Arabischer Stolz – westlicher Atheismus
Ich war ein bisschen überrascht, dass die gerade angesehene Diskussion bei Anne Will über die Tötung Bin Ladens nicht ganz so platt lief, wie die meisten der bisherigen Diskussionen (auch hier in den Blogs).

Vom völkerrechtlichen Standpunkt aus gibt es keine Zwischenpositionen, sondern nur ein ganz klares Nein, denn es handelte sich nicht um zwei Völker, die sich im Kriegszustand befinden. Vom pragmatischen Standpunkt aus, der verhindern will, dass sofort mit Vergeltungsanschlägen gedroht werden würde, wenn man Bin Laden nicht freilässt, ist das Vorgehen wiederum verständlich.

Das eigentlich Problematische ist, dass gegen Terrorismus mit genau den Mitteln vorgegangen wird, die man vorgibt, bekämpfen zu wollen. Da wird es dann unlogisch und in letzter Konsequenz nicht mehr nachvollziehbar. Man will die Werte der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie verteidigen, indem man vermeintliche Feinde wider jegliche rechtsstaatlichen Prinzipien einfach liquidiert.

Herta Däubler-Gmelin sagte, sie hätte Bin Laden gern vor Gericht gesehen und sie wies auf den Eichmann-Prozess hin. Meiner Meinung gibt es allerdings erhebliche Unterschiede zwischen Eichmann und Bin Laden. Das Dritte Reich gab es nicht mehr, als Eichmann in Israel vor Gericht gestellt wurde. Man zog einen Mittäter eines bereits vergangenen Systems, von dem keine unmittelbare Bedrohung mehr ausging, zur Rechenschaft. Al Kaida ist nach wie vor aktiv und stellt Gegenwart dar.

Was allerdings wiederum vergleichbar ist, ist die Tatsache der offenen Auseinandersetzung. Der Eichmann-Prozess stellt für mich ein Lehrstück über den autoritätsgläubigen Charakter dar. Man ist in den Dialog getreten mit jemandem, der Teil eines Massenmordes war. In eben diesen Dialog ist man mit Bin Laden nicht getreten. Und genau wie Herta Däubler-Gmelin empfinde ich dies als ein Versäumnis.

Interessant war der Hinweis des Bruders einer beim Anschlag vom 11/09 ums Leben gekommenen Frau auf die völlige Ignoranz der Ursachen des Terrorismus. Seiner Meinung nach eine Folge der Verteilungsungerechtigkeit. Ich stimme da zwar nicht völlig zu, denn sowohl Bin Laden als auch die Attentäter vom 11/09 entstammten wohlhabenden und gebildeten Familien. Was allerdings die Masse der Mobilisierten betrifft, so muss man zustimmen, denn die große Mehrheit der Sympathisanten gehört der armen und bildungsschwachen Schicht an.

Was mir am meisten gefiel war der Ansicht Richard David-Prechts, der anzweifelte, dass man durch Kriegsbeteiligung in arabischen Ländern etwas für deren Demokratisierung tun würde. Und dann kam der Satz, den ich zehnmal unterstreichen könnte: „Arabische Länder verfügen über einen ungeheuren Stolz, der dadurch erheblich verletzt wird, dass die reichen Industrienationen ihnen vorschreiben wollen, wie sie zu leben hätten“. Genau darum geht es meiner Meinung nach. Dem Westen geht es - zumindest materieller Hinsicht – sehr viel besser. Die reichen Araber lassen ihre Söhne in westlichen Staaten studieren, lassen ihre Krankheiten in den Kliniken westlicher Staaten behandeln und kaufen Qualitätserzeugnisse aus dem Westen. Das versetzt dem Stolz auf die eigene Kultur einen empfindlichen Schlag. Für den der Westen aber erstmal nicht verantwortlich ist, denn niemand zwingt arabische Staaten zur Teilhabe an westlicher Kultur.

Es ist dieser ausgeprägte Stolz der arabischen Länder, der der Grund für die Auflehnung gegen die Vormachtstellung der westlichen Kultur ist. Und dabei verhalten sich die arabischen Länder bemerkenswert inkonsequent, denn einerseits gehen sie genauso wie wir der westlichen Philosophie des Materialismus auf den Leim und andererseits wollen sie ihre Identität behalten.

Die arabische Kultur ist eine Kultur, in der Religion immer noch ein wichtiger Teil der Gesellschaftsordnung ist. In der westlichen Welt hingegen spielt Religion kaum noch eine Rolle. Und nicht nur das, Religion wird von unserer westlichen Kultur mittlerweile als etwas so Rückständiges und Ungebildetes angesehen, dass die meisten sie so schnell wie möglich abgeschaffen möchten. Mit anderen Worten – Staaten, die nicht so säkular wie wir sind, müssen unserer Ideologie zufolge rückständig und ungebildet sein. Für die arabischen Staaten ist dies ein Affront. Trotzdem lassen sie sich von unserer schönen bunten Warenwelt beeindrucken. Das kann nicht funktionieren. Und endet in den Anschlägen des 11/09.

World Trade Center – das Welthandelszentrum. Der Ort, an dem bestimmt wird, was wo gekauft und verkauft wird. Der Ort, an dem sich Macht und Geld konzentriert hatte. Mir tut es um jedes einzelne der Opfer leid. Aber wären bei dem Anschlag keine Menschen ums Leben gekommen – mir hätte es nicht leid getan.

Und jetzt wieder zurück zur Frage, ob Amerika Bin Laden töten durfte oder nicht. Hätte es meiner Meinung nach nicht. Aber mein Mitleid hält sich in Grenzen. Und ich empfinde es als völlig fehl am Platz, jetzt darüber Diskussionen anzuzetteln, ob man sich über Bin Ladens Tod freuen dürfe oder nicht. Man sollte stattdessen mal das tun, was der Bruder eines Opfers vorschlägt: Sich Gedanken über die Verteilungsgerechtigkeit machen. Und darüber hinaus sollte man sich auch mal Gedanken darüber machen, ob der Erhalt und die Steigerung unserer schönen bunten Warenwelt tatsächlich das Optimum einer Kultur darstellt. Und Gedanken darüber, ob tatsächlich jeder Gläubige ein zurückgebliebener Idiot ist.

Und als Hausaufgabe für die arabischen Länder: sich endlich mal Gedanken darüber machen, ob Menschenrechte nicht genauso eine Berechtigung wie Religion haben. Und Gedanken darüber, ob Gleichberechtigung, Demokratie und Freiheit tatsächlich Teufelswerk sind.




Täuschst Du Dich nicht, wenn Du anmerkst, dass Religion im Westen keine Rolle mehr spielt? Ich sehe in vielen Bereichen (und auch hierzulande, nicht nur in "God's own country") eher genau den gegenläufigen Trend... Und genau das halte ich für saumäßig gefährlich.

Und nein, man hätte Bin Laden nicht einfach töten dürfen. Es ist völlig egal, was jemand auf dem Kerbholz hatte. Das gibt nicht das Recht, ein Leben zu nehmen. Denn dann beginnt das Abwägen der Wertigkeit eines Menschen. Sobald sie sich ableitet aus dem, was jemand tat und ob er moralisch gesehen "gut" oder "schlecht" war, beginnen wir, alles zu relativieren. Auch das Recht auf Leben.

Ich kann keinen Hinweis darauf entdecken, dass Religion hier irgendwo noch eine wirklich wichtige Rolle spielt. Ein Beispiel (von vielem) ist der verkaufsoffene Sonntag, der noch vor zwanzig Jahren nicht möglich gewesen wäre, da es damals noch religiöse Relikte gab, die geboten, am Sonntag nicht zu arbeiten. Dieses Gebot kommt heute so lächerlich daher, als würde man von Elfen und Trollen reden. Viele Pfarrbezirke sind so geschrumpft, dass man dazu übergeht, mehrere zusammenzulegen. Volle Kirchen gibt es allenfalls noch an hohen Feiertagen. Kirchenaustritte häufen sich und schon längst ist Taufe oder Konfirmation nur noch für Wenige selbstverständlich. Das Weihnachtsfest ist inzwischen nichts anderes als eine große Einkaufsorgie.

Den gegenläufigen Trend, den Du siehst, kann ich allenfalls darin beobachten, dass Politiker angesichts von steigender Kriminalität und angeblich sinkender Arbeitsmoral verzweifelt versuchen, an die Beibehaltung schwindender Werte zu erinnern. Und dafür ziehen sie dann aus rein pragmatischen Gründen und in Ermangelung anderer Alternativen eventuell Religion heran.

