Bluthochzeit II
Ich habe versucht, weitere Informationen über das Thema
Beschneidung zu finden. Und dabei einen Artikel gefunden, in dem ein islamischer Arzt sich über den Hintergrund der Beschneidung äußert:
Die Beschneidung soll im Neugeborenen Alter, z.B. am 7. Lebenstag, oder später bis zur Geschlechtsreife vollzogen werden. Ist dieser Zeitpunkt überschritten, bzw. erfolgt der Übertritt zum Islam nach der Geschlechtsreife, entfällt die Pflicht. Der empfohlene Charakter dieser Tradition bleibt nichtsdestotrotz bestehen. Ich war ein wenig erstaunt darüber, dass eine im Erwachsenenalter vorgenommene Beschneidung so wenig Bedeutung hat. Dies unterstützt aber meine Vermutung, dass die Beschneidung einen symbolischen Akt der Defloration darstellen soll. So wie die Defloration den Beginn der weiblichen Sexualität darstellen und den Bund mit einem Mann schließen soll, so soll auch die Beschneidung nicht nach der ersten sexuellen Begegnung erfolgen, sondern davor. Für den Bund mit dem Ehemann und den Bund mit Gott wird Exklusivität gefordert.
Dies deckt sich auch mit dem historischen Hintergrund des Islams. Der Islam war immer ein Feldzug gegen Polytheismus und sieht die Vielgötterei als eines der größten Übel an. Nicht nur früher, sondern auch heute, wie die Zerstörung der Buddhastatuen von Bamiyan gezeigt hat. Übertragen auf die symbolische Bedeutung der Beschneidung heißt dies, dass alles unterbunden werden muss, was diesen Bund in seiner Ausschließlichkeit und Reinheit bedroht.
Interessant ist der Mythos, dass Mohammed schon beschnitten zur Welt gekommen sein soll. Diese Vorstellung löst das Dilemma, dass ein wirklicher Bund mit Gott nur durch eine vor der Geschlechtsreife erfolgte Beschneidung geschlossen werden kann.
Zu dem Thema der Auswirkungen der Beschneidung habe ich Beiträge in speziellen Foren gefunden, in denen sich erwachsene Männer über die Folgen der (vorwiegend aus medizinischen Gründen) ihrer Beschneidung äußern. Dabei wird deutlich, dass es sich bei weitem nicht nur um einen kleinen Schnitt handelt, dessen Schmerzhaftigkeit nach kürzester Zeit vorüber ist. Dies wird allerdings von muslimischer Seite anders gesehen. Es sei dahingestellt, ob im nachherein die großen Schmerzen bagatellisiert werden, oder das Klagen über Schmerzen so tabuisiert wird, dass es von vorneherein verdrängt wird. Wobei die Tatsache an sich – also der durch die Beschneidung ausgelöste Schmerz – nicht geleugnet wird, denn gerade das Aufsichnehmen des Schmerzes macht sowohl den Jungen als auch dessen Familie so stolz, da es den Entwicklungsschritt vom Jungen zum Mann darstellt.
Bei dem Argument, dass die Menschenrechte ein höheres Gut als die Religionsfreiheit darstellen, zeigt sich das Problem, dass es „die Menschenrechte“ nicht gibt. Die „Organisation der islamischen Zusammenarbeit“, die 57 Mitgliedsstaaten mit islamischer Staatsreligion umfasst, hat in der „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“ ihre eigenen Vorstellungen von Menschenrechten formuliert. In der Erklärung wird immer wieder Bezug auf die Scharia genommen. Den einzelnen Richtlinien/Verboten wird dann fast immer der Absatz hinzugefügt: "...
außer wenn die Scharia es verlangt." Das realtiviert dann alles, sogar das Verbot des Tötens.
Fasst man all dies zusammen, dann wird zum einem deutlich, warum die Beschneidung im Kindesalter im Islam so eine hohe Bedeutung hat und warum es kaum möglich sein wird, daran etwas zu ändern. Für den Islam ist die wortgetreue Befolgung des Korans und der Sunna ein unantastbares Gut, das nicht diskutierbar ist. Dies wird zusätzlich verstärkt durch eine Haltung, die jegliche Kritik an Teilaspekten des Islams mit grundsätzlicher Islamfeindlichkeit schlechthin gleichgesetzt. Der Islam blendet aus, dass sich in säkularen Gesellschaften ausnahmslos jede Religion einer Auseinandersetzung stellen muss.
Sollte es überhaupt jemals einen Weg geben, um eine Diskussionsbereitschaft zum Problem der Beschneidung im Kindesalter zu wecken, – was ich bezweifle – dann wird dies nur möglich sein, wenn sich alle Beteiligten die Mühe machen, Ursachen und Hintergründe der Positionen der anderen Seite zu ergründen. Jegliche Kritik an religiösen Praktiken grundsätzlich als Islamfeindlichkeit auszulegen hilft dabei genauso wenig, wie jegliche religiöse Überzeugung als geistige Zurückgebliebenheit zu entwerten.
Ich bezweifle, dass es irgendwas mit Entjungferung zu tun hat. Wie ich ja drüben bei mir schon schrieb, sehe ich eher einen Zusammenhang zu einem vorgezeichneten Weg der Sozialisation von Jungen, der natürlich nicht mehr funktioniert, wenn ein junger Mann sich erst in einem Alter entscheiden muss, wenn er das auch tatsächlich kann. Dann ist es möglicherweise zu spät dafür, ihm irgendwelche Regeln aufzuzwingen. Deshalb muss diese Angelegenheit gerade dann abgewickelt werden, wenn ein Kind weder mündig und entscheidungsfähig noch in der Lage ist, zu protestieren. Und da pubertierende Jungen ohnehin rebellieren und man auch diese Rebellion verhindern möchte, macht man das, bevor sie in die Pubertät kommen. So pragmatisch sehe ich das. Der Junge soll den festgelegten, mit dem Gemeinschaftsbild der Community konformen Weg gehen und nicht auf die Idee kommen, selbst zu denken - ebenso wie das Mädchen. Freier Wille und freie Entscheidung sind Begriffe, die hier einfach keine Rolle spielen. Im Vordergrund stehen die Pflichten gegenüber Gott, den Eltern und der Gemeinschaft, auch wenn sie noch so verstaubt und überholt sind.
