The roaring seventies
Da mir ein früherer Kollege mal gesagt hat, ich wäre in den 70er Jahren stehen geblieben, habe ich den Wunsch, mir die 70er Jahre einmal ein bisschen genauer anzusehen, denn das müsste – vorausgesetzt mein Kollege hat Recht – ja die mir entsprechende Charakteristik darstellen. Tja, was macht einen echten 70er aus? Die Liste ist zu lang, um alles zu nennen. Spontan fällt mir ein: Anti-AKW- und Friedensdemos, Frauenkneipen, Bioläden, Diskussionen in WG-Küchen, Indienreisen, Bhagwan, RAF, Psychedelic-Musik, die Gründung der Grünen, Selbsterfahrungsgruppen, Schwul/Lesbisches Coming out, Zeitschriften wie „Emma“ und „TAZ“, Festivals in Roskilde oder Scheeßel.
Sollte ich alles in ein einziges Wort packen, würde ich den Begriff „Bewegung“ wählen. Es hat sich alles bewegt. Frauenbewegung, Friedensbewegung, Umweltschutzbewegung. Man hatte nicht das Gefühl der Resignation, sondern das des Aufbruchs. Mit der Gründung der Grünen, bzw. deren Vorläufer „Die Bunten“ kamen zum ersten Mal Menschen in die Politik, die auch irgendetwas mit einem selbst zu tun hatten. Gleiche Sprache, gleiche Lebenszusammenhänge und Ziele, die völlig von der etablierten Politik abwichen.
Da die Jugend der 70er von Eltern abstammte, die alle noch den Krieg miterlebt hatten, gab es ein Riesengefälle zwischen den Generationen. Die Eltern kannten noch Hunger, Kälte und Todesangst. Die Jugend der 70er wuchs im satten Wohlstand auf. Und da sich die Generationen nun mal oftmals zueinander antagonistisch verhalten, verachteten die 70er den Materialismus der Eltern. Niemand interessierte sich für Möbel (damals gab es noch Sperrmülltermine, durch die man sich komplett mit allem Notwendigen versorgen konnte) niemand gab Geld für schicke Kleidung aus, die man sich lieber vom Flohmarkt oder aus Großmutters Schrank besorgte, als hierfür viel Geld zu verschwenden.
Es wurde ewig lange über alles und jedes diskutiert. Die kaufmännische lösungsorientierte Kommunikation hatte noch keine Hochkonjunktur, stattdessen war das endlos lange Abwägen aller Fürs und Wider angesagt, die allerdings meistens zu keinem nennenswertem Ergebnis führten (was allerdings bei der lösungsorientierten Kommunikation auch nicht der Fall ist).
Selbsterfahrungsgruppen oder themenspezifische Workshops standen hoch im Kurs, denn keiner war so richtig mit sich zufrieden und es war selbstverständlich, dass man sich auf die Suche machte nach Wegen, die zu einer Veränderung führen. Urschreitherapie nach Janov, Gestalttherapie nach Pearls, Bioenergetik nach Alexander Lowen, Menstruations- und Trommelworkshops auf dem Land. Hauptsache, man fand sich nicht einfach ab mit dem, was die Eltern aus einem gemacht hatten.
Die 70er geben wie kein anderes Jahrzehnt Stoff für Satire und Slapstick. Es gab kaum etwas, das nicht auch eine Seite hatte, die zum Brüllen komisch war. Eine Generation, die unbedingt alles anders machen wollte als die Eltern. Und die sich dabei in einer endlosen Identitätssuche verhedderte. Bloß nicht so werden wie die Wirtschaftswundereltern es geplant hatten.
Aber auch wenn heute vieles zum Brüllen komisch ist und manchmal wie eine einzige Parodie wirkt – es steckte unendlich viel Leben und Bewegung in den 70ern. Und gerade weil die 70er eine Generation hervorgebracht hat, die anscheinend niemals wirklich erwachsen wird, hat sie den ihr eigenen Charme. Und ich bin froh, dass ich in einer Zeit aufwuchs, in der es unendlich viel Neues gab und in der ungeheuer viel ausprobiert wurde. In der Lernen als lebenslange Aufgabe angesehen wurde und man ständig Ausschau nach etwas Neuem gehalten hat. Es lebte sich außerdem nicht schlecht ohne Yuppies, ohne Bushidos, ohne Bausparverträge, ohne Alphamännchen (die hätte man damals zum Mond geschossen), ohne Einbauküche, ohne Bitbulls, ohne Schill, ohne Eventmanager (Events entstanden in Eigenregie) ohne Intimrasur.
Und was ist ganz persönlich in mir von den 70ern geblieben? Ich bin mir darin treu geblieben, dass ich mich immer noch schwer tue, Geld für materielle Dinge wie Möbel auszugeben und stattdessen lieber in ferne Länder reise. Die östliche Lebensart fasziniert mich auch jetzt noch mehr als die amerikanische. Ich halte es immer noch für wichtig, sich auseinanderzusetzen anstatt mit der zeitsparenden lösungsorientierten Kommunikation einfach Gegenargumente plattzuwalzen.
Und ich habe auch heute noch eine unbändige Abneigung gegen Ungerechtigkeiten und gegen das Ducken und Kuschen, auch wenn letzteres eindeutig mehr Vorteile bringt. Und Alice Schwartzer halte ich nach wie vor für wichtiger als Vernoa Feldbusch, auch wenn sie weniger Unterhaltungswert hat und anstrengender ist.
Und ich habe ebenfalls auch heute noch eine Abneigung, Menschen als Privateigentum zu betrachten. Ich möchte weder über jemanden verfügen, noch möchte ich, dass über mich verfügt wird. Die 70er sind nun mal keine Käfigtiere.
behrens am 04. Juni 10
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Kategorie blanker Unsinn
Zu vergessen und zu lächeln ist weit besser, als sich zu erinnern und traurig zu sein.
