Dienstag, 23. Juni 2009
Stichwort MEIN-Gesellschaft, Homo oeconomicus und materialistische Liebe
Gerechtigkeit und MEIN-Gesellschaft

Hätte ich noch wenigstens zwei Jahre Zeit, so würde ich sie der ausführlicheren Darstellung und Begründung des folgenden Gedankengangs widmen: Was wir überall sehen und mit Händen greifen, ist die Ungerechtigkeit. Darüber ein ideales Gebilde der Gerechtigkeit freischwebend aufzuhängen, ist sinnlos. Den guten König, das edle Parlament, das gute und vernünftige Volk usw. Auszugehen ist vielmehr von der Ungerechtigkeit, und dabei höre ich schon den Einwand, wie soll denn diese umschrieben werden, wenn man nicht zuvor weiß, was Gerechtigkeit ist? Lassen wir uns von den Wörtern nicht täuschen: Ungerechtigkeit ist das Ursprüngliche, Gerechtigkeit müßte also heißen: Unungerechtigkeit, Gerechtigkeit kann nur in der Zerstörung von Ungerechtigkeit beobachtet werden.
Peter Noll "Diktate über Sterben und Tod"

In dem Zusammenhang J.D. Salingers „Fänger im Roggen“, die Thematik auf eine Kurzformel gebracht: Die viel stärkere Sensibilität der Jungen gegenüber Ungerechtigkeit, Routine, Langeweile und besonders: Lüge. Das Leben eines normalen, robusten und erfolgreichen Erwachsenen kann nur eine Lebenslüge sein.

Trauriges aber leider nicht zu widerlegendes Resümee: Gerechtigkeitssinn ist eine pubertäre Erscheinung, quasi eine Entwicklungsstörung ähnlich wie Akne. Der normale Erwachsene hat diese Störung glücklich überwunden und lebt frei von dieser Einengung. Der normale Erwachsene hat auch weitaus Wichtigeres zu tun als sich um Gerechtigkeit zu kümmern: Er muß Werte schaffen und sich fortpflanzen. Damit Kinder da sind, die ebenfalls Werte schaffen und sich ebenfalls fortpflanzen. Auf solche Nichtigkeiten wie Gerechtigkeit kann man da keine Rücksicht nehmen. So richtig glücklich wirken die meisten beim Werteschaffen und Fortpflanzen merkwürdigerweise nicht. Aber auf solche Nichtigkeiten wie Glück kann man da keine Rücksicht nehmen. Und Kinder sind Zukunft! Merkwürdigerweise sind die meisten Kinder aber eine ziemlich genaue Kopie ihrer Eltern. Der Modus Zukunft ist damit fehl am Platz, denn eine bloße Reproduktion der Gegenwart – und dies seit Urzeiten – hat noch nichts mit Zukunft zu tun.

Ein Leben nach der üblichen Maxime: Mein Haus, mein Auto, meine Frau, meine Kinder, mein Bausparvertrag, meine Einbauküche. Die MEIN-Gesellschaft. Etymologisch bemerkenswert ist die Ähnlichkeit des Wortes MEIN zu GEMEIN, und in dem Zusammenhang die Doppeldeutigkeit des Adjektivs GEMEIN, das sowohl GEWÖHNLICH als auch NIEDERTRÄCHTIG bedeuten kann. Auch im Englischen fällt die Ähnlichkeit zwischen MY und MEAN auf. Im Französischen stimmen nur die Anfangskonsonanten des MON mit MÉCHANT überein, der Plural MES klingt schon etwas ähnlicher. Das weibliche Possessivpronomen MA ähnelt übrigens dem MAL (schlecht). Das aber nur am Rande, als kleine, nicht besonders professionelle Wortspielerei. Aber zu leugnen ist es trotzdem nicht: Das Wort MEIN hat es in sich!


MEIN

Ein kleiner dicker Parasit

Frißt Gerechtigkeit, Glück und Zukunft

Oft auch Hirnmasse

Manchmal sogar ganze Landstriche

Frißt sogar Rückgrat

Nicht selten Liebe

MEIN – ein kleiner fetter Allesfresser

Nichts ist vor MEIN sicher

Hüte sich wer kann vor MEIN!



Samstag, 20. Juni 2009
Und nochmals Montaigne
Der Tod ist das Rezept gegen alle Leiden, ein ganz sicherer Hafen, den man nicht fürchten, sondern aufsuchen soll. Es kommt auf dasselbe heraus, ob der Mensch sich selbst sein Ende gibt oder ob er es erleidet .. Der freiwillige Tod ist der schönste. Das Leben hängt vom Leben anderer ab, der Tod nur von unserem Willen ... Leben heißt dienen, Sterben frei sein. Die allgemeine Entwicklung von Heilungen geht immer auf Kosten des Lebens: man zerschneidet uns, man zerstückelt uns, man schneidet uns Glieder ab, man nimmt uns die Nahrung des Blutes: ein Schritt weiter, und wir sind gänzlich geheilt.