Der Islam blendet aus, dass sich in säkularen Gesellschaften ausnahmslos jede Religion einer Auseinandersetzung stellen muss. - Ich behaupte mal, dass der Islam überhaupt kein Interesse hat, sich mit Säkularität auseinanderzusetzen. Gerade letztere kritisieren Muslime häufig an westlichen Gesellschaften, denn im Gegensatz zum Islam kennen diese überhaupt eine Trennung weltlicher und religiöser Belange, während der Islam sich mit seinen Anweisungen und Lebensregeln auf alle Bereiche erstreckt und erstrecken will. Eine Trennung ist hier nicht denkbar und auch nicht angestrebt. Aufgrund dieses ganzheitlichen Bildes ist es auch nicht möglich, von einigen lebens-, liebes- und freiheitsfeindlichen Gewohnheiten Abstand zu nehmen. Entweder alles oder gar nichts.
behrens am 28.Jul 12
|
Permalink
Das Eine widerspricht dem Anderen ja nicht, denn natürlich hat es seine Bewandtnis, dass die Beschneidung unbedingt so früh wie möglich oder zumindest vor der Pubertät stattfinden soll.
Der Koran bezieht sich in vielem auf die Bibel und manches ist mehr oder weniger nur eine arabische Übersetzung der hebräischen Bibel. In der Bibel wird (Genesis 17) sehr deutlich gesagt, dass das Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen die Beschneidung ist. Auch wenn dies im Koran nicht explizit übernommen wurde, so wird es in der Sunna dennoch als bindendes Gebot formuliert.
Mich interessieren die Ursprünge von Ritualen oder Mythen sehr. Und für mich ist es nach wie vor ein erstaunliches Phänomen, dass ein religiöses Bekenntnis durch Herumschneiden (=Verletzen) des Geschlechtsteils erfolgen soll.
Im Buddhismus wird den Mönchen und Nonnen beim Eintritt ins Kloster der Kopf geschoren. Es soll einerseits ein sichtbares Zeichen für die Zugehörigkeit des Mönch/Nonnenstandes sein, andererseits auch den Verzicht auf schmückende Zier und Äußerlichkeit ausdrücken. Es mag einem gefallen oder nicht – aber es ist etwas Nachvollziehbares. Bei der Taufe soll das geweihte Wasser eine symbolische Reinigung von den Sünden darstellen und den Bund zu Christus und der christlichen Gemeinschaft besiegeln. Auch wenn man damit überhaupt nichts anfangen kann und für Unsinn hält, so ist die Taufe meines Erachtens zumindest logisch erklärbar.
Es gibt ja noch unzählige andere Beispiele dafür, was Menschen sich alles einfallen lassen, um dem Bekenntnis zu ihrem Glauben Ausdruck zu verleihen. Und sicherlich ist dies auch in einigen anderen Kulturen manchmal mit schmerzhaften und verletzenden Ritualen verbunden. Aber warum dies nun ausgerechnet mit dem Opfern der Vorhaut ausgedrückt wird, ist und bleibt mir ein Rätsel. Und ich fände es sehr interessant, zu versuchen, dieses Rätsel zu lösen.
Warum glaubt Moses, Gott hätte den (männlichen) Menschen auferlegt, ihr Geschlechtsteil zu verletzen? Und warum glaubt Moses, dass die Verletzung eines Geschlechtsteils einen göttlichen Bund herstellt? Und warum hat Mohammed diesen jüdischen Brauch so unhinterfragt als Gesetz übernommen?
dlog am 01.Aug 12
|
Permalink
Weil Moses wie Mohammed Gestalten aus einer Zeit sind, in denen der Begriff von "Gott" ein rein männlich-autoritärer war. Selbst mit Jesus ist es da, gewisse Nuancen ausgeklammert, im Grunde ähnlich.
Junger, männlicher Nachwuchs muss "bluten", um "gereinigt" zu werden, er wird noch heute auf den Schlachtfeldern und in den Firmen verheizt und geschlachtet.
Der weibliche Nachwuchs wiederum hat zu leiden und zu opfern, auszuhalten und zu vergeben. Da macht es auch keinen Unterschied, wenn Frauen männlich werden und es den Vätern (dem "Vater") nachtun.
Es ist so wie mit dem Vieh: Kühe, die Milch geben, sind weiblich. Sie leben länger, dienen, bis sie sterben. Ochsen und Bullen dienen nur dem Nachwuchs oder werden in der Arena verheizt, die meisten männlichen Jungtiere werden schon geschlachtet, bevor sie ausgewachsen sind.
Sorry, falls es nicht verständlich genug sein sollte, aber mir war gerade danach.
behrens am 01.Aug 12
|
Permalink
Dann wäre es allerdings interessant, herauszufinden, ob es bei matriarchalen Gottheiten keine Blutrituale gab, was ich allerdings bezweifle.
Blut spielt in fast allen Opferritualehaben eine sehr große Rolle. Zum einen bekommt es die Bedeutung von etwas Heiligem zum anderen wird es – wie bei der Menstruation und dem Wochenfluss – als unrein tabuisiert. Selbst im christlichen Abendmahl stellt der Wein symbolisch das Blut Christi dar. Allerdings soll gerade damit die Nichterfordernis eines tatsächlichen Blutopfers ausgedrückt werden und das Ritual symbolisiert den Wandel in eine geistige Substanz.
Im Islam gibt es eine merkwürdige Gewichtung. Männer suchen weitaus mehr als Frauen die Moschee auf und es wird im Islam allgemein nicht für zwingend erforderlich gehalten, dass Frauen zum Beten unbedingt eine Moschee aufsuchen. Ein männlicher Muslim drückt seinen Glauben durch Gehorsamkeit gegenüber Gott aus. Eine muslimische Frau drückt den Glauben an Gott durch den Gehorsam gegenüber ihrem Mann aus. Das Wichtigste an dem Gehorsam ist dabei die sexuelle Ausschließlichkeit der Beziehung zum Mann. Diese wird durch das Blut und den Schmerz in der Hochzeitsnacht symbolisiert. Ein Äquivalent für den Mann in seinem Gehorsam zu Gott fehlt allerdings dabei.