In einer durch und durch materialistischen, technokratischen und fortschrittsgläubigen Gesellschaft ist kein Platz für Religion. Und die Maxime der Selbstverwirklichung der Freiheit des Individuums hat auch nicht unbedingt viel mit Religion gemeinsam. Religiöser Glaube wurde von Freud schon vor vielen Jahren als Neurose bezeichnet, als Nichtablösung vom Wunsch nach dem allmächtigen Vater. Aus marxistischer Sicht ist Religion nichts anderes als eine Flucht vor der grausamen Wirklichkeit, eine Verdrängung gesellschaftlicher Missstände. Wo soll da Religion noch Platz finden? Du selbst hast ja in meinem anderen Blog Religion als Übel bezeichnet, das lediglich die Leine der Herrschenden darstellt. Wenn schon jemand wie Du – die ich als sehr differenziert und nachdenklich empfinde – alle religiösen Menschen über einen Kamm schert, wie soll dann Religion erst bei all denen ankommen, die nicht nachdenken und grundsätzlich nur Allgemeinplätze liefern?

Es gibt in meiner gesamten Verwandtschaft nicht einen, der mehr als ein müdes Lächeln für Religion übrig hat. Im Kreis meiner Betreuerkollegen ist das genauso – bis auf eine einzige Ausnahme (übrigens der einzige Kollege, der unserem Alphamännchen widersprach, hat das etwas zu bedeuten?...), in meinem gesamten Freundeskreis gibt es ebenfalls nur eine einzige Freundin, die religiös ist.

Religion ist mit dem Zeitgeist nicht mehr vereinbar. Jedenfalls nicht in unser abendländischen Kultur. Und das genau ist es, was Muslime, für die Religion nun mal ein wesentlicher Teil der eigenen Identität ist, fürchten. Sie möchten nicht als Deppen angesehen werden. Aber genau das geschieht. Und paradoxerweise gerade von denjenigen ausgehend, die sich als tolerant gegenüber anderen Kulturen definieren. Mit dem Frieden wird es also wohl noch etwas dauern.

Möglicherweise liegt es an unseren unterschiedlichen Lebensumfeldern. Ich kenne einige sehr religiöse Menschen und bin in einem entsprechenden Umfeld groß geworden - das ist vielleicht hier auf dem Land noch ausgeprägter als in der Stadt. Es läuft alles auf die althergebrachte Art und Weise, wie das in konservativ evangelischen Kreisen so ist. Meine Schwester schreibt jedes Mal (obwohl sie von meiner Nicht-Religiosität weiß) mit in ihre Grußkarten, sie wünsche mir Gottes Segen. Im Haus meiner katholischen Schwägerin hängt das Kruzifix im Flur an der Wand, es war ihr wichtig, die Kinder taufen zu lassen und sie religiös zu erziehen. Im Regal steht die Kinderbibel, aus der auch regelmäßig vorgelesen wird. So ist es auch bei meiner Schwester. Meine Tante ist seit Jahrzehnten Mitglied des örtlichen Kirchenrates, mit dabei bei Spendenaktionen, Basar und Kirchenkaffee. Mein Onkel (von der anderen Seite) spielt Orgel und Akkordeon bei den Gottesdiensten. Eine liebe Freundin aus der Schweiz ist sehr religiös, obwohl sie aus der (recht radikalen) Freikirche ihrer Eltern seit geraumer Zeit ausgetreten ist. Zur Zeit ist sie wütend auf Gott, weil ihr Kinderwunsch sich nicht erfüllt. Ob diese Menschen das nun alle nur tun, weil man es eben tut oder eine gewisse gesellschaftliche Anerkennung damit verbunden ist, kann ich Dir nicht sagen. Aber ich weiß, dass ihre Religiosität tief verwurzelt ist.

Auch im staatlichen Bereich läuft nichts ohne entsprechende Kirchenvertreter. Als z.B. vor kurzem die Ethikkommission zum Thema Atomkraft zusammentrat, waren die Vertreter der Kirchen natürlich dabei. "Telepolis" schreibt dazu (und spricht mir aus dem Herzen):

"Lässt sich der atomkritische Töpfer beispielsweise noch recht gut als Vorsitzender vermitteln, so stellt sich doch die Frage, warum mit Ulrich Fischer, Alois Glück und Reinhard Marx gleich drei Vertreter der christlichen Kirche einen Beitrag zur Ausstiegsdebatte liefern sollen. Zwar haben sich alle drei im Zuge der Katastrophe in Japan kritisch zur Atomenergie geäußert, zu kompetenten Gesprächspartnern werden sie dadurch noch nicht."

Bei dem Bürgerradiosender, bei dem ich lange gearbeitet habe, sitzen im Vorstand Kirchenvertreter, und ich weiß, dass es für eine Anstellung dort hinderlich sein kann, wenn man keiner Kirche angehört. Auch medial sind die Kirchen vertreten, z.B. bei Fernsehgottesdiensten in den öffentlich-rechtlichen Sendern. Von den eigenartigen, fanatischen Predigern, die es sonntags auf CNN zu sehen gibt, will ich mal gar nicht anfangen (aber es sei so viel gesagt: Bevor man über Unterschiede in der Radikalität von Christentum und Islam spricht, sollte man hier einen Blick riskieren).

Natürlich kracht die Religiosität mit der zunehmenden Kommerzialisierung und Materialisierung unserer Lebenswelt zusammen, aber ich denke, genau deshalb ist der Rückgriff auf die Religion umso krasser. Dass sich die Kirchenaustritte häufen, sagt indes noch nicht so viel über die tatsächliche Religiosität der Menschen aus. Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass die Leute schlicht die Kirche und ihr unmögliches Gebaren satt haben und deshalb nicht mehr Teil dieses Apparates sein wollen. Zuhause knien sie trotzdem abends mit den Kindern vorm Bett und beten. Ich habe in Foren Leute erlebt, die mir glühend von ihrem persönlichen Schutzengel berichteten - auch dafür braucht man nicht zwangsläufig ein Mitglied der Kirche zu sein oder sich jeden Sonntag auf harte Bänke zu setzen.

Du schreibst:
Wenn schon jemand wie Du – die ich als sehr differenziert und nachdenklich empfinde – alle religiösen Menschen über einen Kamm schert, wie soll dann Religion erst bei all denen ankommen, die nicht nachdenken und grundsätzlich nur Allgemeinplätze liefern?

Ich verstehe, dass Du das so siehst, und Du hast auch nicht ganz unrecht damit. Es stimmt, ich schere über einen Kamm (nicht die religiösen Menschen, sondern die Religionen, aber das merke ich mal nur am Rande an). Denn ich verstehe nicht, was an "unserer" Religion besser sein soll als an der der Muslime, und ja, ich verstehe eine solche Haltung auch als überheblich. Denn genau darin liegt die Gefahr, die ich in Sachen Religion sehe: Jeder kann sich darauf berufen, aber besser, humaner, richtiger zu glauben als der andere. Er muss es ja nicht begründen, denn schließlich beruft er sich auf die Einflüsterungen eines Gottes und behält damit die Deutungshoheit.

Ich habe mir viele Gedanken über Religiosität gemacht, und ich war auch selbst einmal ein sehr religiöser Mensch. Ich betrachte das heute als Station auf meinem Entwicklungsweg. Am Beispiel meiner Schweizer Freundin: Ich kann sehr gut damit umgehen, dass sie an Gott glaubt. Ich muss sie nicht missionieren (und sie mich auch nicht, was möglicherweise die Basis für unseren guten Umgang bildet). Ich verstehe, dass sie für sich persönlich den Gottesglauben braucht. Ich würde niemanden dafür verurteilen, dass er in seinem Privatleben Gerüste benötigt, um mit den Unwägbarkeiten des Lebens (inklusive Tod, Krankheit etc.) umgehen zu können. Der eine macht es so, der andere wieder anders. Auch ich habe den Gottesglauben in meinen Teenagerjahren sehr gebraucht, um nicht zu fallen. Heute ist es eben anders. Ich verstehe heute, welche Funktion die Figur eines liebenden Gottes für mich erfüllte. Kein Problem damit.

Unsere gesellschaftlichen Grundwerte indes sollten keine Religion, keinen Gott brauchen. Du fragst: (...) wie soll dann Religion erst bei all denen ankommen, die nicht nachdenken und grundsätzlich nur Allgemeinplätze liefern? Ja, wie denn? Was ist der Grund, die Religion zu verteidigen, was an ihr ist so schützenswert? Wofür brauchen wir sie? Beispiel: Am Sonntag nicht zu arbeiten lässt sich ganz einfach damit rechtfertigen, dass es unwürdig ist, uns nur als Menschenmaterial zu sehen, das zur Erwirtschaftung von Gewinn dient. Ruhetage sind nötig, wichtig und sinnvoll, weil wir mehr sind als Arbeitsmaschinen und auch mehr sein dürfen müssen. Es kann nicht sein, dass wir zur Rechtfertigung solcher Ruhepausen ein religiöses Motiv brauchen, weil wir zu feige sind, uns gegen den allgemeinen Verwertungstrend zu stellen und Farbe zu bekennen. Zu sagen: "Das ist aber so, weil auch Gott am siebten Tage ruhte!" ist redundant, es sagt nur: "Das ist so, weil es eben so ist!" Und so ist es mit allen religiös motivierten Begründungen. Wir sollten uns schon etwas mehr zutrauen, finde ich.

