Habe erfahren, dass die Menschen, die mir vor einiger Zeit übel mitgespielt haben, sich jetzt gegenseitig eins ausgewischt haben. Menschen, die andere linken und hintergehen, geraten irgendwann auch mal an ihresgleichen. Und dann passiert Ihnen genau das, was sie anderen zugefügt haben. Ich glaube normalerweise nicht an ausgleichende Gerechtigkeit, aber es könnte ja vielleicht auch sein, dass ich mich irre.
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus? Zum Glück doch! Und das tut den Nicht-Krähen so richtig gut! Noch besser wäre es, wenn man sich darauf verlassen könnte, dass alle Krähen mal ihr Fett abbekommen. Denn es gibt eine wahre Krähenplage. Ob man drauf hoffen kann?
Franz Jalics wurde 1927 in Ungarn geboren und ist Mitglied des Jesuitenordens. Seit vielen Jahren gibt er Unterweisungen in Kontemplativen Exerzitien. Jalics hat lange Zeit in Argentinien gelebt, wo er einen Lehrstuhl für Fundamentaltheologie innehatte. Als Mitglied eines religiösen Ordens hat für Jalics der Begriff des Verzeihens anders als bei Paul Ricæur eine klar religiöse Basis. Wer religiösen Glauben ablehnt, wird also mit den Ausführungen nicht viel anfangen können. Alle anderen um so mehr – insbesondere deswegen, weil für Jalics das Verzeihen kein rein theoretischer Begriff ist, denn ihm selbst wurde in seinem Leben großes Unrecht zugefügt.
Im Alter von 19 Jahren verlor er seinen Vater, der von der politischen Polizei Ungarns ermordet wurde. Sein Heimathaus wurde von den sowjetischen Besatzer vollständig verwüstet. Im Jahr 1976 wurde Jalics in Argentinien während des Bürgerkriegs von jemandem denunziert und von den Militärs entführt. Er wurde fünf Monate festgehalten während derer er die ganze Zeit gefesselt war und bis zur Befreiung waren ihm die Augen verbunden. Die ganzen Monate lang war er von seiner angekündigten Hinrichtung bedroht. Und diese Bedrohung war mehr als real, denn von den 6000 Menschen, die von den Militärs entführt wurden, haben nur Jalics und sein Mitbruder überlebt.
Nachdem Jalics freigekommen war ging er nach Nordamerika und versuchte zwei Jahre lang, die Tatsachen seiner Entführung öffentlich zu machen um eine Rehabilitierung zu erreichen. Er hatte hierfür mehr als 30 schriftliche Dokumente gesammelt. Allerdings war alles umsonst und obwohl die Anklage der Militärs, Jalics gehöre einer terroristischen Vereinigung an, sich als falsch erwiesen hatte, wurde er weder rehabilitiert noch wurde der für die Entführung verantwortliche Denunziant verurteilt. Nach anderthalb Jahren gab Jalics seine Absicht der Rückkehr nach Argentinien auf und kam nach Deutschland.
Und jetzt kommt die entscheidende Wende im Leben Jalics – er bat alle mit der Entführung Befassten, sich nicht mehr für die Aufklärung der Angelegenheit einzusetzen. Nach eigenen Aussagen hatte er es nicht mehr nötig. Die Distanz und die Tatsache, dass er keine Rehabilitation mehr brauchte, hat ihm bei Prozess des Verzeihens geholfen. Aber es folgt noch eine weitere entscheidende Wende in seinem Leben, die ihn mit dem erfahrenen Unrecht gänzlich abschließen lässt. Während einer Exerzitienzeit kam ihm die Einsicht, dass er zwar seinen Peinigern verziehen hatte, aber dennoch sämtliche Beweisdokumente in seinem Schrank hütete. Jalics wurde klar, dass er insgeheim immer noch darauf hoffte, diese Beweismittel einmal gegen die Entführer einsetzen zu können. Und er entschloss sich, diese wichtigen Dokumente zu vernichten. In einem kurze Zeit später darauf folgenden Gespräch mit dem Jesuitenoberen spürte Jalics den ganzen tiefen Schmerz seiner Peinigung noch einmal in all seiner Intensität. Und dieses Ereignis nennt Jalic den Zeitpunkt, an dem er sich zum ersten Mal wieder begann, sich wahrhaft frei zu fühlen.