Ich würde Deinen Satz Junger, männlicher Nachwuchs muss "bluten", um "gereinigt" zu werden ein wenig umändern in: „bluten“ um Reinheit zu beweisen. So wie die Reinheit der weiblichen Jungfräulichkeit durch Blut bewiesen wird, so stellt auch die Beschneidung einen Beweis für Reinheit dar.
Gar so drastisch wie Herr dlog hätte ich mich wahrscheinlich nicht ausgedrückt, teile aber grundsätzlich seine Auffassung. Die strikte Aufteilung der Welt in den männlichen und den weiblichen Teil (anstelle eines umfassenden Menschheits- und Menschlichkeitsbegriffes) diente immer auch dazu, deutlich zu machen, wer Gott näher und wer "ihm" ferner war und ist ein Kennzeichen aller monotheistischen Religionen. Der Gott ist männlich, was den Mann als solchen in der Rangfolge der Geschlechter erhebt (obwohl ich es eher umgekehrt betrachte - der Mann schuf sich einen Gott nach seinem Bilde, um den Rest der Welt von seiner Überlegenheit zu überzeugen). Nicht nur im Koran, auch in der Bibel ist die Rede von der Unterordnung und Zweitrangigkeit der Frau, und das wird auch durch die entsprechenden Rituale herausgestrichen. Die katholische Kirche weigert sich beispielsweise hartnäckig, Priesterinnen zuzulassen und verweist sie auf den Rang von Hilfsbediensteten.
Ich fasse die Beschneidung schon auch auf als ein Gereinigtwerden, nicht einen Beweis von Reinheit. Unabhängig vom Geschlecht ist es so, dass das Geschlechtliche und alles, was damit zusammenhängt, als unrein betrachtet wird. Nicht umsonst gibt es unter Muslimen die Angewohnheit, während des Geschlechtsaktes zu beten, und die Reinigungsregeln sind, was das betrifft, deutlich. So ist möglicherweise das "Hergeben" der Vorhaut auch als eine Abkehr vom allzu ausschweifenden Geschlechtsleben zu betrachten bzw. als Indienststellung desselben unter das göttliche Gebot als Gegensatz zur ach so gefürchteten Zügellosigkeit (die meines Erachtens aber erst entsteht durch die strenge und unnatürliche Reglementierung des Kontaktes zwischen den Geschlechtern - dazu mal mehr bei mir).
Was die Frau vom Mann grundlegend unterscheidet und sich auch in der Religion niederschlägt, ist so simpel wie bedeutsam: Sie gebiert Kinder. Deshalb tut der Mann alles ihm mögliche, um sich den exklusiven Zugriff auf "seine" Frau zu sichern, und die Umgangsregeln, die daraus folgen, werden häufig religiös begründet. Das Ansehen des Mannes definiert sich nicht zuletzt über die Zahl und das Verhalten seiner Söhne, und das impliziert die strenge Kontrolle der Ehefrau bzw. ferner auch der Schwestern. Denn jeglicher Kontakt zu anderen Männern birgt das Risiko in sich, dass die Frau von jemand anderem schwanger wird als von ihrem Ehemann. Zumindest wird diese Gefahr gesehen und auch entsprechend überbewertet: Schon eine Haarsträhne oder ein bloßliegendes Handgelenk könnte ja die unbeherrschbaren Triebe des Mannes wecken und somit Gefahr bedeuten. Das ist auch der Grund, warum Frauen nicht so oft in die Moschee gehen wie Männer. Dort laufen zu viele andere Männer herum. Nur unter der Kontrolle anderer Frauen ist gesichert, dass keine Ungebührlichkeiten geschehen. Warum also das Risiko größer machen als nötig?
Ich sehe die Gründe für das bisweilen ausgesprochen absurde Verhalten mitnichten in der Beziehung der Gläubigen zu einem Gott und den von ihm erlassenen Regeln, sondern denke, dass sich der Gott immer gerade so gebacken wird, wie man ihn zur Wahrung der Interessen benötigt. Daher benötigt der Mann auch keine Symbolismen für seinen Gottgehorsam, er ist (unter der Voraussetzung des von dlog erwähnten männlich-autoritären Charakters Gottes) ohnehin das Maß aller Dinge. Ihm steht auch die Freiheit zu, Glaubensrichtlinien zu interpretieren bzw. über die Konsequenzen des Abweichens von ihnen zu entscheiden.
Im christlichen Abendmahl ist der Wein in protestantischen Kreisen in der Tat ein Symbol. Nicht so im katholischen Glauben, wo man tatsächlich von der Wandlung in Fleisch und Blut ausgeht. Was für ein kulturelles Relikt die Einverleibung von Fleisch und Blut eines anderen darstellt, ist mir selbst nicht ganz klar. Klar ist aber, dass die Gottheit durch das Vergießen von Blut besänftigt werden soll bzw. kann. Im Fall Jesu Christi wurde ein archaisches Opferritual mit der neuen Idee von Gottes Sohn verknüpft und damit die leibliche Bestrafung bzw. Reinigung von den Sünden zukünftig überflüssig gemacht. Fürderhin reichte es, aufrichtig zu bereuen. Möglicherweise ist das im Hinblick auf Verluste an Menschenleben und physische Verletzung von Körpern in der Tat ein drastischer Fortschritt.
Dass die Pflicht zur Beschneidung nicht aus dem jüdischen Glauben ins Christentum übernommen wurde, ist übrigens einem Politikum zu verdanken und nicht göttlicher Fügung. Heidenchristen sollte dieses Ritual nicht aufgedrängt werden, man verzichtete zugunsten der besseren Chancen zur Bekehrung. Schon damals (wie auch zu Zeiten Mohammeds) orientierte sich die Aufstellung und Auslegung von Regeln an den gesellschaftlichen Gegebenheiten, nicht umgekehrt. Oft, wenn man den Islam bzw. muslimische Lebensregeln kritisiert, bekommt man zur Antwort: "Das hat mit der eigentlichen Religion überhaupt nichts zu tun, das hat soziale/traditionelle Gründe!" Meines Erachtens ist das nicht zu trennen, weil Religion letztlich nur die Bindung der gerade gültigen Gesellschaftsordnung an ein höheres Wesen zum Zwecke ihrer Legitimation bedeutet.
behrens am 03.Aug 12
|
Permalink
Die strikte Aufteilung der Welt in den männlichen und den weiblichen Teil … ist ein Kennzeichen aller monotheistischen Religionen. Die polytheistischen Religionen besitzen diese Aufteilung genauso. Es gibt zwar weibliche Gottheiten, aber die Obergottheit – Zeus, Jupiter, Odin, Brahma e.t.c. – sind immer männlichen Geschlechts. Und man sollte der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt lassen, dass auch in atheistischen Gesellschaften kaum Frauen in den Machtgremien vertreten sind.