Ich stolpere auch über Deine Aussage, eigenartigerweise sei es die religiöse Person gewesen, die sich gegen das Alphatier gestellt habe. Heißt das, Religion macht uns grundsätzlich zu besseren, mutigeren Menschen? Das wage ich doch mehr als zu bezweifeln. Es ist schön (aber in meinen Augen Zufall), dass sich aus der religiösen Überzeugung dieses Menschen eine Haltung von Aufrichtigkeit und Courage ableitet. Aber daraus den Umkehrschluss zu ziehen und zu sagen, Menschen ohne Gottesglauben bzw. Religion mangele es an Werten und dem Mut, sie auch zu vertreten, ist doch ein Ausflug auf dünnes Eis.

Ich wollte Dir mit meiner Aussage in Deinem anderen Blog ganz gewiss nicht auf den Schlips treten. Ich ging davon aus, dass es möglich ist, diese Dinge auf Augenhöhe zu diskutieren, so wie es bislang auch immer zwischen uns war, selbst wenn unsere Meinung auseinandergeht. Ich weiß, meine Haltung in dieser Sache ist verhältnismäßig rigoros. Aber ich bin gern bereit, mich darüber auseinanderzusetzen.

In Deinem Beitrag ist soviel Interessantes, dass ich in Etappen antworten werde (habe nämlich gleich Sprechzeit). Denn ich verstehe nicht, was an "unserer" Religion besser sein soll als an der der Muslime, und ja, ich verstehe eine solche Haltung auch als überheblich.

Für mich ist es nicht so sehr das Kriterium „besser“ oder „schlechter“. Ich möchte schlichtweg nicht so leben, wie muslimische Frauen leben. Eine Religion, die dem Mann das Recht einräumt, seine Frau zu schlagen, lehne ich weniger aus moralischen Gründen ab, als vielmehr aus dem ganz einfachen Grund, dass ich nicht geschlagen werden möchte. Auch das sofort von Muslimen angeführte Argument, dass ja nur dann geschlagen wird, wenn es die Frau „verdient“ hat, möchte ich nicht für mich gelten lassen – denn es ist eine Anmaßung, zu meinen, dass jemand Schläge verdient hat.

Das Problem, um das es bei den Konflikten zwischen Muslimen und Christen geht, ist in meinen Augen nicht mehr ein religiöses. In der abendländischen Gesellschaft haben sich die Wertvorstellungen völlig anders entwickelt als in den muslimischen. Das mag durch religiöse Unterschiede entstanden sein, aber mittlerweile ist es völlig unabhängig davon. In unserer Gesellschaft darf sich eine Frau frei bewegen, ist sexuell selbstbestimmt (mehr oder weniger) und kann ihren Mann und selbst ihre Kinder verlassen wann immer sie will. Respekt vor den Eltern ist ebenfalls eine freie Entscheidung und kein verbindliches Gebot. Alte Eltern müssen nicht umsorgt werden, sondern müssen notfalls im Heim leben. Das ist für die gläubige Muslime ein Albtraum. Mit dem Christentum hat dies aber trotzdem nichts zu tun, denn im Abendland wollen die Menschen völlig unabhängig von der Tatsache, ob sie Christen, Atheisten, Heiden oder was auch immer sind, so leben.

Ich habe vor kurzem mit meinem Kollegen über dies Thema diskutiert und er sagte, dass man tolerieren müsse, wenn Frauen so wie im Koran vorgeschrieben leben wollen, denn wir können nicht anderen unsere Werte von Freiheit und Selbstbestimmung überstülpen. Das mag stimmen oder nicht, aber viele muslimische Frauen fangen an, die gleichen Rechte zu fordern. Und da beginnt der Albtraum der Muslime langsam Realität zu werden, auf die sie empfindlich reagieren.

Der Konflikt zwischen den Kulturen ist eben kein religiöser mehr sondern ein kultureller. Kein Christ wirft einem Muslim vor, dass er auf Schweinefleisch verzichten muss und sich beim Beten gen Mekka neigt. Und kein Muslim wirft einem Christen vor, dass er Weihnachten feiert oder zu Beichte geht. Es ist die unterschiedliche Art zu leben, die den Zündstoff liefert. Und wenn Helmut Schmidt uns „westliche Überheblichkeit“ vorwirft, dann heißt das nichts anderes, als dass wir andere Wertvorstellungen akzeptieren sollen. Das stellt er sich aber nun mal einfacher vor, als es ist. Ein gut verdienender männlicher Politiker, der im beschaulichen Hamburg-Lokstedt lebt, weiß nicht unbedingt von den Problemen, die sich am Rande unserer Gesellschaft abspielen.

Nur eine kleine Anmerkung zwischendurch (weil ich ja weiß, dass Du noch weitermachst):

Die kulturellen Begebenheiten, die Du anschneidest, haben zwar faktisch nichts mit Religion zu tun, werden aber religiös begründet. Darin liegt die große Gefahr. Frauenhass, wie er sich in muslimisch geprägten Kulturkreisen niederschlägt, lässt sich nicht vernunftsmäßig argumentieren. Bevor man zugibt, dass es im Kern um den Zugriff auf die Reproduktionsressource Frau geht und um die Angst, sein eigenes Selbstbewusstsein dadurch geschädigt zu sehen, dass einem eine Frau Hörner aufsetzt, schreibt man doch lieber die Lebensregeln Gott oder dem eigenen Religionsstifter zu. Im Übrigen ist das im christlichen Glauben die meiste Zeit nicht anders gewesen, und noch heute wird die Frau in erzkatholischen Kreisen als minderwertig betrachtet (man überlege nur mal, warum Frauen in katholischen Gemeinden zwar niedere Versorgungsdienstleistungen erbringen, aber keine Priesterinnen sein dürfen...). Oder ich denke an die absolut menschenunwürdige Praxis in den USA, Homosexuelle "umzudrehen" und sie in entsprechenden Camps zu einem "gottgefälligen" Leben zu erziehen. Alles das wird religiös begründet, eben weil man weiß, dass diese irrationalen Phobien vor Andersartigen (und damit dem eigenen Machtverlust) keiner vernunftsmäßigen und mitfühlenden Betrachtungsweise standhielten. Religion ist Mittel zum Zweck.

Beim Lesen der Beschreibung Deines religiösen familiären Hintergrunds war ich im ersten Moment ein wenig neidisch, denn es hört sich nach einer Familie an, die Religiosität lebt – was ich von meiner Familie nicht gerade sagen kann. Bei zweiten Lesen dachte ich allerdings „Au Weia, das ist ja fast schon erdrückend“. Ich habe gemischte Gefühle, wenn Kinder religiös erzogen werden. Zum einen halte ich es für gut und zum anderen halte ich es wiederum für eine Anmaßung, jemandem gar nicht die Wahl zu lassen, ob er Christ sein möchte oder nicht.

Auch ich bin in einem kleinen Dorf groß geworden. Aber meine Familie ist alles andere als religiös. Was nicht heißt, dass man nicht auf jeden Fall getauft und konfirmiert werden musste. Das ist es gerade, was ich so gehasst habe – die absolute Scheinheiligkeit und Verlogenheit. Das einzige, was in der Familie väterlicherseits zählte, war Geld und ein eigenes Haus. Und obwohl es absolut unchristlich zuging in meiner Familie, herrschte völliges Unverständnis darüber, dass meine Schwester meine Nichte nicht taufen ließ. Aus diesem Grund bin ich mit 15 Jahren auch aus vollster Überzeugung aus der Kirche ausgetreten. Mir war diese Heuchelei zuwider.

Mittlerweile bin ich wieder eingetreten. Und übrigens sind inzwischen meine Verwandten ausgetreten. Meine wohlhabende Tante hatte auch einen sehr einleuchtenden und zu meiner Familie passenden Grund, der mir noch immer wörtlich im Ohr klingt: „Ich habe mal nachgerechnet, was das kostet an Kirchenbeiträgen. Da bin ich dann aber ausgetreten, das sehe ich nicht ein, soviel Geld zu bezahlen. Ich bin doch nicht doof“.

