Verlorenes und Wiedergefundenes
War nach längerer Zeit mal wieder in meinem Heimatdorf im Alten Land. Und wie immer war dies aufwühlend. Einerseits die Dinge, die unverändert sind, wie die Pracht der Obstblüte, die Schönheit der über 400 Jahre alten Kirche und die alten Bauernhäuser mit dem Altländer Tor. Und andererseits die Dinge, die sich völlig verändert haben. Durch die Airbuserweiterung wurden Häuser aufgekauft, die jetzt leer stehen und langsam verfallen, wodurch der Eindruck einer Geisterstadt entsteht. Da das Versprechen von mehr Arbeitsplätzen mittlerweile zu etwas fast schon Heiligem geworden ist, vor dem man sich ehrfürchtig beugen muss, konnte die Airbuserweiterung nach anfänglichem Protest durchgesetzt werden. Mit den vielen neuen Arbeitsplätzen hat es trotz allem nicht geklappt.

Das alte Strohdachhaus meiner Großeltern, das Haus meiner Freundin, unsere Schule und der Spielplatz vor der Kirche – alles erscheint immer viel kleiner, als man es aus der Kindheit in Erinnerung hat. Bei den Apfelbäumen hat dies übrigens einen ganz realen Grund: die früher großen und ein wenig verknorpelten Apfelbäume sind einer Züchtung von kleinen Bäumen gewichen, da man jetzt ohne Leiter Apfel ernten kann. Erinnert mich ein wenig an Bonsai-Bäumchen. Schon lange gibt es auch die sogenannten Klappermühlen nicht mehr, deren Klang für mich immer mit dem Sommer verbunden war. Jetzt schützt man sich vor den hungrigen Vögeln mit großen Netzen.

Ich sah mir auch die schöne alte Kirche an, in der ich und diverse meiner Vorfahren getauft wurden und in der ebenfalls meine Vorfahren geheiratet hatten und konfirmiert wurden. Und bevor man eine spezielle Beerdigungskapelle geschaffen hatte, wurde dort auch der Trauergottesdienst abgehalten.

Und jetzt möchte ich kurz die Geschichte dieses Fotos erklären. Als Kind bin ich mit meiner Freundin einmal über den alten Friedhof gegangen. Der um die Kirche angelegte alte Friedhof wurde schon seit vielen Jahren nicht mehr genutzt und es gab nur noch sehr alte Gräber. Auf evangelischen Friedhöfen ist es eher unüblich, Grabsteine mit Fotos zu versehen und so fiel uns beiden sofort der einzige Grabstein mit einem Foto auf. Das Foto zeigt eine Frau in der Altländer Tracht. Meine Freundin und ich waren sehr beeindruckt. Irgendwann wurden dann die meisten der Gräber bis auf einige wenige entfernt.

Vor einigen Jahren als Erwachsene besuchten meine Freundin und ich wieder unser Heimatdorf und dabei auch die Kirche und den alten Friedhof. Und wir waren über alles enttäuscht, dass „unser“ Grabstein nicht mehr vorhanden war. Ich erinnere noch, wie meine Freundin nochmals betonte, wie ungewöhnlich der Grabsein sei und wie schade, dass man alles der Modernisierung opferte.

Meine Freundin war genau wie ich eine Liebhaberin alles Alten und genau wie ich liebte sie Reetdachhäuser, Kachelöfen und alte Möbel. So konnte sie sich immer wieder darüber aufregen, dass die inzwischen in ihrem Elternhaus lebende Familie als erstes den alten schönen Kachelofen rausriss und stolz die Zentralheizung präsentierte. Und genau wie ich empfand sie es ausgenommenen Stilbruch, dass man die alten mit viel Schnitzereien verzierten Eingangstüren der Bauernhäuser durch geschmacklose 60er Jahre Kunststofftüren ersetzt hatte.

Als ich jetzt wieder einmal über den alten Friedhof ging, nahm ich mir sehr viel Zeit für jedes Grab. Und plötzlich stand ich vor „unserem“ Grab. Irgendwie mussten wir es bei unserem letzten Besuch übersehen haben. Ich dachte sofort an meine Freundin, die inzwischen verstorben ist. Gern würde ich es ihr erzählen, dass die Freunde der gnadenlosen Modernisierung doch soviel Erbarmen hatten, den schönen alten Grabstein nicht zu zerstören.

Von dem Paradies unserer Kindheit ist inzwischen viel zerstört worden. Immer dem Prinzip folgend, dass Altes dem Neuen weichen muss. Zumindest dann, wenn es um Geld geht oder um Rationalisierung. Es ist so wenig übrig von dem, was mir vertraut ist und was mir etwas bedeutet. Und deswegen hat dieses kleine Fundstück für mich soviel Bedeutung. Die Frau auf dem Bild, die irgendwann Mitte 1800 gestorben ist, kenn ich nicht. Und trotzdem bedeutet mir ihr Grabstein etwas.




Dass auf den Apfelbaumplantagen heutzutage die Bäume mit niedrigen Stamm gepflanzt werden, hat nicht nur mit den Leitern zu tun. Ein Streuobstbaum macht in einem Jahr Blüten und Äpfel, im nächsten Jahr Holztriebe, habe ich mir einmal erklären lassen. Solche Schwankungen können sich die Obstbauern nicht leisten. An den kleinwüchsigen Bäumen sind die eh dauernd zu Gange. Damit die Äpfel gescheit gedeihen, dünnen sie beispielsweise die Früchte aus, wenn sie etwa so groß sind wie ein Zwei-Euro-Stück. An jedem Baum machen sie mehr Äpfel ab, als sie hinterher ernten. Für jeden reifen Apfel sind vorher ein bis zwei Äpfel entfernt worden.

Die Bäume auf den Streuobstwiesen sehen aber eindeutig schöner aus. :-)

Das ist ja interessant, was man mit Züchtung alles erreichen kann. Und da ich von meinen Großeltern weiß, wie hart das Leben von Bauern ist, verstehe ich natürlich auch, dass man dieses Wissen nutzt. Allerdings ist mir bei den "normalen" Apfelbäumen nie aufgefallen, dass sie in einem Jahr nur Holztrieb machen. Aber wahrscheinlich ist das auch nur relativ, also in einem Jahr mehr Holztrieb und in einem Jahr mehr Blüten, denn ich habe im Herbst noch nie einen Apfelbaum ohne Äpfel gesehen. Aber wenn ich überlege, dass in meiner Kindheit mal alle Bauern schwarze Fahnen aus dem Fenster hingen, weil ein Kilo Äpfel nur ein paar Pfennige kosteten und dies einige fast ruiniert hat, dann gibt es gute Gründe, optimal zu züchten.

Gott-sei-Dank stehen an den Wegesrändern und Deichen aber noch die alten "antiquierten" Bäume meiner Kindheit, die ich genauso wie Sie viel, viel schöner finde.