Ich sehe die Gründe für das bisweilen ausgesprochen absurde Verhalten mitnichten in der Beziehung der Gläubigen zu einem Gott und den von ihm erlassenen Regeln. Das tue ich auch nicht. Aber auch wenn nicht irgendein Gott bestimmte Gebote verkündet oder aufgetragen hat, so existieren diese Gebote doch als archaische Vorstellungen in den Köpfen der Menschen. Die göttlichen Regeln/Gebote sind Entsprechungen inneren Erlebens. Und dieses innere Erleben mit seiner Symbolik ähnelt sich in allen Kulturen. Bestattungsriten, Hochzeitsrituale, Strafen für Tabuverletzugen mögen noch so unterschiedlich sein, die Tatsache, dass es für diesen Bereiche in allen Kulturen Rituale gibt, macht deutlich, dass es sich um von Menschen als existentiell wichtig empfundene Bereiche handelt.
Ich halte viel von der These C.G. Jungs, für den die verschiedenen Götterbilder ein nach außen projiziertes Bild eines inneren Erlebens darstellen. Aphrodite als vermenschlichtes Symbol für die menschliche Liebe, Athene als Symbol der Weisheit, Ate als Symbol der Zwietracht. Um jetzt wieder auf das Ausgangsthema zurückzukommen – überträgt man diese Sichtweise auf rituelle Handlungen wie eben die Beschneidung, dann wird auch hier eine Symbolik zugrunde liegen. Und darüber diskutieren wir hier ja auch. Was könnte die Ursache für dieses Ritual sein? Wäre Beschneidung ein universelles und allein durch patriarchalische Strukturen bedingtes Ritual, dann würde es zu jeder Religion gehören, was aber ja nicht der Fall ist. Es tauchte plötzlich und unvermutet aus dem Nichts auf, als ein Mann namens Moses meinte, dass Gott ihm dieses Ritual als Bund offenbart hätte.
Ich habe vor einiger Zeit gelesen, dass es bei einigen Indianerstämmen Nordamerikas für den Bräutigam ein ziemlich heftiges Hochzeitsritual gab, bei dem ihm ein Haken durch die Brust gestochen wird, an dem er dann aufgehängt wird. Wenn die Prozedur durchstanden ist, sind die Männer sehr stolz auf ihre Narben. Der Frau wird nichts dergleichen auferlegt, denn sie wird in der Ehe durch Schwangerschaft und Geburt Schmerzen erleiden. Mir fällt außerdem noch ein afrikanischer Stamm ein, in dem die Männer sich symbolisch ins Wochenbett legen, das heißt, den Geburtsvorgang imitieren. Vielleicht sind dies noch matriarchale Relikte, die den tiefen Respekt vor der Leistung der Schwangerschaft und Geburt ausdrücken, die für die Frau mit großem Schmerz und manchmal auch mit dem Verlust ihres Lebens verbunden ist.
Deine Ausführung der Notwendigkeit der Kontrolle der Frau zur Sicherung des „eigenen“ Nachwuchses ist nichts hinzuzufügen. In dem Buch über „Die Frau im Islam“ wird der aussagekräftige (und ungute Assoziationen weckende) Begriff „Genetische Reinhaltung“ dafür verwendet. Die Natur hat nur die Hälfe der Menschheit mit der Fähigkeit des Gebärens ausgestattet. Eine Frau muss nichts anderes tun, als sich ein- bis zwei Minuten mit einem Mann einzulassen, wenn sie ein Kind möchte. Sie kann den Mann sogar völlig seiner Vaterschaft entheben, indem sie ihm gar nicht darüber informiert, dass es sich um sein Kind handelt. Als Freud den Mythos vom Penisneid geschaffen hat, hat er dabei völlig ausgeblendet, dass die Gebährfähigkeit eine viel entscheidendere Macht ist, als die Fähigkeit des Urinierens im Stehen. Ob nun beschnitten oder nicht.
Die polytheistischen Religionen besitzen diese Aufteilung genauso. Es gibt zwar weibliche Gottheiten, aber die Obergottheit – Zeus, Jupiter, Odin, Brahma e.t.c. – sind immer männlichen Geschlechts.
Ich meinte damit eigentlich nicht die Einteilung der Götterwelt. Ich meinte die strikte Trennung der Geschlechter im Alltagsleben, die Zuweisung von ganz bestimmten, begrenzten Aufgabenbereichen für jedes Geschlecht etc. Ganz gewiss wollte ich den Monotheismus als solchen nicht schlechter hinstellen als polytheistische Religionen, aber ich habe das in der Extremform eben nur in monotheistischen Religionen gesehen. Bin aber offen für Aufklärung anhand konkreter Gegenbeispiele.
Und man sollte der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt lassen, dass auch in atheistischen Gesellschaften kaum Frauen in den Machtgremien vertreten sind.
Ich wüsste jetzt keine Gesellschaften, die rein atheistisch geprägt sind. Es ging mir auch nicht um die Machtverteilung - da kommt man ganz schnell in eine Führungskräftedebatte. Mir ging es um die strikte Trennung der Geschlechter und der ihnen zugeschriebenen Aufgaben im Alltag, vom totalen Kontaktverbot bis hin zu fixierten Rollenvorstellungen.
Danke für eure Gedanken dazu, war sehr sehr interessant zu lesen. Schwieriges Thema auf jeden Fall, habe auch sehr viel Neues durch den Beitrag erfahren.
behrens am 20.Jan 13
|
Permalink
Gestern gab es die Serie „Die Özdags“, eine Art Dokusoap über das Leben einer türkischstämmingen Familie. Es gab dabei auch eine kurze Szene, in der ein gerade beschnittener kleiner Junge von der Familie begrüßt wurde. Der kleine Junge trug das typische reich geschmückte Kostüm für diesen Anlass und seine kleine Cousine, die offensichtlich sehr von dem weißen Kostüm angetan war, fragte, warum nur er so ein Kostüm tragen würde. Die Mutter antwortete, dass dies deswegen so wäre, weil es sein ganz persönlicher Festtag sei. „Heute wird er zum Mann“ fügte sie dann noch hinzu.
