Wir sind alle Borgias
Bis jetzt habe ich durchgehalten und mir die ZDF-Serie über Papst Alexander VI angesehen. Wie erwartet, ist die Serie ziemlich reißerisch und hat wahrscheinlich auch so manches zu den historischen Fakten hinzugedichtet. Dennoch finde ich die Serie spannend. Allerdings ist es manchmal kaum erträglich, dieses Gemisch aus Intrigen, Machtgier, Heuchelei und Brutalität mit anzusehen. Ich frage mich dann, ob das wirklich alles nichts mehr mit uns in unserer heutigen Zeit zu tun hat. Nepotismus – besser bekannt als Vetternwirtschaft – das Versorgen aller Verwandten mit Posten und Pöstchen, ob nun eine Eignung dafür vorliegt oder nicht. Selbst die größte Niete kann hoch hinauskommen, vorausgesetzt sie trägt die gleichen Gene. Das, was diesem Prinzip zugrunde liegt, ist eine Grundhaltung, in der ein rigoroser Unterschied gemacht wird zwischen fremden Menschen und Menschen, die zur Familie gehören. Der Mensch fängt erst an, als menschliches Wesen zu zählen, wenn Blutsbande verbinden. Diese Haltung scheint die Jahrhunderte überdauert zu haben.

Was außerdem so charakteristisch für diese Haltung ist, ist die Spaltung in zweierlei Recht und zweierlei Pflicht. Das Recht, das für einen Borgia und seine Blutsverwandten galt, unterschied sich erheblich von dem anderer Menschen. Und die für die ganze Menschheit als zwingend geltenden Pflichten galten noch lange nicht für den Clan der Borgia. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist ein Prinzip, für das noch immer hart gekämpft werden muss. Und unabhängig von dem gesellschaftlichen Überbau gibt es die jeweils individuelle Ebene der Gleichheit. Und da sind vielleicht mehr Borgias unter uns als man glauben möchte.

Gewiss, ein Individuum kann sich nur begrenzt um andere kümmern und kann nicht für alle da sein, die Hilfe bedürfen. Aber es stellt einen erheblichen Unterschied dar, ob von vorneherein völlig unterschiedliche Maßstäbe für Familienmitglieder und für Nichtfamilienmitglieder angelegt werden. Dadurch entsteht ein Zweiklassensystem, das sich nicht an den gesellschaftlichen Klassen orientiert, sondern an dem archaischen Bund der Blutsbande. Überwunden haben das vielleicht manche. Aber manche eben auch nicht. Und deswegen ist die Serie über die Borgias leider keine reine Geschichtsstudie, sondern findet so manche Entsprechung in der Gegenwart.

Edit/Nachtrag
Sehr interessant war eine im Anschluss an den zweiten Teil der Serie gesendete Dokumentation über die Borgias. Es kam auch ein Nachfahre – in der 18. Generation! – zu Wort. Und obwohl dieser keinen ungebildeten Eindruck machte (ich glaube er war sogar Historiker), war er felsenfest davon überzeugt, dass bei den Berichten über die Borgias viel verfälscht wurde. Er war sich völlig sicher, dass irgendwann die geschichtlichen Nachforschungen ergeben werden, dass die Gesellschaft Papst Alexander VI viel verdankt!

Was das sein mag, erläuterte der Ur-Ur-Enkel leider nicht. Vielleicht meinte er die vielen Gemälde und Skulpturen, die den Papstpalast dekorieren? Mir ist es schleierhaft, wie man einfach ausblenden kann, dass jemand, der fast alle Gesetze und Vorschriften ignorierte und bei allem Tun in erster Linie immer nur die Protektion seiner Familie im Kopf hatte, damit irgend etwas für die Allgemeinheit geschaffen haben soll. Der Ur-Ur-Enkel setzt da das Familienwohl mit dem Allgemeinwohl gleich. Und macht damit genau das deutlich, worum es beim Nepotismus geht: um riesige Scheuklappen, die es verhindern, dass man überhaupt noch in der Lage ist, Familienwohl und Allgemeinwohl zu unterscheiden.