Ich finde die Schilderungen Jalics deswegen so beeindruckend, weil es ausnahmsweise kein Beispiel für das lammfromme sofortige Verzeihen ist. Sein Verzeihen war von einem langen inneren Kampf begleitet. Und ich habe tiefen Respekt davor, dass er die Angelegenheit nicht einfach lächelnd beiseite legen wollte, sondern dass er ein starkes Bedürfnis nach Offenlegung und nach Genugtuung hatte. Unrecht darf man nicht einfach beiseite legen. Unrecht muss offengelegt werden. Und vor allem: Unrecht bleibt Unrecht – auch wenn man verziehen hat. Aber bei Franz Jalics setzte irgendwann der Zeitpunkt des Loslösens von der Bestätigung durch die Außenwelt ein. Dies hat für ihn einen klaren christlichen Bezug, denn er weist auf die Tatsache hin, dass auch Jesus niemals rehabilitiert wurde und in der Öffentlichkeit als Verbrecher galt, der für seine Verbrechen hingerichtet wurde. Nur seine Apostel erkannten die Wahrheit und glaubten weiter an ihn.
Die Botschaft dieses Gedanken ist eindeutig: es kommt auf den eigenen Glauben an und nicht auf die Bestätigung der Außenwelt. Jalic hat zwar seinen Peinigern verziehen, aber dennoch gibt es für ihn keinen Zweifel daran, dass ihm tiefstes Unrecht zugefügt wurde. Im Gegenteil – irgendwann war er sich darin so sicher, dass ihn auch die fehlende Rehabilitation durch die Außenwelt nicht mehr erschüttern konnte.
Ich persönlich bin von Jalic (noch?) meilenweit entfernt. Ich halte das Offenlegen von Unrecht nach wie vor für unverzichtbar. Zumal es ja auch Unrecht gibt, dass nicht der eigenen Person, sondern anderen zugefügt wurde. Dann geht es nicht mehr um die Genugtuung in eigener Sache, sondern um etwas, das auch für andere Menschen eine leidvolle Erfahrung war. Aber ich erkenne auch, dass man dem erlittenem Unrecht nicht die Macht der Zerstörung geben darf. Erst dies macht es unüberwindbar und lässt es zu einem Teil des eigenen Selbst werden. Vielleicht muss man einfach den Zeitpunkt erkennen, an dem es aussichtslos ist, gegen eine Übermacht zu kämpfen. Einfach aus Selbsterhaltung. Und vielleicht muss man dem inneren Gefühl dafür, was Unrecht ist und was nicht, mehr Bedeutung beimessen als der Reaktion der Außenwelt. Einer Außenwelt, die ohnehin oftmals Manipulationen erliegt und für die Werte wie Gerechtigkeit und Rückgrat immer mehr in den Hintergrund treten.
Manchmal ist es gut, zu hören, dass man völlig normal ist. Wenn das gesamte Umfeld sich völlig von einem unterscheidet, kommt unweigerlich die Frage auf, ob der eigene Weg denn eigentlich noch der richtige ist. Und dann fragt man sich, ob man sich denn nicht ändern sollte – wenn alle anders sind, wird dies vielleicht auch richtig sein. In so einer Situation muss man immer wieder von neuem die Wahl zwischen Anpassung und Standhalten treffen. Sieht man sich den Lauf der Geschichte an, hat die große Masse meist geirrt.
Dies erinnert ein wenig an Ira Levins Roman „Die Frauen von Stepford“. Die Protagonistin Joanne ist sich völlig sicher, dass etwas mit den Frauen ihrer Umgebung nicht stimmt. Um sie herum nur Harmonie und Zufriedenheit, die etwas seltsam Unechtes hat. Die anderen tun ihre Bedenken immer wieder als Einbildung ab. Schließlich sucht Joanne in ihrer Verzweiflung eine Psychologin auf. Und dann kommt der Moment, in dem ihr endlich von jemandem bestätigt wird, dass sie ihre Misstrauen an der scheinbaren Harmonie Ernst nehmen sollte. Es gibt Zweifel, die selbstzerstörerisch sind und es gibt Zweifel, die zu einer gesunden Wahrnehmung gehören und somit lebenserhaltend sind. Im Falle von Joanne kommt diese Erkenntnis allerdings zu spät.
Das Beeindruckende an dieser Geschichte ist der Kontrast der Protagonistin zu den übrigen Frauen. An denen ist alles harmonisch und vorbildlich – nur eben völlig unecht und unglaubwürdig. Und man atmet auf, als endlich in Gestalt der besagten Psychologin jemand auftaucht, der dieses Gefühl des Zweifelns nachempfinden kann und als richtig unterstützt.
Und so jemanden braucht man im normalen Leben auch. Jedenfalls, wenn man sich in einem ungutem Umfeld befindet. Oder anders ausgedrückt – wenn man sich völlig von den Menschen seines Umfelds unterscheidet. Das Umfeld kann man sich leider nicht immer aussuchen. Aber Gott-sei-Dank gibt es Menschen, die einem bestätigen, dass man sich auf sein Gefühl verlassen kann. Das ist das, was man zum Überleben in so einer Umgebung dringend benötigt.
Auch wenn es vielleicht kein richtig und falsch gibt – es gibt falsche Umfelder.
Es gibt sogar eine kleine Persiflage namens "Stepfordism"