Die eigenen Kinder und die der Anderen
Eine Zeile eines Gedichts, das ich vor vielen Jahren gelesen habe, lautet: „Wer Kinder liebt, nicht nur die eignen“. Obwohl ich mich weder an den Autoren noch an das gesamte Gedicht erinnern kann, ist mir diese Zeile in meinem Gedächtnis geblieben. Denn dies ist etwas, was überhaupt nichts miteinander zu tun haben muss – die Liebe zu allen Kindern oder die Liebe zu lediglich den eigenen Kindern.

Ersteres ist eine Form von Interesse, Zuneigung und Verantwortungsgefühl gegenüber Kindern. Letzteres ist lediglich eine Folge des „Habens“ – man hat Kinder.Vor einiger Zeit hatte ich ein Erlebnis, das diesen Unterschied nicht besser hätte darstellen können und das ich deswegen hier kurz wiedergeben möchte.

Einer meiner früheren Arbeitgeber ist Anwalt und während der Zeit meiner dortigen Beschäftigung wurde ein Lehrling eingestellt. Genauso wie in Arztpraxen werden die Auszubildenden nicht vom Arbeitgeber sondern von den ausgelernten Mitarbeiterinnern angelernt und eingearbeitet, da ja nicht die Tätigkeit des Anwalts oder Arztes erlernt werden soll, sondern die Tätigkeit der Anwaltsassistentin oder der Arzthelferin. Folglich steht und fällt die Qualität einer Ausbildung auch mit der Anzahl und Fähigkeit der ausgelernten Mitarbeiterinnen. Daher war es für unseren Lehrling ein ziemlicher Schock, als der einzigen Mitarbeiterin gekündigt wurde und somit niemand mehr für die Ausbildung zuständig war.

Die erst 16jährige Auszubildende war sehr verzweifelt über die Kündigung der Mitarbeiterin und machte sich große Sorgen um den Verlauf ihrer Ausbildung, da nun niemand mehr da sein würde, von dem sie lernen konnte. Die Auszubildende wollte mit dem Chef über ihre Sorgen sprechen und wissen, wie es denn nun weitergehen sollte. Allerdings wurden ihre Bedenken einfach nur kurz und knapp abgeschmettert mit dem Ausspruch „Learning bei doing“.

Eben jener besagte Anwalt hatte eine Tochter, die zum damaligen Zeitpunkt etwa 10 Jahre alt war und in der Schule von den Lehrern keine Empfehlung für das Gymnasium erhalten hatte. Ich hatte ein wenig von den Schulschwierigkeiten mitbekommen, da das Mädchen manchmal im Nebenzimmer mit ihrer Mutter für die Schule übte. Mir ist noch im Gedächtnis, wie geduldig die Mutter immer wieder und wieder erklärte und wie das Kind, als es trotzdem nichts begriff, wütend ihre Mutter anschrie. Für die besorgten Eltern war allerdings trotzdem hinsichtlich der Schulschwäche ihrer Tochter völlig klar, dass dies ausschließlich an der Unfähigkeit der Lehrer liegen würde. Dass die Tochter einmal Abitur machen würde, stand für die Eltern außer Frage. Und selbst das Kind hatte zu meinem Erstaunen schon eine genaue Vorstellung vom späteren Werdegang. Als sie einmal an unserem PC saß und dort ein wenig schrieb, machte ich die scherzhafte Bemerkung, sie könne ja bei uns als Sekretärin anfangen. Empört antwortete die Tochter meines Chefs „Ich werde keine Sekretärin, ich werde einmal Anwältin!“

Da aber anscheinend ein Gymnasium tatsächlich nicht in Frage kam, wurde eine Waldorfschule ausgewählt, also eine Schule, in der man besonders auf die Individualität der Kinder eingeht und sich auch gerade um Lernschwächen besonders gekümmert wird. Auffällig bei der Auswahl einer anthroposophischen Schule war die Tatsache, dass keiner der Elternteile sich auch nur im Geringsten jemals für Anthroposophie interessiert haben. Dies stellte aber für die Eltern keinen Hinderungsgrund dar, da es ihnen einfach ganz opportun darum ging, eine Schule zu finden, in der ihre Tochter trotz schlechter Prognose aufgenommen wurde.

Und das ist er, der bemerkenswerte Unterschied zwischen den eigenen Kindern und denen der anderen: Da gibt es auf der einen Seite eine aufgeweckte und wissensdurstige Auszubildende, deren Ausbildung den Chef nicht im Geringsten interessiert. Und da gibt es auf der anderen Seite das eigene "Fleisch und Blut", für das das Beste gerade gut genug ist und bei dem die elitäre Erziehung schon im zarten Alter von 10 Jahren zu einem klaren Standesdünkel geführt hat.

Ein Lehrling, dem das Recht auf eine qualifizierte Ausbildung – trotz der bestehenden Ausbildungsvorschriften – einfach abgesprochen wird und der einfach als billige Arbeitskraft missbraucht wird. Ein eigenes Kind, das – trotz objektiver Bedenken – mit viel Aufwand zum Abitur gepuscht wird.

Kinder sind eben nicht einfach Kinder. Kinder sind erst dann Kinder, wenn es die eigenen sind.

Das Ganze liegt übrigens so lange zurück, dass jetzt sowohl die Tochter als auch der frühere Lehrling inzwischen längst erwachsen sind. Aber dieses Beispiel ist exemplarisch und somit zeitlos und steht für eine Haltung, die ich nur als widerwärtig bezeichnen kann.