Christina Rossetti (1830-1894)
Kompletter Unsinn, denn das Vergessen ist genau das, was Menschen daran hindert, zu reifen und sich weiter zu entwickeln. Die Unfähigkeit zu trauern. Man muss sich seiner traurigen Erlebnisse erinnern um daran zu wachsen. Erst wann man diese Trauer gespürt und durchlebt hat, kann man wirklich lächeln. Ein wahres Lächeln, das auf Lebendigkeit und nicht auf Vergessen beruht. Und bezogen auf die Gesellschaft ist das allzu schnelle Vergessen geradezu verheerend, denn dann werden lächelnd genau die gleichen Fehler erneut begangen.
Der Ausspruch erinnert darüber hinaus an Demente, die nur noch vor sich hinlächeln, egal was um sie herum geschieht. Oder ist das vielleicht doch erstrebenswert…..
Kategorie Lichtblicke – Tage, an denen alles stimmt
Bei sonnigem Wetter in den wunderschönen Hamburger Alsterarkaden in einem ebenfalls schönen und gemütlichen kleinem syrischen Café habe ich gestern einen herrlichen Nachmittag verbracht. Ich habe mich mit einer Betreuerin aus Westfalen getroffen, die ich bisher nur per Mailkontakt kannte. Das erste Mal seit langer, langer Zeit einfach mal über unsere Arbeit sprechen, ohne dass es dabei um Gewinnmaximierung und werbewirksame Außendarstellung geht. Einfach mal den kaufmännischen Aspekt ausblenden und sich wirklich nur mit inhaltlichen Problemen auseinander setzten.
Ich hatte schon fast vergessen, wie schön Hamburg sein kann. Schwäne auf den Alsterfleeten, die quirlige Spitalerstraße, in der es immer irgendwelche kuriosen Selbstdarsteller gibt – diesmal ein lautstark über Gott Lamentierender, der zu Bekräftigung seiner Worte ein riesiges Holzkreuz schwingt. Dann beim Traditionsbetrieb Daniel Wischer eines der köstlichen Fischbrötchen kaufen und wie früher in der Mönckebergstraße auf eine Demo stoßen. Es ging – glaube ich – um die Situation der Opposition im Iran. Es gibt also doch noch Menschen, die für ihre Überzeugung auf die Straße gehen. Oder auf den Punkt gebracht: es gibt doch noch Menschen, die überhaupt eine Überzeugung haben.
Vielleicht muss man einfach nur die Augen öffnen um all diese Dinge zu sehen. Oder vielleicht muss man einfach nur mal auf jemanden stoßen, der die gleiche Wellenlänge hat. Einfach mal wieder zu spüren, dass die eigenen Bedenken nicht völlig unbegründet sind, sondern von anderen geteilt werden. Einfach mal weg vom
Homo oeconomicus zurück zum Homo sapiens.
Solche Tage gibt es viel zu selten.
behrens am 16. Mai 10
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Solidarität – ein aus der Mode gekommener Begriff
In den 70ern sang Rio Reiser „Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität“. Wenn man heute das Wort Solidarität benützt, fühlen sich die meisten peinlich gerührt, so als würde man etwas völlig Abwegiges und Überkommenes erwähnen. Woher mag das kommen? Ist heute alles so ideal und gerecht, dass man getrost auf Solidarität verzichten kann? Gehört es zum Erwachsensein, dass man derlei Dinge hinter sich lässt?
Solidarität hat gleich mehrere Gegenpole. Die aktiven Gegenpole sind Konkurrenz und Opportunismus. Die passiven Gegenpole sind Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit und Feigheit. Im Arbeitsalltag, in dem man weiterkommen und Karriere machen möchte, ist Solidarität dabei das denkbar Ungeeigneteste. Schließlich will man andere übertrumpfen oder ihnen etwas vor der Nase wegschnappen. Wenn es einmal nicht um das Übertrumpfen geht und jeder sein abgestecktes Revier hat, dann ist es nicht das Konkurrenzdenken, sondern die schnöde Gleichgültigkeit oder Feigheit und Bequemlichkeit, die Solidarität zunichte machen. Man reibt sich doch auch so schon genug auf, wozu da noch unnötig Energie mit Solidarität verschwenden? Schließlich ist sich jeder selbst der Nächste.
Ich weigere mich, die Erklärung allein im Egoismus zu sehen. Egoistisch waren die Menschen zu jeder Zeit und überall und nicht erst heutzutage. Ich glaube, es ist vielmehr die Denkfaulheit, die jede Solidarität zunichte macht. Das Fehlen jeglicher übergeordneter Ziele, die man eben nicht allein sondern nur gemeinsam erreichen kann. Für das individuelle Ziel, viel zu verdienen oder eine angenehme berufliche Position zu haben, muss man seinen Kopf nicht großartig anstrengen. Für übergeordnete Ziele schon – denn hierfür braucht man Hintergrundwissen und Abstraktionsvermögen. Hier muss man um Ecken denken und das funktioniert schlecht mit einem Brett vorm Kopf.
Rio Reisers „Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität“ ist ein Anachronismus, der zu einer Zeit gehört, die unwiderruflich vorbei ist. Heute fehlt niemandem die Solidarität. Im Gegenteil – sie wird als lästige Anforderung und unnötige Anstrengung angesehen. Und belächelt als eine Eigenschaft, die man sich allenfalls in der Pubertät leistet aber nicht als Erwachsener.
Mir hat einmal ein früherer Kollege gesagt, ich sei in den 70er Jahren stehen geblieben – Recht hat er!!