Du sprichst meinen spitzen Kommentar an und schreibst, dass es in Deinen Augen Zufall ist, dass sich aus der religiösen Überzeugung meines Kollegen eine Haltung aus Aufrichtigkeit und Courage ableitet. Ich bin da hin- und hergerissen. Natürlich gibt es Menschen, die couragiert sind, obwohl sie nicht gläubig sind. Jemand kann zum Beispiel auch aus einer politischen Überzeugung heraus couragiert sein. Aber dennoch passt es einfach wie die Faust aufs Auge, dass diejenigen Kollegen, denen christliche Werte völlig fremd sind, auch jegliche moralischen Bedenken fremd sind. Ob jemand andere Menschen wie den letzten Dreck behandelt und abzockt bis zur Schmerzgrenze – es ist schlichtweg schnurz-piepe-egal, weil das Wertesystem gar keine Werte wie die des zwischenmenschlichen Respekts und der Anteilnahme an anderen beinhaltet.

Ich sehe Religion als etwas an, was zum menschlichen Dasein gehört. Seit es die ersten Spuren der menschlichen Zivilisation gibt, gibt es auch Religionen. Mit der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins hat sich auch das Bewusstsein davon entwickelt, dass die menschliche Existenz nur einen winzigen Teil im unendlichen Kosmos darstellt. Religion ist also quasi ein „Hinblick“ auf das Unendliche (oder wie der Theologe Friedrich Schleiermacher es ausdrückt – "Geschmack am Unendlichen"). Der Mensch war über Jahrtausende nicht säkular, weil zu seinem Menschsein auch der Blick auf das Unendliche gehörte. Das ist etwas, was nun zunehmend verschwindet. Der Ersatz, den sich der Mensch für den Blick aufs Unendliche geschaffen hat, ist allerdings wenig überzeugend.

Als überzeugter Asienfan habe ich tiefen Respekt vor Religion – ansonsten könnte ich gar nicht nach Asien fahren, denn der asiatische Alltag ist geprägt von großer Religiosität. Und die ist beileibe kein Produkt der Angst vor dem Tod, denn im Buddhismus ängstigt man sich ja gerade vor den ewigen Wiedergeburten und wünscht ein dauerhaftes Ende und den Eingang in das Nichts. Ich glaube, dass man vom Buddhismus viel lernen kann, was die Arbeit an sich selbst betrifft. Im Buddhismus geht es ja nicht vorrangig um das Einhalten von Regeln und auch nicht um einen Dschihad gegen andere, sondern es geht um die Beherrschung der eigenen Gefühlswelt. Und das kann in meinen Augen nichts Verwerfliches sein.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich selbst aus der Kirche ausgetreten bin. Pünktlich knapp vor Weihnachten 2009 habe ich mich aus der Kirche verabschiedet. Ich habe einfach keinen Sinn darin gesehen, als "evangelisch-reformiert" geführt zu werden, obwohl ich längst nicht mehr an einen wie auch immer gearteten Gott glaube. Ich habe das als Heuchelei empfunden. Davon mal abgesehen habe ich auch nicht eingesehen, länger die Kirchensteuer zu zahlen.

Du schreibst: Natürlich gibt es Menschen, die couragiert sind, obwohl sie nicht gläubig sind. Jemand kann zum Beispiel auch aus einer politischen Überzeugung heraus couragiert sein. Aber dennoch passt es einfach wie die Faust aufs Auge, dass diejenigen Kollegen, denen christliche Werte völlig fremd sind, auch jegliche moralischen Bedenken fremd sind.

Siehst Du, damit habe ich ein Riesenproblem. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass unsere Gesellschaft ohne den christlichen Glauben nicht wäre, was sie ist. Aber zu folgern, dass jegliches moralisches Handeln grundsätzlich auf einer christlichen Einstellung beruht, finde ich sehr waghalsig. Ich selbst stehe von allen Religionen dem Buddhismus am nächsten, wobei ich ihn eher für eine Weltanschauung denn für eine Religion halte. Ich würde niemals behaupten, ich sei Buddhistin, denn ich persönlich kann als jemand, der nicht im entsprechenden Kulturkreis aufgewachsen ist, diesen nicht einfach so adaptieren. Mir ist beispielsweise auch die Götterwelt, die im tibetischen Buddhismus eine Rolle spielt, schlicht und ergreifend zu fremd. Dennoch gibt es einiges, das mich im Unterschied zu sämtlichen mono- und polytheistischen Religionen am Buddhismus überzeugt. Das ist die Anerkennung der Tatsache, dass Leben auch Leiden bedeutet, das Gebot des Mitgefühls mit anderen lebenden Wesen, und der mangelnde Missionsdrang. Im Übrigen hat mir die Meditation in Zeiten, in denen es mir richtig dreckig ging, sehr geholfen.

Das im Buddhismus auftauchende Mitgefühl, das eine so sehr große Rolle spielt, halte ich für universell. Ich brauche kein altväterliches, autoritäres Gottkonstrukt, das um meinetwillen den eigenen "Sohn" über die Klinge springen lässt, um zu dem Schluss zu kommen, dass wir Menschen nett zu einander sein sollten. Das gebietet mir die Vernunft (oder vielleicht besser gesagt: der gesunde Menschenverstand), denn wenn ich mein eigenes Lebensleiden vollkommen anerkenne und akzeptiere, begreife ich auch das der anderen und entwickle daraus ein entsprechendes Mitgefühl. Nicht das Gebot der Nächstenliebe, das im Christentum mit erhobenem Zeigefinger propagiert wird und sich im Alltag dann oft auf heuchlerische Pflichterfüllung reduziert und sich damit selbst wertlos macht, ist es, was wir im Leben brauchen. Was wir brauchen ist die Einsicht in die Beschaffenheit des eigenen Lebens, der eigenen Seele und damit schließlich auch in die der anderen. Erst dann hat Nächstenliebe auch tatsächlich ein Fundament. Übrigens findet sich im Buddhismus auch Mitgefühl mit der Kreatur, im Gegensatz zur christlichen Grundhaltung "Machet Euch die Erde Untertan". Warum ich das so breit trete? Weil ich damit verdeutlichen will, dass es weder "christliche" noch "politische" Grundlagen braucht, um auf ethisch-moralisch halbwegs anständige Weise miteinander umgehen zu können. Was nötig ist, ist Bewusstwerdung (und nichts anderes bedeutet "Erleuchtung") der Verbundenheit aller Menschen miteinander, und die beruht auf der bewertungsfreien Akzeptanz der eigenen Gefühle.

Ich glaube nicht, dass Religion etwas ist, das einfach vom Himmel fällt. Sie erfüllt eine Funktion. Mit der magischen Besetzung derjenigen Sachverhalte, die man nicht versteht, komme ich sogar noch klar (z.B. was heidnische Fruchtbarkeitskulte u.Ä. anbetrifft). Das finde ich nicht so sehr befremdlich. Du schreibst: Mit der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins hat sich auch das Bewusstsein davon entwickelt, dass die menschliche Existenz nur einen winzigen Teil im unendlichen Kosmos darstellt. Damit umzugehen ist eine schwierige Aufgabe. Es ist eine Sache, sich als diesen winzigen Teil tatsächlich zu begreifen und zu akzeptieren und daraus entsprechende Konsequenzen für das Zusammenleben mit den Wesen dieser Erde zu ziehen. Es ist eine andere, die Furcht vor der eigenen Kleinheit und Sterblichkeit in Berufung auf einen Gott überzukompensieren und sich der Verantwortlichkeit für das eigene Handeln zu entziehen in der Hoffnung, nach dem Tode werde es schon so etwas wie eine abschließende, allumfassende Gerechtigkeit und Vergebung geben. Und unter diesem Gesichtspunkt sortiere ich auch den genannten "arabischen Stolz" ein, denn die heftige Religiosität dieser Menschen ist in meinen Augen nichts anderes als ein Mechanismus zur Kompensation ihrer Unterlegenheitsgefühle, wem gegenüber auch immer (das gilt auch im Bezug auf ihre Frauen, die sie in Gottes Namen deckeln müssen, weil sonst ihr Selbstwert flöten geht).

Was mir übrigens noch zum Thema Arbeit und Materialismus einfällt (als Ex-Protestantin): Die lutherisch-calvinistische Arbeitsethik hat in nicht unerheblichem Maße zur Prägung der Gesellschaft, wie wir sie heute kennen, beigetragen. Und mir fällt wieder meine Mutter ein, die versuchte, mich mit ihren eigenen Lebensweisheiten zu "trösten". Sie schrieb mir vor längerer Zeit, in schlimmen Lebenslagen habe ihr immer wieder geholfen, sich an die Maxime zu halten: "Bete und arbeite, so hilft Gott dir allezeit!"

