Die Pädagogikfachfrauen - eine unerfreuliche Begebenheit
Vor einigen Jahren hatten wir Besuch von französischen Freunden, einem Paar mit einer kleinen, damals 4jährigen Tochter. Da wir hier in der Nähe eine sehr schöne Sauna haben, schlug ich einen gemeinsamen Saunabesuch vor. Der gefiel uns allen vorzüglich und besonders die kleine Lea war aus dem Wasser nicht mehr rauszubekommen.

Als ich mit der quietschvergnügten Lea abends über den Schwimmbadflur tobte, kamen uns zwei Frauen entgegen, von denen eine mißbilligend Lea musterte und ihr vorwurfsvoll zurief: „Du gehörst schon lange ins Bett“. Ich habe dies natürlich Leas Mutter nicht übersetzt, da ihr das wahrscheinlich die Laune verdorben hätte. Da ich ziemlich perplex war, hatte ich auch nichts erwidert.

Die kleine Lea ist ein quicklebendiges Kind, das man sich kaum ausgeglichener und fröhlicher vorstellen kann. Sie ist für ihr Alter sehr weit entwickelt und kann sich blitzschnell auf Situationen einstellen. Und ich muß ehrlich sagen: hierin unterscheidet sie sich erheblich von deutschen Kindern. Die bestimmen nämlich voll und ganz den Lebensrhythmus der Eltern und die reagieren grundsätzlich bei der kleinsten Abweichung mit stundenlangem Gequengel und Geheule.

Zuhause kommt Lea selbstverständlich meist um die gleiche Zeit ins Bett. Wenn die Eltern allerdings Urlaub machen , kann sich das auch mal ändern und es werden Unternehmungen gemacht, die eben manchmal auch später als normal enden. Ist ihr dann die Zeit zu lang, schläft Lea auf der Stelle ein.

Was soll nun dieser dumpfbackene Spruch einer deutschen Frau, die ich vom Typ her, wenn ich ehrlich bin, nur als deutsche Bauerntrutsche bezeichnen kann? Die ohne den Hauch des Nachdenkens anderen Müttern tumbe Sprüche um die Ohren haut. Ein quietschvergnügtes Kind in der Sauna, nichts deutet darauf hin, daß irgendetwas nicht in Ordnung ist - und trotzdem, die deutsche Vorstellung von Pädagogik muß befolgt werden. Aber: nicht jedes Kind benötigt das deutsche pädagogische Einheitsschema. Ein starres Schema mit Regeln wie: grundsätzlich kein Einschlafen ohne endlos langes Geschichtenvorlesen. Grundsätzlich ellenlange ermüdende Diskussionen, wenn Situationen mal aus irgendwelchen Gründen nicht gefallen. Grundsätzlich alles verhindern, was den gewohnten Tagesablauf ein bißchen verändern (und bunter machen) könnte.

Das brauchen quengelige deutsche Kinder – aber Lea eben nicht. Es sollte zu denken geben, daß Lea viel ausgeglichener und vergnügter ist als die meisten deutschen Kinder. Aber mit dem Denken hapert es offensichtlich bei den deutschen Pädagogikfachfrauen. Bloß nichts in Frage stellen. Bloß nichts von anderen Kulturen lernen. Und bloß keine Denkanstöße zulassen. In diesem Zusammenhang fällt mir meine frühere Mitarbeiterin ein, die ein Gespräch über das heutige Zubettgehverhalten von Kindern brüsk unterbrach mit dem empörten Einwand, daß ich ja überhaupt nichts beurteilen könne, da ich keine Kinder hätte. Dieser Logik folgend müßten dann eigentlich auch alle Bücher von Anna Freud, Maria Montessori, Helene Helming, Clara Grunwald e.t.c. sofort aus dem Verkehr gezogen werden. Alle diese Pionierinnen der Pädagogik hatten nämlich keine Kinder und dürften sich somit überhaupt nicht zu dem Thema Kind äußern. Meine Freundin, Mutter von drei Kindern, sieht es übrigens genau umgekehrt: Menschen, die Kinder haben, neigen dazu, die Erfahrungen mit den eigenen Kindern für die einzig wahren zu halten und tun sich schwer damit, andere Einstellungen zu akzeptieren.

Wie dem auch sei. Der für jede Gelegenheit strapazierte Spruch: „Kinder brauchen Regeln“ sollte nicht das Nachdenken über die Regeln als solche überflüssig machen. Und vielleicht lohnt sich ein Blick über den Tellerrand hin zu den Ländern, wo Kinder noch Kinder und keine kleinen Prinzen und Prinzessinnen sind. Und vor allem sollten die Regeln nicht in einen Maßregelvollzug ausarten. Bei dem stehen die kleinen Prinzen und Prinzessinnen dann zwar eindeutig im Mittelpunkt, aber ein glückliches und entspanntes Familienleben bedeutet das noch lange nicht. Und meist machen die Eltern auch den gleichen Eindruck wie die Vollzugsbeamten: gestresst und auf den Feierabend wartend.




Die Äußerung der mißgünstigen deutschen Bauerntrutsche, die das Kind um seine Energie, Fröhlichkeit, Lebendigkeit beneidet, deutet darauf hin, daß eher bei ihr "irgendetwas nicht in Ordnung ist" als bei der Kleinen.

