenschen geboren.

Wozu braucht man eigentlich diesen Ausdruck? Man braucht ihn, um das Unzeitgemäße hervorzuheben. Das Zurückgebliebene. Das, was schon längst überholt ist. Man braucht diesen Begriff, um etwas, das grundsätzlich positiv bewertet wurde – Sozialverhalten, Solidarität, Umweltbewusstsein, Mitmenschlichkeit – endlich mal von seinem Podest herunterzuholen und der Lächerlichkeit preiszugeben.

Der Ausdruck des Gutmenschen ist unentbehrlich seit dem Richtungswechsel. Der Wechsel weg vom Sozialverhalten hin zum Egoismus. Der Begriff des Gutmenschen war überfällig und ist zwingend erforderlich. Um Egoismus aufzuwerten und gesellschaftsfähig zu machen.