Unterschiedliche Traumen
„die Furcht vor der eigenen Kleinheit und Sterblichkeit in Berufung auf einen Gott überzukompensieren und sich der Verantwortlichkeit für das eigene Handeln zu entziehen in der Hoffnung, nach dem Tode werde es schon so etwas wie eine abschließende, allumfassende Gerechtigkeit und Vergebung geben.“

Du beschreibst eine Seite der Religion – die ich überhaupt nicht in Abrede stelle – die dem Menschen die Eigenverantwortlichkeit nimmt und Gott als eine Art Manager einstuft, der alles schon irgendwie regeln wird. Dies ist aber nur eine Seite. Es gibt sehr wohl noch andere. Zum Beispiel die der Mystiker, die Gott nicht „irgendwo da oben“ ansiedeln, sondern ihn als eine die Welt durchdringende Kraft ansehen, die der Einzelne in sich selbst spüren kann, mit der er vielleicht sogar identisch ist. Genau wie im Buddhismus wird damit der vom menschlichen Denken als so selbstverständlich vorausgesetzte Dualismus in Frage gestellt. Es geht nicht um die Furcht vor der eigenen Kleinheit, sondern um die Teilhabe an etwas Größeren, das unzweifelhaft vorhanden ist. Manche nennen es Kosmos, manche nennen es Gott oder vielleicht auch Brahman.

Du sprichst die Prädestinationslehre an, die nach Max Weber für den Geist des Kapitalismus verantwortlich sein soll. Der Kapitalismus mit seiner Gier nach immer mehr ist mir genauso verhasst wie Dir. Ob diese Gier aber gerade durch die Prädestinationslehre entstand, ist für mich fraglich. Ich habe nie verstanden, wieso die Meinung, alles sei durch einen Gott vorbestimmt, die Geldgier des Kapitalismus gefördert sein soll. Es ist mindestens genauso naheliegend, die Maxime des „Jeder ist seines Glückes Schmied“ als Antriebsfeder zu sehen. Gerade weil man, wie z.B. im Katholizismus, davon ausgeht, dass Gottes Gnade durch gute Werke für jeden erreichbar ist, hat man doch eine ideale Voraussetzung für das kapitalistische „Alles ist möglich“ geschaffen. Derjenige, der „es zu etwas gebracht hat“ kann dann stolz darauf hinweisen, dass er Gottes Gnade erhalten hat. Er ist dann zwar nicht wie in der Prädestinationslehre vorbestimmt, aber auserwählt und dass steht der Vorbestimmtheit in keiner Weise nach.

Ich musste erstmal nachlesen, was genau evangelisch-reformiert ist. Mir erscheint dies noch spartanischer als das Evangelisch-Lutherische, dem ich angehöre. In sofern passt auch das "Bete und arbeite, so hilft Gott dir allezeit!" Deiner Mutter. Ich finde es fürchterlich, jemandem so etwas als Trost zu sagen. Ein Sich-Drücken vor der Eigenverantwortung und vor Empathie, wie ich es gerade als unvereinbar mit wirklichem Glauben empfinde. Mir scheint, dass wir beide sehr unterschiedlich traumatisiert wurden. Du mit einer Überdosis Religion und ich mit einer durch und durch hohlen Variante der Religion.

Ich habe gerade nochmals einen Satz von Marx herausgefischt (aus http://www.philos-website.de/index.html - übrigens sehr informativ als Quelle!): Da aber das Dasein der Religion das Dasein eines Mangels ist (…) Marx hätte vielleicht auch mal ein bisschen mehr über andere Religionen lesen sollen, denn wenn er sich auch ein wenig mit der Entstehung des Buddhismus beschäftigt hätte, hätte er diesen Unsinn vielleicht nicht von sich gegeben. Buddha lebte als indischer Prinz Gautama Siddharta nicht im Mangel, sondern hatte alle weltlichen Annehmlichkeiten zusammen mit einer machtvollen Position. Trotzdem hat er diese Herrschaft – zusammen mit Besitz und Macht – aus der Hand gegeben, da ihm materielle Güter und hoher Status nicht ausreichten. Die menschliche Existenz besteht nicht nur – so wie es Marx annimmt – aus ausreichender materieller Versorgung, Selbst/Mitbestimmung und Freude an der Arbeit. Es gibt urexistentielle Bereiche, die davon völlig unabhängig sind.

Traumatisiert von einem Übermaß an Religion - so krass würde ich es nicht beschreiben. Es ist nicht so, dass mir die religiöse Erziehung geschadet hätte. Mich hat natürlich irgendwann der Kindergottesdienst genervt, in den ich jeden Sonntag gehen sollte. Nicht immer hatte ich Lust darauf. Die Gebete am Mittagstisch waren eigentlich eher relativ sinnentleerte Rituale, die man halt so machte (was im Hause meiner Tante einen etwas anderen Charakter hatte - dort spürte ich als Kind förmlich den dahinterstehenden Ernst). 9 Jahre katholische Klosterschule (Franziskaner) waren dann aber bisweilen schon anstrengend, denn um die Messen durfte man sich nicht drücken, wenn man sich nicht einen saftigen Verweis einhandeln wollte. Waren einerseits die Franziskaner mit ihrer schlichten, lebensnahen und praktischen Arbeit (z.B. für Straßenkinder in Brasilien) durchaus eine gemäßigte Gruppe innerhalb des Katholizismus, so wurde mir doch hier auch schwummerig angesichts eigenartiger katholischer Rituale wie z.B. der Aschekreuz-Austeilung. Ich will's hier nicht vertiefen, kann aber sagen, dass ich mich mit so allerhand Varianten des christlichen Glaubens (inklusive mancher Heuchelei und Machtgebaren) gründlich auseinandergesetzt habe. Ein Trauma war es aber wohl nicht wirklich.

Es geht nicht um die Furcht vor der eigenen Kleinheit, sondern um die Teilhabe an etwas Größeren, das unzweifelhaft vorhanden ist.

Kommt das nicht im Endeffekt auf dasselbe hinaus? Was wäre, wenn da nichts "Größeres" ist? Ist es nicht letztlich so, dass dieser Gedanke Furcht erzeugt? Ich meine, natürlich sind wir alle Teil von etwas Größerem, Teil dieser Welt und des Universums und mit ihm verbunden. Aber ich denke, Du meinst es wohl eher metaphysisch, und da stimme ich Dir in dem Punkt "das unzweifelhaft vorhanden ist" nicht zu. Wozu brauche ich etwas Übernatürliches, das ich Gott, Kosmos oder wie auch sonst immer nenne? Was, wenn es keinen letzten Sinn, keine übegeordnete Macht, Kraft, Energie oder was auch immer gibt? Lediglich das Leben, das gelebt werden will und dessen ureigenster Sinn eben das Leben ist.

Ist aber auch möglich, dass das jetzt hier zu weit führt. Ich verstehe, was Du sagen willst, und ich kann mit dieser Form der Religiosität auch einigermaßen umgehen, auch wenn ich es selbst anders halte. Du sagst Dir für Dich, Du fühlst Dich spirituell erfüllt und pflegst Deinen ganz privaten Gottesglauben. Aus welchen Motiven heraus Du das tust und ob es Dich eher entmündigt oder eher befähigt zum Umgang mit dem Leben und den Mitmenschen, das ist letztlich Deine Sache. Das ist noch etwas anderes, als "Wahrheiten" zu predigen, permanent alle anderen überzeugen zu müssen und den Anspruch auf Exklusivität zu hegen. Solche Vertreter gibt es aber leider weltweit zur Genüge, und sie stören mich wirklich, weil sie in die Lebenswirklichkeit anderer auf einem Gebiet eingreifen, auf dem diese empfindlich und beeinflussbar sind: Auf dem seelischen. Da geht es um nichts anderes als um Macht, denn wer andersartig denkt und fühlt, wird grundsätzlich als Bedrohung wahrgenommen. Und auf die antwortet man auch gern mal mit Bomben (oder Hexenverbrennung oder was auch immer), wenn es einem einfach zu viel wird.

Auf Weber wollte ich mich nicht unbedingt beziehen, ich wollte nicht so weit gehen, weil ich ihm nicht voll und ganz zustimme. Ich wollte nur anmerken, dass unsere kapitalistische Gesellschaft mit all ihren absurden, menschenfeindlichen Auswüchsen nicht zwangsläufig diametral der christlichen Religion gegenübersteht. Beides ist durchaus unter einen Hut zu bringen.

Die menschliche Existenz besteht nicht nur – so wie es Marx annimmt – aus ausreichender materieller Versorgung, Selbst/Mitbestimmung und Freude an der Arbeit.

Was das betrifft, stimme ich Dir zu. Ich denke auch, dass es in unserem Leben und unserer Welt mehr gibt, als das Auge sieht, und mehr, als wir zur Zeit messen können. Ein Gottesglaube ergibt sich daraus für mich allerdings nicht zwangsläufig.

Für mich ist es nicht die Frage, ob ich Gott, Kosmos oder Ähnliches brauche. Wäre dies tatsächlich der Grund für Glauben, dann würde dies in der Tat eine „Zweck-Religiosität“ darstellen nach der Devise: ich konstruiere mir einfach das, was ich brauche.