Denken und Nichtdenken
Jene hier angeführte bemerkenswerte Aussage einer ehemaligen Mitarbeiterin wer keine Kinder hat, darf sich auch nicht zu Kindern äußern“ ist des Nachdenkens wert. In der Konsequenz hieße dies: „Wer keinen Krebs hat, darf sich auch nicht über Krebs äußern. Wer kein Tibeter ist, darf auch nichts über Tibeter sagen. Wer kein Geld hat, darf auch nicht über Reiche sprechen“. Wie kann man eigentlich auf solche – nicht besonders intelligente – Aussage kommen? Dies hat zwei Gründe: man geht grundsätzlich davon aus, daß jeder sich nur für diejenigen Dinge interessiert, die ihn unmittelbar selbst betreffen. Und man geht grundsätzlich davon aus, daß es nicht möglich ist, Wissen über etwas zu erwerben, das einen selbst nicht unmittelbar betrifft.

Es ist vielen Menschen anscheinend völlig unvorstellbar, daß es Menschen gibt, die ihr Leben der Erforschung von Kindern widmen. Die in Heimen, Kindertagesstätten, psychologischen Praxen oder Kinderpsychiatrien arbeiten. Und die sich tatsächlich – obwohl es sich nicht um die eigenen Kinder handelt – brennend für deren Entwicklungsbedingungen interessieren. Diese Menschen schreiben dann Bücher, halten Vorträge und drehen Filme, in denen sie andere teilhaben lassen an ihrem Wissen. Jemand, der keine Kinder hat, kann also – vorausgesetzt er interessiert sich – von diesem Wissen profitieren. Ich habe für meine Diplomarbeit, die von der Wirkung von Medien auf Kinder handelt, die diversen Bücher von Menschen gelesen, die ihre Arbeit der Erforschung dieses Themas gewidmet haben. Mein Dozent – der selbst drei Kinder hat – war mit meiner Arbeit sehr zufrieden. Wenn die Ansicht meiner ehemaligen Mitarbeiterin zuträfe, hätte meine Diplomarbeit eigentlich überhaupt nicht zu dem Thema geschrieben werden dürfen, denn ich habe ja keine eigenen Kinder. Aber auch die vielen Seminare hätten gar nicht stattfinden können. Bei den diversen Fallanalysen ging es meist um Familien mit Kindern und die meisten Studenten hatten zum damaligen Zeitpunkt keine eigenen Kinder.

Aber vielleicht ist die Ansicht meiner früheren Mitarbeiterin noch vielschichtiger. Wenn man grundsätzlich nicht über Dinge nachdenkt, niemals etwas differenziert sieht und niemals eine Sache aus verschiedenen Perspektiven ansieht, dann sollte man sich tatsächlich nicht zu Dingen äußern, die nicht unmittelbar dem eigenen Erfahrungsbereich angehören. Das kann nur platt und nichtssagend ausgehen. Und im Grunde trifft das sogar auf die Bereiche zu, von denen man selbst betroffen ist. Denn auch hier werden Dinge generalisiert und ohne Nachzudenken auf andere übertragen. So wie es ja auch bei den hier beschrieben deutschen Trutschen war, die ihre eingeschränkte Erfahrung mit Kindern ungefragt auf andere übertragen, ohne auch nur im Geringsten zu bemerken, daß Kinder nicht alle gleich sind.

Bringt man den Kern der Problematik auf eine Formel, dann geht es nicht um die angeblich zwingende Voraussetzung eigener Erfahrungen. Es geht eigentlich nur um eins: Denken oder Nichtdenken!

Rilke trifft immer...
Die Eltern sollten uns nie das Leben lehren wollen...
denn sie würden uns ihr Leben lehren...

Rainer Maria Rilke
1875 - 1926

Die Gnade der Geburt - nicht die der eigenen, die des Kindes - macht noch keine Experten. Rilke hat das erkannt. Die Pädagogikfachfrauen leider nicht.

...deswegen ist es auch so verheerend, wenn Menschen nicht in der Lage sind, zu reflektieren. Sie geben exakt das weiter, was sie selbst erhalten haben. In meinem Anerkennungsjahr im Kindergarten - und auch in anderen Situationen - konnte ich oftmals fast schon erschreckende Ähnlichkeiten zwischen Eltern und Kindern feststellen. Prügelnde Väter haben beispielsweise sehr oft auch prügelnde Söhne.

Jeder Psychoanalytiker muß eine lange Lehranalyse machen bevor er selbst andere analysiert. Er muß erkennen, wo er projiziert und überträgt, damit er nicht in dem Dilemma der Wiederholung bleibt. Bei der Ausbildung zum Gestalttherapeuten muß ebenfalls erst selbst eine Therapie gemacht werden, damit der eigene Horizont nicht zum allgemeinen Horizont erklärt wird.

Rilke hatte eine schwere Kindheit. Seine Mutter hätte gern eine Tochter gehabt und zwang ihn zum Tragen von Mädchenkleidern. Merkwürdigerweise hat er seine Mutter aber oft mit gloreichen Worten beschrieben (Ödipus?)

Werde gleich mal nachsehen, ob Rilke Kinder hatte.