Jetzt fragt man sich unweigerlich, warum Montaigne sich denn nicht umgebracht hat. Aber das ist er wohl - der unweigerliche Unterschied von Theorie und Praxis. Der Unterschied von hoher Philosophie und banalem Alltag. So wie Sokrates Gerechtigkeit predigte und sich nicht die Bohne darum kümmerte, wie seine Frau Xanthippe die gemeinsamen Kinder durchbringt. La grande philosophie et la vie quotidienne - um es schicker auszudrücken. Vielleicht ist es das, was die menschliche Existenz ausmacht: ein Auseinanderklaffen an allen Ecken und Kanten. Und wenn sogar die großen Philosophen davon nicht verschont werden, sollte ich meine Kollegen vielleicht auch nicht so hart beurteilen. Obwohl - Sokrates hat ja wirklich Veränderungen bewirkt....

Wie dem auch sei - ich könnte jedes Wort Montaignes unterstreichen. Und dennoch würde ich nicht seelenruhig zusehen, wie sich jemand umbringt. Und da, wie ich ja eben ausgeführt habe, auch der große Montaigne letztendlich einen ganz normalen Tod auf dem Sterbebett gestorben ist, muß ich mir auch keine überflüssigen Gedanken über rechtsphilosophischen Unsinn machen. Der Mensch ist viel zu kompliziert um ihn in Paragraphen zu zwängen. Lassen wir diesen Unsinn also.

http://betreuer.blogger.de/stories/1429571



Donnerstag, 18. Juni 2009
Akutes Leben – chronischer Tod
Wie ist es möglich, sich des Gedankens an den Tod zu entledigen und nicht zu denken, daß er uns jeden Augenblick am Kragen packen kann?...Nehmen wir dem Tod seine Fremdheit, praktizieren wir ihn, gewöhnen wir uns an ihn; nichts sollen wir so oft im Kopf haben wie den Tod in jedem Augenblick unserer Vorstellung und in allen Antlitzen...Es ist ungewiß, wo der Tod uns erwartet; erwarten wir ihn auf jeden Fall. Die überlegte Vorstellung (préméditation) des Todes ist die überlegte Vorstellung der Freiheit: wer gelernt hat zu sterben, hat verlernt, untertänig zu sein: es gibt kein Übel mehr für denjenigen, der gut begriffen hat, daß der Verlust des Lebens kein Übel ist: das Wissen, daß wir sterben, befreit uns von jeder Unterwerfung und jedem Zwang.

Diese Zeilen von Montaigne werden von Peter Noll in seinen „Diktaten über Sterben und Tod“ zitiert. Und gerade jetzt, wo ich dieses Buch lese, höre ich vom Mord an den beiden jungen deutschen Frauen im Jemen. In eine Dokumentation äußern sich Bekannte und Freunde über sie. Beide waren Studentinnen einer Bibelschule mit starkem Missionscharakter standen felsenfest in ihrem Glauben und aus diesem Glauben heraus haben beide ehrenamtlich in einem Krankenhaus im Jemen gearbeitet.

Die Frauen – 24 und 26 Jahre alt – wußten ohne Zweifel genau, auf welche Gefahr sie sich im Jemen einlassen. Die erste Reaktion ist die, daß man innerlich aufschreit, warum zwei engagierte Menschen so jung sterben mußten. Wenn ich aber an die Entscheidung von Peter Noll denke, eine lebensrettende Operation nicht durchführen zu lassen, weil er sich dann in die Abhängigkeit der Ärzte begeben und hierdurch zum Dauerpatient werden würde, dann sehe ich die Entscheidung der beiden jungen Frauen in einem anderen Licht. Es gibt Menschen, die ihr Leben nur ganz oder gar nicht leben können. Die keine Kompromisse wollen. Diese Sichtweise weicht ab von der gewohnten quantitativen Auffassung des Lebens. Ein erfülltes Leben kann nur ein langes Leben sein. Ist aber nicht gerade ein langes Leben manchmal eben nur ein halbes Leben? Sämtliche Entscheidungen an die Maxime des größtmöglichen Überlebens zu knüpfen? Wäre es eigentlich wirklich vermessen, wenn man in der Trauerrede für die beiden Frauen nicht auch von einem „erfüllten Leben“ sprechen würde, so wie man es üblicherweise nur bei alten Menschen tut?

Die meisten Menschen leben chronisch. Und manche eben akut.