Das ist genau die Formulierung, die früher für die Defloration benutzt wurde. „Ein Mädchen wurde zur Frau gemacht“ hieß es, wenn eine Frau das erste Mal Sex hatte. Das wurde früher, wo der erste Sex – zumindest offiziell – mit der Hochzeitsnacht zusammenfiel, auch sofort durch die Änderung der Anrede symbolisiert. Der Verniedlichung der Anrede „Fräulein“ konnte sich eine Frau nicht durch ihr Alter entledigen, sondern erst durch ihre Heirat.
Der kleine Junge aus der Doku, der in der Tat an eine festlich geschmückte Braut erinnert, ist durch die Verletzung seines Geschlechtsteils zum „Mann geworden“. Nicht das Alter oder die Reife ist das entscheidende Kriterium, sondern einzig das verletzte Geschlechtsteil. So wie eine Braut sich nach der Hochzeitsnacht vom kleinen „Fräulein“ in eine erwachsene Frau wandelt, so wandelt der Schnitt den Jungen in einen erwachsenen Mann. Und genauso wie die Frau durch ihren Bund mit einem Mann in das Erwachsenenleben eintritt, so tritt der Junge durch den Bund mit Gott in das Erwachsenenleben ein.
b-reeze am 21.Jan 13
|
Permalink
Initiationsriten - und als das sehe ich solche Dinge an - gab es schon zu Zeiten, wo die Menschen noch in Höhlen hausten. Vermute ich jedenfalls.
Irgendetwas in uns möchte wohl einen sichtbaren Übergang von Junge zum Mann oder vom Mädchen zur Frau. Weil wohl die Pubertät zu schleichend und allmählich verläuft, braucht es einfach ein "Date".
Ob man denjenigen jugendlichen Menschen dann für eine Weile alleine entfernt von den anderen meditieren lässt oder ihm ein Stück Haut abscheidet, Ideen gibt es sicher viele.
Es ist ja auch schwer. Pubertierende benehmen sich mal wie Kinder, mal wie Erwachsene und fordern auch beides parallel ein. Da ist es schon sinnvoll im Rahmen einer funktionierenden Gruppe dafür zu sorgen: jetzt ist Schluß mit lustig, ab heute wird das Leben ernst... (und du musst jetzt selber deinen Müll runtertragen ;-))
behrens am 24.Jan 13
|
Permalink
Es gibt die Ansicht, dass früher die Konfirmation so eine Art Einführung in das Erwachsenenleben darstellte. In der Tat durften früher bei uns im Dorf am Konfirmationstag die Jungen das erste Mal rauchen und die Mädchen durften Seidenstrümpfe tragen und durften sich die Zöpfe abschneiden lassen.
Die sehr exessiven Feten mit dem Komasaufen könnten auch als eine Art Initiationsritus angesehen werden. Die gab es auch schon zu meiner Zeit.
Die Beschneidung wird allerdings am kleinen Kind ausgeführt, so dass es eigentlich noch nicht als richtiger Pubertätsritus gewertet werden kann. Es wäre wahrscheinlich fraglich, ob pubertierende Jungen ihren Eltern tatsächlich immer brav Folge leisten würden, so dass der Zeitpunkt bewusst früh gewählt wurde.
Ich habe mich nie besonders intensiv mit der männlichen Beschneidung auseinandergesetzt, aber man kommt um das Thema nicht rum, wenn man viel über die Stellung der Geschlechter, Frauenbeschneidung, Jungfrauenwahn usw. nachdenkt.
Ich finde die Theorie, dass die Beschneidung ein männliches Pendant zur Defloration darstellt, plausibel. Beides ist eine Art Initiationsritual. Die Beschneidung als Zeichen einer Verbundenheit mit dem Gott und Hochzeitsnacht als Zeichen der Verbundenheit mit dem Mann passt zum alttestamentarischen Vorbild: der Mann wird von Gott geschaffen, und die Frau wiederum aus einem Körperteils des Mannes, d.h. ein Miteinander von Frau und Gott hat ohne den Mann keine Existenzberechtigung.
Es gab vor einigen Jahren auch in der Ärzteschaft sehr viel Diskussion über die Beschneidung der Kinder. Aus medizinischer Sicht ist die männliche Beschneidung, auch wenn es ein kleiner Eingriff ist, definitiv eine Körperverletzung, für die es keine gesundheitliche, sondern nur religiöse Grundlage gibt. Ich habe auf einer Fortbildung eine Anästhesistin (Frau Dr. Pabst) kennengelernt, die sich sehr dafür einsetzte, die Beschneidung als Operation zu sehen, die wie alle Operationen eine medizinische Indikation benötigt. Ausgangspunkt war die Verwendung einer Betäubungssalbe (Emla), die für diese Indikation nie zugelassen wurde.
Hier kann man darüber etwas mehr nachlesen:
http://www.bvkj.de/presse/pressemitteilungen/ansicht/article/stellungnahme-drmed-wolfram-hartmann-praesident-des-berufsverbands-der-kinder-und-jugendaerzte/
http://intaktiv.de/abschaffung-von-befunddokumentation-fuer-phimose/
Wo die Beschneidung wohl eine medizinische Begründung haben kann, ist in den Regionen mit hoher HIV-Prävalenz: beschnittene Männer haben geringeres Risiko, sich beim ungeschützten Geschlechtsverkehr mit HIV zu infizieren, wahrscheinlich weil die Eichelhaut nicht so dünn und verletzlich ist.
Die Durchführung der Beschneidung im Erwachsenenalter hat übrigens eine deutlich höhere Komplikationsrate als bei Kindern/Säuglingen, so dass die Verschiebung des Eingriffs um einige Jahre keine echte Alternative sein kann.