Was, wenn es keinen letzten Sinn, keine übergeordnete Macht, Kraft, Energie oder was auch immer gibt?

Ich bin mir trotz Glaubens nicht sicher, ob es einen Sinn im Verständnis von „Sinn im menschlichen Leben“ gibt. Ich sehe das wahrscheinlich eher von der naturwissenschaftlichen Seite. Mir gefällt da die Position Hoimar von Ditfurth, für den unsere Welt nur ein flüchtig anzusehendes Phänomen ist, das nicht mehr als einen winzigen Ausschnitt darstellt. Für ihn steht fest, dass wir nicht das Ende und das Ziel der Entwicklung sein können und für ihn es ebenfalls sicher, dass es uns nicht mehr geben wird, lange bevor die Geschichte des Universums zu ihrem Ende gekommen ist. Ich zitiere mal: „ Das Universum käme auch ohne uns zurecht, und es wird eines Tages mit Gewißheit ohne uns auskommen müssen, ohne daß seine Geschichte deshalb ihren Sinn verlöre, wenn sie denn überhaupt einen hat…Es ist eine aberwitzige Behauptung, daß 13 oder mehr Milliarden Jahre kosmischer Geschichte zu nichts anderem gedient hätten, als dazu, den heutigen Menschen hervorzubringen“.

Mein Glaube ist für mich die Reaktion darauf, dass es völlig unwahrscheinlich ist, dass unsere Menschheit das Zentrum des Universums ist. Ob man dazu die Einbettung in religiöse Rituale braucht, ist vielleicht fraglich. Für mich steckt aber in der Religion ein Hauch von der Ahnung des Größeren, in das unser völlig unwichtiger Erdball eingebettet ist.

Ich finde es interessant, dass die meiste Kritik an der Religion nicht von der Naturwissenschaft kommt, sondern von der Soziologie. Solange es thematisch darum geht, was für Auswirkungen Religion hat, solange ist dagegen auch überhaupt nichts einzuwenden. Aber wenn von soziologischer Seite versucht wird, Religion bzw. jeden einzelnen Gläubigen als Irrtum darzustellen, wird es ziemlich schwierig. Religion ist vom Menschen gemacht – das ist unbestritten. Aber das Bedürfnis, sich mit dem zu befassen, was hinter der menschlichen Existenz steht, ist nicht so einfach als Irrtum, Projektion oder Mangel einzustufen.

Ich finde, Alexandra David-Neél (1868-1969) hat die menschliche Existenz sehr poetisch in Worte gefasst. Alexandra David-Neél kam ursprünglich aus einem katholischen Elternhaus und hat sich später dem tibetischen Buddhismus zugewandt und wurde eine anerkannte Tibet-Expertin.

“Betrachte dir nur eines Abends das Funkeln der Sterne, die man unmöglich zählen kann, denke an die unendlichen Fernen, aus denen dieses kleine schwankende Licht zu uns dringt, das wir von einem jeden von ihnen wahrnehmen. Betrachte die Milchstraße, Staub von Welten, wie es scheint, denke an die Ewigkeiten über Ewigkeiten, die Unendlichkeiten über Unendlichkeiten, in denen alles untergeht, und überlege dir dann, was im Vergleich das Leben eines Menschen, das Leben eines Volkes bedeutet.....“

Es ist schon sehr beeindruckend, was Du über Deine Schulzeit schreibst. Man konnte ja praktisch der Religion nicht mehr aus dem Weg gehen. Ich selbst habe eine sehr religiöse Grundschullehrerin gehabt, allerdings auf einer völlig weltlichen „Volksschule“ wie das damals noch hieß. Im nachherein finde ich es nicht gut, dass Religion nicht nur im dafür bestimmten Religionsunterricht unterrichtet wurde, sondern den ganzen Unterricht immer wieder durchzog. Manchmal denke ich, ich hätte weniger Probleme, wenn mir keine christlichen Werte und Dogmen beigebracht worden wären. Es ist eine paradoxe Situation, die für ein Kind kaum begreifbar ist. Es wird von Nächstenliebe und Einhaltung der Gebote gepredigt, obwohl die übrige Umwelt des Kindes von völlig entgegengesetztem Verhalten bestimmt wird wie Gewalt, Statusdenken, Gleichgültigkeit gegenüber anderen und Egoismus. Wie hat man das nur überlebt….

in der Tat eine „Zweck-Religiosität“ - genau so sehe ich das Phänomen. Auch wenn ich mir darüber im Klaren bin, dass diese Position eine angreifbare ist und natürlich höchst subjektiv.

Denn wenn es stimmt, was Du eben andererseits konstatierst: Religion ist vom Menschen gemacht – das ist unbestritten., dann ist mir immer noch nicht ganz klar, warum der Mensch etwas schaffen sollte, das keinen Zweck erfüllt.

Was ist das denn für ein Gott, auf den sich die drei großen monotheistischen Religionen berufen? Es ist ausgerechnet ein sehr menschförmiger und in vielerlei Hinsicht für uns so wahnsinnig praktischer Gott. Er ist (so steht es geschrieben) ein eifer- und rachsüchtiger, gerechter, liebender, ein bestimmtes Volk vorziehender Gott, etc. etc.) Gäbe es einen solchen Gott, dann würde uns das eine Bedeutung verleihen ("...nach seinem Bilde schuf er ihn..."), die wir einfach nicht haben. Und vielleicht ist es genau das, was wir brauchen und es deshalb erschaffen.

Ich finde es interessant, dass die meiste Kritik an der Religion nicht von der Naturwissenschaft kommt, sondern von der Soziologie. Ist das tatsächlich so? Vielleicht haben es die Naturwissenschaftler nur nicht mehr nötig, zu diskutieren... Ist aber nur eine Mutmaßung.

Auch ich staune über meine eigene Winzigkeit. Neulich brachte mein Mann von einer Astronomiemesse einen gewaltigen, wunderschönen Bildband nach hause, der eben diese Fülle von fernen Galaxien, Sonnen, Nebeln zeigte, die Du Dich auch mit dem Zitat von David-Neél anschneidest. Wir haben keine Ahnung, was sich in all diesen Wolken aus Licht und Materie noch verbirgt, ob wir alles sehen, ob wir alles wissen. Es ist immer schon arrogant vom Menschen gewesen, sich als Krone der "Schöpfung" zu betrachten und seine Existenz als die höchste aller Erscheinungen zu betrachten. Wir sind so dumm und werten, und wer hat eigentlich behauptet, dass unsere ach so intelligente Spezies mehr wert ist als eine Heuschrecke, eine Spinne, eine Amöbe oder eine Raubkatze? Doch nur wir Menschen in unserer Einfalt, denn alle anderen Wesen, die wir kennen, sind weit entfernt von dieser eigenartigen Wertung, sie leben nur einfach und haben uns damit manches voraus...

Aber das Bedürfnis, sich mit dem zu befassen, was hinter der menschlichen Existenz steht, ist nicht so einfach als Irrtum, Projektion oder Mangel einzustufen. Hier gehen unsere Meinungen dann wieder auseinander. Ich denke, wir können nicht damit leben, ein Zufall zu sein, und wir brauchen daher eine Strategie, die es uns ermöglicht, uns aufzuwerten.

Was bedeutet ein Leben? Alles und nichts. Ich halte es gern mit Hermann Hesse: Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben - aber es hat nur ganz genau so viel Sinn,
als wir selber ihm zu geben imstande sind.


Denn in meinen Augen kommt es darauf an, was man für Schlüsse zieht aus dem, was man wahrnimmt. Sich selbst begreifen als unendlich winzig, unendlich unbedeutend und zufällig verleitet mich ganz persönlich dazu, meine Existenz auskosten (und damit meine ich nicht "Saufen und Herumhuren") zu wollen, denn sie ist real. Insbesondere in den Tiefen meiner Depression hat mir der Gedanke geholfen: Ich habe nur diese eine Chance! Wie ich sie nutze, liegt in meiner eigenen Hand.

Ich bin kein vollkommen unspiritueller Mensch, nur weil ich nicht an einen Gott glaube. Gott ist für mich einfach weder die logische noch die sinnvolle Konsequenz aus allem, was ich weiß, spüre, erlebe, denke und begreife. Für mich existiert kein Gott. Ich habe ihn weder jemals gefühlt noch gesehen, hatte keine Visionen von ihm und keine Dialoge mit ihm, und das Leben um mich herum ist in seiner Vielfalt so konsequent und logisch, dass es in meinen Augen auch keines Schöpfers bedarf. Das Leben hat einfach seine Gelegenheit wahrgenommen.

Wieso also braucht das, was Du als Dein spirituelles Erleben schilderst, den Namen Gott, und was hat das alles mit dem Gott zu tun, wie ihn Bibel, Thora und Koran beschreiben? Was ist Deine Vorstellung von Gott?