Was die ganze Angelegenheit noch komplizierter macht, ist die Tatsache, dass in vielen Ländern Jungs beschnitten werden, die weder Muslime noch Juden sind - z.B. in den USA ist jeder zweite Mann beschnitten, was sich definitiv nicht durch die Religionszugehörigkeit erklären kann, sondern eher eine "Mode" oder Tradition ist. Wie jeder "Sex and the city"-Fan weiß, ist in New York ein unbeschnittener Mann eher eine Ausnahme, die für Unbehagen sorgt ;-) Mich hat damals diese TV-Folge sehr überrascht, ich ging einfach immer davon aus, dass Juden/Muslime beschnitten sind und alle anderen nicht, und habe auch nie mit meiner Familie in den USA über dieses Thema gesprochen (abgesehen davon, dass sie jüdisch sind, insofern hätte es nicht so viel gebracht).
Und auch im Judentum soll es Menschen geben, die die Beschneidung ablehnen, wie uns Remarque im "Schatten in Paradies" lehrt:
"«Wie sind Sie aus Frankreich herausgekommen?«fragte ich Kahn.
«Auf die Weise, die damals normal war. Die groteske. Die Gestapo hatte allmählich Wind bekommen. Eines Tages half mir meine Schnauze nicht mehr weiter, auch nicht mehr der fragwürdige Titel eines Vizekonsuls. Ich wurde verhaftet und mußte mich ausziehen. Man wollte auf die alte Weise feststellen, ob ich ein Jude, ob ich beschnitten sei. Ich weigerte mich, solange ich nur konnte, ich erklärte, Tausende von Christen seien beschnitten, in Amerika praktisch fast alle Männer. Je mehr Ausreden ich suchte, desto zufriedener feixten die Jäger. Sie hatten mich. Es machte ihnen Spaß, mich zappeln zu sehen. Schließlich, als ich verzweifelt schwieg, sagte der Kommandeur, ein Oberlehrer mit Brille, zynisch: >Und nun, du verfluchtes Judenschwein, herunter mit der Hose, zeig dein beschnittenes Ding vor! Dann werden wir es abschneiden und dir zu fressen geben.< Seine Untergebenen, gutaussehende blonde Männer, lachten begeistert. Ich zog mich aus, und sie erstarrten beinahe: ich war nicht beschnitten. Mein Vater war ein aufgeklärter Jude gewesen und hatte diesen Brauch im gemäßigten Klima nicht für notwendig gehalten. «Kahn lächelte.»Sie sehen den Trick. Hätte ich mich sofort aus gezogen, hätte es keinen großen Eindruck gemacht. So waren sie maßlos verblüfft und etwas geniert. >Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?< fragte der Oberlehrer.
>Was?<
>Daß Sie keiner sind.<
(...) sie ließen mich erleichtert laufen. "
Was für spannende Themen für einen Sonntagabend!
:-)
behrens am 07.Nov 16
|
Permalink
Beschneidung gehört natürlich nicht in das Gebiet einer Gynäkologin, aber es ist ja tatsächlich so, wie Sie schreiben – man kommt bei der Beschäftigung mit Geschlechterrollen nicht um dieses Thema herum. Die Links, die Sie mir geschickt haben, sind sehr informativ, besonders diese Aussagen:
Zunächst ist festzustellen, dass es aus medizinischer Sicht keinen Grund gibt, bei minderjährigen und nicht einwilligungsfähigen Knaben die intakte Vorhaut zu entfernen (…) Die männliche Vorhaut ist ein Teil des Hautorgans und erfüllt wichtige Funktionen zum Schutz der sehr empfindlichen Eichel. Sie bedeckt normalerweise die Eichel und schützt sie so vor Schadstoffen, Reibung, Austrocknung und Verletzungen.(…) Religiöse Vorschriften dürfen Ärztinnen und Ärzte in ihrer Fürsorge für ihre Patienten – und unmündige Kinder verdienen hier unsere ganz besondere Fürsorge – nicht beeinflussen.
Ich kann mir jedoch vorstellen, dass diese Positionen einen Affront darstellen für diejenigen Menschen, für die dieses Ritual unverzichtbar ist. Der Hinweis, dass man ja im Kindesalter eine Art „symbolische“ Beschneidung durchführen könnte, hilft da wahrscheinlich nicht wirklich. Ich habe bereits als Jugendliche mitbekommen, dass in Amerika oftmals routinemäßig beschnitten wird, mein Cousin, der dort in den 60er Jahren geboren wurde, wurde auch beschnitten, obwohl die Familie evangelisch ist. Meine Tante hat dies sehr lapidar mit „Das ist hier so üblich“ begründet.
Ich habe übrigens gerade gestern beim Wikipedia-Eintrag zu Waris Dirie ein etwas merkwürdiges Zitat von ihr zur Beschneidung ihres Sohnes gelesen:
„Wir ließen Aleeke im Krankenhaus einen Tag nach seiner Geburt beschneiden. Das ist etwas ganz anderes als weibliche Beschneidung; es sollte niemals Verstümmelung genannt werden, denn es ist keine. Bei Männern wird es aus medizinischen Gründen gemacht, um Reinheit sicherzustellen. Ich hörte Aleeke schreien, als sie es taten, aber er hörte sofort auf, als ich ihn in den Arm nahm. Trotz meiner starken Gefühle die FMG betreffend, weiß ich, daß es das Richtige war, was wir taten. Mein Sohn hat einen wunderschönen Penis. Es sieht so gut und so sauber aus“.
Natürlich ist die Beschneidung von Jungen etwas völlig anderes als die Beschneidung von Mädchen, aber die Formulierung „Reinheit sicherstellen“ und „sauber aussehen“ kann ich nicht wirklich nachempfinden, denn in der Schlussfolgerung heißt dies nichts anderes, als dass unbeschnittene Penisse unrein sind und dreckig aussehen. Ein wenig diskriminierend ist dies wohl schon…
Ich merke immer wieder, wie enorm schwierig es ist, zwei Wünschen gerecht zu werden: einerseits andere Kulturen mit all ihren Gebräuchen, Wertvorstellungen und Strukturen zu akzeptieren und andererseits meine eigenen Werte und ethischen Maßstäbe nicht zu verleugnen. Ich habe beispielsweise überhaupt kein Problem damit, wenn sich erwachsene Männer beschneiden lassen, aber bei einem Kind, das diesen Eingriff niemals rückgängig machen kann, bin ich skeptisch, ob es hierfür wirklich eine Rechtfertigung gibt und ob unsere Gesellschaft dies tatsächlich einfach so akzeptieren muss. Eine Antwort habe ich für mich noch nicht gefunden.