Vorstellung von Gott
Ich habe an einem Wochenend-Seminar teilgenommen und antworte daher erst heute. Habe aber immer wieder an diese Diskussion gedacht, zumal mein Seminar auch thematisch nicht völlig fern davon war.
Vielleicht haben es die Naturwissenschaftler nur nicht mehr nötig, zu diskutieren... Ist aber nur eine Mutmaßung.
Ich bin mir zwar nicht absolut sicher, weil ich noch nicht allzu viel von Naturwissenschaftler zu dem Thema gelesen habe, aber das, was ich bisher an Statements von Naturwissenschaftlern gelesen habe, deutet absolut nicht auf Atheismus hin. Auch nicht unbedingt auf Religiosität, aber auf das was dazwischen existiert – die Vorstellung, dass es etwas jenseits unseres Vorstellungsvermögens geben kann und dass die menschliche Existenz nur ein verschwindend kleiner Teil eines viel größeren Ganzen ist.

Hier gehen unsere Meinungen dann wieder auseinander. Ich denke, wir können nicht damit leben, ein Zufall zu sein, und wir brauchen daher eine Strategie, die es uns ermöglicht, uns aufzuwerten. Ich sehe eigentlich keinen Widerspruch zu dem, was Du sagst, denn auch ich kann mir durchaus vorstellen, dass wir ein Zufall sind und ich kann mir auch durchaus vorstellen, dass wir ein durch und durch unwichtiges „Nebenprodukt“ der Schöpfung sind. Aber gerade das macht mich sicher, dass es etwas gibt, was in seiner Bedeutung weitaus wichtiger als wir sein muss.

Ich denke, dass man vielleicht auch einen anderen Begriff als „Gott“ benutzen könnte. Und wenn ich darüber nachdenke, ist der Begriff „Gott“ tatsächlich mehr als missverständlich. Am besten kann ich es vielleicht damit erklären, dass ich Religion (und zwar jede), für den Versuch halte, etwas Unfassbares und Unerklärbares zu wandeln in etwas für den Menschen Verständliches. Was dabei herauskam, ist dann etwas, was äußerst naiv erscheint. Und zu Recht hat sich der erste Religionskritiker Xenophanes darüber lustig gemacht. Ihm zufolge schufen nicht die Götter die Menschen, sondern die Menschen die Götter und sein Satz: „Wenn die Pferde Götter hätten, sähen sie wie Pferde aus“ bringt auf den Punkt, dass jeder seine eigene Vorstellung in sein Gottesbild projiziert.

Aber auch wenn Xenophanes’ Theorie richtig ist, bleibt dennoch die Möglichkeit, dass jeder Religion ein wahrer Funke innewohnt. Im Menschen gibt es das Bedürfnis nach Transzendenz, das heißt, dass es eine Ahnung davon gibt, dass es auch außerhalb der menschlichen Wahrnehmung eine Realität gibt. Und wie Naturwissenschafter formuliert haben, sind wir Menschen durch unser dreidimensionales Denken eingeschränkt.

Vielleicht ist Gott für mich Ursprung, Unendlichkeit und Zeitlosigkeit. In Religion spiegelt sich etwas davon wieder.

Was bedeutet für Dich Meditation? Ist es nur eine Entspannungsmethode oder bedeutet es mehr?

Du sagst, dass man nicht einfach Sozialverhalten und Zivilcourage auf einen christlichen bzw. religiösen Hintergrund zurückführen kann. Du hast, insbesondere in meinem anderen Blog, eine Meinung zum Ausdruck gebracht, die für mich eine gewisse Solidarität darstellt mit denjenigen, die von unserer Gesellschaft benachteiligt sind. Nachdem ich jetzt ein wenig über Deinen Lebenslauf gelesen habe, frage ich mich aber doch, ob dies nicht auch damit zusammen hängen könnte, dass Du nicht auf irgendein naturwissenschaftliches oder Wirtschaftsgymnasium gegangen bist, sondern auf eine Klosterschule. Sehe ich das völlig falsch, oder hat die christliche Erziehung Deine Einstellung gegenüber Ungerechtigkeit beeinflusst?

Was die Naturwissenschaftler anbetrifft, kann ich Dir zwei Titel nennen, auf die ich jüngst stieß, die ich aber auch noch nicht gelesen habe. Wenn Du willst, schlage ich sie für Dich nach.

Ich denke, die Gleichung Naturwissenschaftler = Atheist geht sicher nicht auf, zumal ein Naturwissenschaftler auch nur ein Mensch ist. Außerdem ist Naturwissenschaftler nicht gleich Naturwissenschaftler (ist er Physiker, Biologe, Geologe oder was auch immer?). Ich betrachte auch die Naturwissenschaften nicht als den Königsweg zur Erkenntnis, denn wir haben mal den Fehler gemacht, den Menschen in Körper, Geist und Seele aufzutrennen, und die Naturwissenschaft richtet gern, ähnlich wie die Medizin, den Blick nur auf das Stoffliche.

Zum Thema Zufall ist es möglich, dass ich meine Meinung noch ein wenig revidiere oder verfeinere, aber das mache ich, wenn ich durch Richard Dawkins' "Der Gotteswahn" vollständig durch bin, das derzeit auf meinem Nachttisch liegt.

"Im Menschen gibt es das Bedürfnis nach Transzendenz, das heißt, dass es eine Ahnung davon gibt, dass es auch außerhalb der menschlichen Wahrnehmung eine Realität gibt." Natürlich gibt es die. Etwas anderes anzunehmen wäre arrogant. Aber so ist der Mensch nun einmal, weshalb er auch gern glaubt, von Gott nach dessen Bild geschaffen worden und die Krone der Schöpfung zu sein.

Was Meditation für mich bedeutet? Ich habe sie schätzen gelernt als eine Methode, mich in äußerste Konzentration und Wachheit zu versetzen. Ich meditiere nicht über einen Gegenstand (auch keinen gedanklichen - es soll ja auch Meditationen wie "Engelmeditation" und ähnliches geben...). Ich sitze einfach, fokussiere, konzentriere mich auf das Atmen und die Gegenwart und komme dann in einen Zustand des äußersten Daseins (ich weiß nicht, wie ich das sonst umschreiben soll). Bisweilen fühlt es sich so an, als sei mein Körper nicht mehr da, ähnlich wie beim Autogenen Training auch. Es ist Gegenwärtigkeit. Das hilft mir, mich selbst wahrzunehmen und nicht zu werten.

Ob meine Lebenshaltung aus meiner christlichen Erziehung heraus entstanden ist, kann ich Dir nicht abschließend beantworten. Ich denke, wenn ich behauptete, das sei ganz sicher nicht der Fall, dann wäre das vermessen. Letztlich ist aber ausschlaggebend, dass ich selbst Mitgefühl und Nächstenliebe erfahren habe, nicht aus welchen Motiven heraus. Nur wer das erlebt, kann schließlich auch selbst mitfühlen, sich solidarisch erklären und für etwas eintreten. Wenn der Gottesglaube meine Mitmenschen dazu bewogen hat, mir gegenüber so zu sein, wie sie waren, dann ist das ein netter Nebeneffekt dieser Religion. Aber Gottesglaube ist keine absolut notwendige Vorbedingung. Ich kann allerdings sagen, dass meine persönliche Einstellung auch daher rührt, dass ich mich offen mit den selbst erfahrenen Verletzungen auseinandergesetzt habe. Hätte ich sie verdrängt, dann könnte ich mich nicht einfühlen, weil das zu gefährlich für mich wäre. So aber begreife ich mein eigenes Menschsein und damit das der anderen und muss sie weniger verurteilen (auch wenn ich das in meiner Menschlichkeit natürlich weiterhin tue).

Ich würde gern den Buchtipp von Dir haben. Ich habe auch zwei Buchtipps, in denen es um die naturwissenschaftliche Sicht auf die Religion geht.

„Gottes geheime Gedanken“ von V.J.Becker

Betrachtung westlicher Physik und östlicher Mystik zum Thema Gott und Geist, Urknall und Universum.

„Wir sind nicht nur von dieser Welt“ von Hoimar von Ditfurth
Frage danach, wie sich religiöse Interpretation der Welt und des Menschen mit ihrer wissenschaftlichen Erklärbarkeit verträgt.