Und um auf das Thema Ihres Blogs zurückzukommen, nämlich der enorme Druck, unter dem junge muslimische Mädchen oftmals stehen, weil der Verlust des intakten Jungfernhäutchens den Ausschluss aus der Gemeinschaft bedeuten kann – ich bin mir nicht sicher, wie weit der Respekt vor anderen Kulturen gehen muss. Solange es keine Berührungspunkte gab, mag ein relativ konfliktfreies Zusammenleben möglich sein. Aber in dem Moment, wo es zum gemeinsamen Schulbesuch, Absolvierung der Ausbildung etc. kommt, sind Konflikte vorprogrammiert und als Sozialarbeiterin bin ich in meinem Arbeitsalltag damit konfrontiert und kann die Augen nicht einfach verschließen, genauso wenig, wie Sie als Ärztin dies können.
In meiner Jugend waren Gynäkologinnen mit dieser Thematik überhaupt nicht konfrontiert. Obwohl es zu dem Zeitpunkt heftige Diskussionen darüber gab, ab wann ein Arzt einem Mädchen die Pille verordnen darf und ob die Eltern informiert werden müssen. Dabei gab es auch ein großes Nord-Südgefälle, in Bayern war es damals sicherlich schwierig, einen Arzt zu finden, der einem Mädchen Selbstbestimmung zugestand. Ich gehöre zu dem glücklichen Jahrgang (1959), der in Hamburg leicht einen Arzt finden konnte, der ohne Wenn-und-Aber die Pille verschrieb.
Ich hätte mir damals niemals träumen lassen, dass es jemals wieder so weit kommen würde, dass Sex vor der Ehe ein Problem darstellen könnte. Wenn ich im Alter von fünfzehn Jahren Ihren Blog gelesen hätte, dann hätte ich Ihre Beschreibungen höchstwahrscheinlich gar nicht geglaubt.
Dass Waris Dirie, ein weltweites Symbol des Kampfes gegen die genitale Verstümmelung, ihren Sohn beschnitten ließ, hätte ich nicht gedacht. Es muss also irgendwo die Grenze verlaufen zwischen dem, was wir als "normal" wahrnehmen (egal ob es schmerzhaft oder unangenehm ist), und dem was nicht "normal" ist oder zumindest in Frage gestellt werden darf. Wer weiß, vielleicht wäre Frau Dirie nie auf die Idee gekommen, gegen die FGM zu kämpfen, hätte sie keine Frauen kennengelernt, die nicht beschnitten sind? Und da die Männer, die sie kennt, alle beschnitten sind, bleibt für die männliche Beschneidung im Bereich des Normalen?
Natürlich hat sie Recht, dass weibliche Beschneidung etwas ganz anderes ist - ab und zu sehe ich z.B. Frauen aus dem Sudan, die die schwerste Form der FGM hatten, häufig bekommen sie aufgrund der ausgedehnten Narben einen geplanten Kaiserschnitt, wenn sie schwanger sind. Man fragt sich dann wirklich, wie man auf solche brutalen Ideen kommen kann...
behrens am 08.Nov 16
|
Permalink
Ich glaube, dass wir beide in unserer Arbeit sehr viel mitbekommen von dem Leid, das Frauen zugefügt wird. Und ich glaube ebenfalls, dass wir dabei auch Hintergründe und Ursachen erfahren, die keine einfache Wahrheit darstellen, weil sie das übliche Schwarz-Weiß-Denken ins Wanken bringen.
Manchmal bin ich froh, nicht nur mit Deutschen zusammen zu sei, weil ich dieses Schubladendenken nicht mehr ertragen kann. Vor einigen Jahren hat ein aus dem Senegal stammender Bekannter allen Ernstes geäußert, dass man alle Frauen beschneiden sollte. Während ein Deutscher höchstwahrscheinlich mit vorwurfsvollem Ton geäußert hätte „Ey Alter, lass uns darüber reden“ hat ein aus Frankreich stammender Freund das einzige Richtige getan. Er brüllte denjenigen laut an, ob er noch bei Trost sei, so etwas zu sagen und fügte hinzu: „Wie würdest du dass finden, wenn man dir dein Geschlechtsteil abschneidet?“ Recht hat er mit seiner Reaktion.
Und hier meine übliche Anmerkung, die ich vorbeugend mache, damit nicht wieder die schlechte Bildung als Ursachenerklärung herhalten muss: der Bekannte aus dem Senegal ist weder Analphabet noch ohne Ausbildung. Er hat einen Schulabschluss und ist – Erzieher!!
Interessanter Gedanke. Ich glaube auch, dass es den Horizont erweitert, wenn man mit Menschen aus anderen Ländern Kontakt hat. Ich glaube, dass sich in jedem Land ein "Mainstream" an öffentlicher Meinung bildet, und man fängt dann an zu glauben, dass alle so denken. Dabei unterscheidet sich dieses Mainstream gravierend, je nachdem in welchem Land man ist.
In dieser Hinsicht war die Flüchtlingskrise und die Berichterstattung darüber sowie die öffentliche Debatte sehr lehrreich. Aspekte, die längst offen und kritisch in Ländern wie Österreich/Schweiz diskutiert wurden, waren bei uns quasi ein "No go". Besonders bei ausländlischen Gästen unserer Talkshows konnte man das gut sehen - ich hatte das Gefühl, dass Frau Mikl-Leitner oder Herr Kurz aus Österreich ziemlich überrascht darüber waren, wie viel Kritik ihnen entgegen kommt, sobald sie ziemlich neutrale Sachen ansprechen - die sie schon längst in ihrem Land diskutierten.
Für einen deutschen Gast wäre wahrscheinlich ein Auftritt im schweizerischen Talkshow ähnlich traumatisierend gewesen, nur in die andere Richtung.
Für mich ist es immer wieder erfrischen, in Polen zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass Polen eine historisch zwar sehr alte, aber auch gleichzeitig ganz junge Demokratie ist. Das Spektrum der Meinungen ist viel breiter, und auch das was diskutiert werden darf auch. Das hat Vor- und Nachteile, aber von der geistigen Enge zumindest keine Spur.
Was die Frauen angeht: ja, ich glaube auch, dass Menschen, die beruflich viel mit Frauen aus verschiedenen Schichten und Kulturkreisen zu tun haben, irgendwann anfangen, über die Ursachen der Gewalt und der Unterdrückung nachzudenken. Das können Armut, fehlende Bildung, Drogen usw. sein, aber auch kulturelle Einflüsse. Für mich beginnt das Problem schon mit solchen banalen Sachen wie Befreiung vom Sportunterricht, die leider häufig von den Schulen abgesegnet wird, mit der Begründung "Das ist bei den so" - in Wirklichkeit ist diese Begründung ziemlich beleidigend, weil sie einer Gruppe von Menschen nicht zutraut, dass sie reflektieren und sich anpassen können. Manchmal höre ich "Das ist bei den so" bei mir im Krankenhaus, wenn junge schwangere Frauen sich offensichtlich besser im Krankenhaus als zu Hause mit ihrem Mann fühlen und mit nicht objektivierbaren Symptomen immer wieder aufgenommen werden. Sie erzählen manchmal, dass sie ihren Mann vor der Hochzeit nicht oder nur sehr flüchtig kannten, dass das kurze Zusammenleben von Gewalterfahrungen geprägt war (auch im Bezug auf die Sexualität - wobei das natürlich auch sehr subjektiv ist) und dass sie sehr schnell nach der Ankunft in Deutschland schwangen wurden. Die Fürsorge und einfach die Ruhe im Krankenhaus erleben sie als etwas ganz positives.
Übrigens: haben Sie eine Sendung mit Seyran Ates über männliche Beschneidung gesehen? Das ist einige Jahre her. Ich erinnere mich, dass sie gesagt hat, froh darüber zu sein, dass sie eine Tochte hat, weil sie sonst in die Bredouille gekommen wäre und nicht wüsste, wie sie sich verhalten soll. Das fiel mir so spontan ein :-)
behrens am 12.Nov 16
|
Permalink
Nein, ich habe zwar schon einige Dokus mit Seyran Ates gesehen, aber nicht ihr Statement über die Beschneidung. Zu diesem Thema habe ich allerdings etwas in einem Buch von Nekla Celek gelesen, ich glaube es war in „Die verlorenen Söhne“. Sie hat den Beschneidungstag mal nicht in der sonst üblichen Weise als schillernden „Ehrentag“ beschrieben, sondern als Tag des Schmerzes, den ein Junge – ob er nun will oder nicht –ohne Klagen durchstehen muss. Der Bredouille, in die Seyran Ates geriet, als sie ein Kind erwartete, erfuhr auch eine Bekannte von mir, wie ich auch schon an anderer Stelle beschrieben habe. Auch sie wünschte sich sehnlichst eine Tochter, um dem Zwang zur Beschneidung zu entgehen. Sie bekam dann einen Sohn, aber da wir uns irgendwann aus den Augen verloren haben, weiß ich nicht, ob sie sich dem Wunsch ihres Mannes gebeugt hat. Andersrum ist die Situation natürlich genauso schwierig – ein muslimischer Mann, der bei seinem Kind auf eine für ihn sehr wichtige Tradition verzichten muss, wird darunter auch leiden.
Ich schweife jetzt mal ein wenig von dem eigentlichen Thema ab, aber in meinem Blog ist Abschweifen ausdrücklich erlaubt. Vor vier Jahren war ich das erste Mal in Polen und habe
hier
ein wenig darüber geschrieben. Ich habe die Reise ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Mutter gemacht und ein Grund für die Wahl des Urlaubslandes war auch, weil ich mir unbedingt den Ort ansehen wollte, an dem meine Mutter aufgewachsen ist: Skolwin/Odermünde in der Nähe von Stettin. Während überall in Polen gebaut und modernisiert wurde, wirkte dieser Ort an vielen Stellen so, wie er wohl auch schon vor etwa siebzig Jahren ausgesehen haben mag, als meine Mutter, ihre Schwestern und meine Oma nach Hamburg flohen.
Dieses Jahr war ich sogar zweimal in Polen: im Frühjahr in Swinemünde und im Sommer in Warschau und Masuren. Normalerweise schreibe ich während eines Urlaubs immer einen Beitrag als Reiseerinnerung, aber diesmal bin ich irgendwie nicht dazu gekommen. In Warschau haben wir einen französischen Freud besucht, der dort seit einigen Jahren mit seiner polnischen Frau wohnt. Masuren ist wunderschön und ich habe dort ein hochinteressantes und sehr bewegendes Gespräch mit einem Ehepaar geführt, beide Ehepartner sind in Polen geboren und wohnen jetzt in Deutschland. Ich merke gerade, dass ich einiges davon wirklich nochmals aufschreiben sollte, weil es unglaublich interessant war, zu erfahren, wie jemand aus Polen die Wende erlebt hat. Übrigens habe ich uns unmittelbar nach der Rückkehr aus Polen in einem polnischen Geschäft zwei große Packungen Piroggen gekauft. Einfach fantastisch!
So, das war jetzt wirklich sehr weit weg vom Thema, aber manchmal muss man auch über schöne Dinge schreiben. Ich lese so viel von und über muslimischen Frauen und manchmal geht es dabei um sehr leidvolle Erfahrungen, so dass es wichtig ist, sich an die schönen Dinge zu erinnern – wie zum Beispiel meine Reisen.
Sie haben Ihren letzten Kommentar versehentlich zweimal eingefügt. Da er absolut identisch ist, habe ich einen gelöscht.
Ich glaube dass das diese Sendung war:
https://m.youtube.com/watch?v=XrjA0YMeHHA
Als ich Ihnen vorher antworte, war ich im Zug und der Empfang war schlecht, wahrscheinlich habe ich deswegen mein Kommentar versehentlich zweimal hochgeladen.
"Die verlorenen Söhne" muss ich noch lesen (kenne nur Die falsche Braut von N. Kelek). Ihr Beitrag über Polen ist sehr schön, da werde ich sicherlich noch etwas schreiben!
Gute Nacht!