Dann wollte ich noch auf das Thema Frau im Islam/Christentum eingehen, das von Dir angeschnitten wurde.

und noch heute wird die Frau in erzkatholischen Kreisen als minderwertig betrachtet (man überlege nur mal, warum Frauen in katholischen Gemeinden zwar niedere Versorgungsdienstleistungen erbringen, aber keine Priesterinnen sein dürfen...). Oder ich denke an die absolut menschenunwürdige Praxis in den USA, Homosexuelle "umzudrehen" und sie in entsprechenden Camps zu einem "gottgefälligen" Leben zu erziehen. Alles das wird religiös begründe t(…)

Ich würde niemals auf den Gedanken kommen, dass die Frau im Christentum gleichberechtigt ist. Aber so schwer der Kampf für Gleichberechtigung dort auch sein mag – er ist immerhin möglich. Das Gleiche gilt für die abendländische Kultur, auch hier sind wir noch weit entfernt von einer wirklichen Gleichberechtigung. Aber auch hier ist der Kampf trotz aller Schwierigkeit und aller Rückschritte möglich. Im Islam als Religion und in der islamischen Kultur sieht dies ganz anders aus. Hier riskieren Frauen Kopf und Kragen, wenn sie sich widersetzen.

Schaut man sich unsere patriarchalische Kirchengeschichte an, dann gibt es ausschließlich Männer in Machtpositionen. Allerdings haben Frauen zu jeder Zeit Einfluss genommen. Sie haben Klöster gegründet, haben sich in das Sozialwesen eingeschaltet, indem sie aktiv an der Gründung von karitativen Einrichtungen mitgewirkt haben, sie haben als Mäzeninnen gewirkt und sie haben sich Bildung angeeignet und weitergegeben. Es gab immer auch die Möglichkeit, ein anderes Leben als das der Ehefrau und Mutter zu wählen.

Im Islam ist diese Möglichkeit kaum vorhanden. Eine Frau, die keinem Mann untergeordnet ist, wurde und wird als Gefahr angesehen. Die Frau hat lediglich im privaten Bereich gewirkt und auch da konnte der Ehemann/Sohn jederzeit in ihre Entscheidungen eingreifen. Das Leben der wohlhabenden Frauen im Harem war durch eine starre Hierarchie geprägt in der es nur darum ging, durch die Geburt von Söhnen in der Rangliste höher zu steigen.

Auch bei uns wurde die Mutter eines unehelichen Kindes geächtet und von armen Familien oft (aber nicht immer) verstoßen und von wohlhabenden Familien in ein Kloster gesteckt. Aber es gibt einen gravierenden Unterschied zu islamischen Kultur, in der die Tatsache eines nichtehelichen Verkehrs (es muss noch nicht einmal zu einer Schwangerschaft gekommen sein) oftmals mit dem Mord an der Frau geahndet wurde.

Es erregt mein schieres Entsetzen, dass noch heute im Jahr 2011 in einer Familie Töchter, die ihr Leben selbstbestimmt leben wollen, mit dem Tod bestraft werden. Eine Frau oder ein Mädchen, die einfach nur ein Minimum an Selbstbestimmtheit leben wollen, müssen mit der Todesstrafe rechnen. Ehrenmord wird dies genannt.

Diese islamische Werteskala löst bei mir Fassungslosigkeit aus. Die Tatsache, dass ein Mord als ehrenhaft angesehen wird, während das Verhalten einer Frau, die einfach nur mal allein weggehen oder einen Freund haben möchte, als unehrenhaft angesehen wird, ist einfach nur verachtenswert. Einen Mörder in der Familie zu haben wird als wesentlich normaler empfunden, als einen (weiblichen) Menschen, der sich einfach nur nicht einsperren lassen will – diese Moral will ich nicht akzeptieren müssen. Helmuth Schmidt mag mir westliche Überheblichkeit vorwerfen, aber ich kann nun mal nicht aus meiner westlichen Haut und ich will nicht in einer Gesellschaft leben, in der das Leben einer Frau keinen Wert hat.

gewissensfrage
ich denke aber auch, dass es in vielen situationen eher eine frage der moral als der ethik.
moral, das ist, was man mit seinem eigenen gewissen verantworten kann, ethik ist verhalten, was man von einer gruppe erwartet.
meiner meinung nach hat die meinung eines einzelnen in jedem fall mehr gewicht als entscheidungen einer gruppe.
zwar werden die moralischen vorstellungen von umwelt, erziehung, bildungen und erfahrungen geprägt, jedoch ist moral immer die letzte instanz.
letztendlich der kleine "gott" in uns, der uns sagt, was richtig und was falsch ist.
das einzige, wovor man sich rechtfertigen muss.

zum anderen halte ich es für eine schande, wenn leute auf der straße regelrecht feiern, dass bin laden ermordet wurde.
tod und vor allem mord, sollten niemals, wirklich niemals ein grund zum feiern oder auch nur zur freude sein.
das ist etwas schlimmes für alle menschen, dessen sollten wir uns bewusst sein.

Ich weiß nicht, ob man die individuellen Entscheidungen grundsätzlich von denen der Gruppe trennen kann, da der Einzelne nun mal auch Mitglied der Gruppe ist. Außerdem gibt es ja auch immer wieder Situationen, in denen sich eine Art "Hordenmentalität" bildet, indem der andere sein Gewissen an einen Korpsgeist delegiert.

Es wird wahrscheinlich kein Individuum gegen, das völlig frei von moralischen Wertsystemen ist. Aber manchmal ist dies doch arg eingeschränkt auf die engsten Familienmitglieder. Ich frage mich, ob man das dann wirklich noch Moral nennen kann und es sich nicht vielmehr um einen ausgeprägten erweiterten Egoismus handelt, der zu leidvollen Lasten anderer Menschen geht. Es geht dann vielleicht weniger um das „richtig oder falsch“, sondern um „gut für mich und die Familie“.

Wenn Menschen den Tod eines anderen Menschen feiern, kann das zwei Gründe haben. Der eine ist ein Ausdruck des Triumphs, eine Art Siegesfest, das zum Ausdruck bringen soll, dass man zu den stolzen überlegenen Siegern gehört. In Anbetracht einer Ermordung ist das eine mehr als zweifelhafte Reaktion.

Der andere Grund für das Feiern des Todes eines Menschen ist ein Ausdruck der Befreiung von Gewalt und Unterdrückung. So mag es z.B. vielen ergangen sein, als sie vom Tode Hitlers gehört haben. Ich kann mich auch noch vage daran erinnern, dass Francos Tod von der DKP gefeiert wurde. Fand ich befremdlich, aber dennoch nicht ganz unverständlich, denn Franco hat sehr viel Leid verursacht und es ist legitim, sich zu freuen, dass das Leiden endlich ein Ende hat.

nun ist das individuum an sich natürlich immer an eine gruppe gebunden.
es bewegt sich in dieser, will in dieser fungieren.
was ich meine ist aber, dass die entscheidung eines individuums zwar immer beeinflusst wird, von dem, was um es herum geschieht, jedoch sollte es sich aus keinen umständen etwas beugen, was es nicht für richtig hält, aus angst. angst, nicht dazuzugehören. angst vor den konsequenzen.
das schlimmste an der modernen welt ist die feigheit. dieser verrat der eigenen überzeugungen.

was für die gesellschaft wichtig, gut und von vorteil ist, wird meistens leider nicht bedacht, da hast du recht. dieser egoismus. dieses reine "was ist für mich das beste?". das sind dinge, die früher gar nicht vorgekommen wären. weil diese unglaubliche möglichkeit, eigenständig locker überleben zu können, ohne nett zu jemandem sein zu müssen, ohne sich an andere anpassen zu müssen es einem menschen ziemlich leicht machen, ein kompletter arsch zu sein, und das mit recht. weil es manchmal einfach leichter ist.

freude, aufgrund der ende eines leids, ist eine sache.
freude, aufgrund ausübung eines leids eine ganz andere.
es gibt freunde von mir, die ich eigentlich relativ schätze, und mit denen man auch gut reden kann. aber sie sagen, wortwörtlich, dass sie gerne selbst den abzug gedrückt hätte, der osama bin laden letztendlich tötete. dass ihm noch ivel mehr leid und grausamkeit hätte wiederfahren sollen. dass er es verdient hat, zu sterben, dass er zu tode gefoltert werden sollte, dass sie gerne das blut aus seinem kopf hätten schießen gesehen. und diese menschen leben hier, in deutschland. nebenann von dir, vielleicht. freude an leid, das ist das wahrlich grausame.
die menschen sind verliebt in den tod.

das schlimmste an der modernen welt ist die feigheit. dieser verrat der eigenen überzeugungen.

Das spricht mir aus der Seele. Wobei ich mir gar nicht mehr sicher bin, ob eine Überzeugung überhaupt bestanden hat, wenn man diese bei der erstbesten Gelegenheit verrät. Wenn jemand beispielsweise einen Freund verrät, dann kann es mit der Freundschaft nicht allzu gut bestellt gewesen sein.

Im kaufmännischen Denken gibt es keine Überzeugung. Automatisch ist man von dem überzeugt, was den optimalen Nutzen bringt. Es gibt ja auch den treffenden Ausdruck „Sich gut verkaufen“. Wer sich verkauft, der gehört sich nicht mehr. Der steckt irgendwo anders, aber nicht mehr in der eigenen Haut.