Persönliches und kollektives Verzeihen
Ich interessiere mich eigentlich relativ wenig für die Papstwahl, da meiner Einschätzung nach mit ziemlicher Sicherheit sowieso niemand zum Papst gewählt werden würde, der sich für entscheidende Reformen einsetzen wird. Aber da ich nun mal gerade den Laptop in Betrieb hatte, habe ich bei Ansehen der Nachrichten bei Erwähnung des Namens Jorge Mario Bergoglio diesen sofort bei Wikipedia eingegeben – und war völlig erstaunt, dass ein paar Sekunden nach Verkündigung dieses Namens automatisch zu Franziskus I weitergeleitet wurde.

Und dann schockierte es mich doch, zu lesen, dass es wohl Bergoglio war, dessen Denunziation dazu geführt hatte, dass Franz Jalics entführt und monatelang in Geiselhaft gehalten wurde.

Franz Jalics hat jahrelang an diesem Trauma gelitten und alles versucht, um die Hintergründe offenzulegen. Und er beschreibt, wie er irgendwann die Entscheidung traf, seinen Entführern und deren Helfern zu verzeihen. Und wie er daraufhin alle schon vorhandenen schriftlichen Beweismittel verbrannte. Es wird somit wohl immer im Dunkeln bleiben, welche Rolle Bergoglio tatsächlich bei der Entführung spielte. Und jemand wie Franz Jalics wird dies auch innerlich akzeptieren.

Bleibt die Frage, ob der Rest der Welt das auch tun sollte.




Mir ist es ähnlich ergangen. ;) Gemeinsam mit meinem Freund vor dem Fernseher sitzend, erfuhr ich über die Internetseite einer Zeitung den Kardinalsnamen des Papstes (Die Tonqualität der Fernsehübertragung war unglücklicherweise nicht ausreichend...) und wollte dann ein paar Informationen einholen. Auch wir waren einerseits sehr erstaunt, andererseits aber auch fast belustigt und amüsiert, dass wir auf einer bekannten, aber durchaus in Verruf geratenen Informationsseite sofort weitergeleitet wurden.

In der Diskussions-Spalte der Wikipedia fragte einer der Bearbeiter nach, ob man diese alten Geschichten nicht allmählich vergessen könne, die müssten doch nicht unbedingt aufgeführt werden.

Es wechselt jemand vom Status eines Menschen in den Status eines unfehlbaren Halbgottes. Was erwartet man da? Dass all seine Menschlichkeiten nach den Wünschen mancher jetzt am liebsten unter den Tisch fallen sollen, kann ich nachvollziehen, auch wenn ich das nicht gut heiße.

Andererseits: Vorher hat's keine Sau interessiert. So, wie das Unrecht, dass weltweit durch viele, viele Menschen ohne großen Namen tagtäglich begangen wird, keine Sau interessiert. Klar, man kann argumentieren, dass dieser Mann nun in einer Stellung ist, in der er richtungsweisend für die moralischen Auffassungen einer ganzen religiösen Gemeinschaft ist, und die sind bekanntermaßen bei den Katholen recht strikt (bei manchen mehr, bei manchen weniger). Dennoch hat es etwas heuchlerisches, wenn man den Mann jetzt besonders (damit meine ich: deutlich mehr als vorher) in den Fokus nimmt, weil er Papst ist. Mag sein, dass ich das so sehe, weil ich Atheistin bin und den Papst daher auch nur als einen von vielen Menschen betrachte.

Oftmals kommen bestimmte dunkle Punkte in der Biographie erst dann zutage, wenn eine hohe Position besetzt wird. Mich hätte es schon interessiert, da ich ein wenig von Franz Jalics Biographie kenne, aber er schweigt sich ja aus den genannten Gründen aus. Es berührt mich wirklich sehr eigentümlich, dass ich jetzt doch einen Namen der Denunzianten kenne und genau derjenige jetzt Papst ist.

Es gibt kaum Menschen, die sich niemals irgendeiner Tat schuldig gemacht haben, für mich ist es das Entscheidende, ob sich jemand klar von seinen Fehlern distanziert. Fehler bergen immer die Chance des Dazulernens – vorausgesetzt man identifiziert etwas auch als Fehler. Ich habe hier ja auch schon einmal über Günter Grass geschrieben, dem ich nicht vorwerfe, dass er als sehr junger Mann in der Waffen-SS war, aber es sehr wohl kritisiere, dass er erbarmungslos mit jedem ins Gericht geht, der in irgendeiner Form im NS-Regime mitgemacht hat. Die Unfehlbarkeit ist irgendwie eine merkwürdige Sache. Einerseits hat wohl jeder das Bedürfnis nach jemandem, der fehlerlos ist und dem man blind vertrauen kann. Andererseits weiß man als Erwachsener, dass es so etwas nicht geben kann. Ich bin mir übrigens nicht sicher, ob sich der Status der Unfehlbarkeit auch auf die Zeit vor der Ernennung zum Papst bezieht. Wäre mal interessant, denn dann könnte sich auch ein Papst öffentlich zu seinem Fehler bekennen. Und speziell bei diesem Fehler (ich meine in Bezug auf die Nähe zur Militärjunta) gäbe es die große Chance, etwas endlich einmal öffentlich aufzuarbeiten.

Genau das wird glaube ich nicht geschehen. Mein Eindruck ist (und das spiegelt sich ja auch in der Namensänderung), dass wir eigentlich von zwei Personen sprechen. Auf der einen Seite über den Priester und Mensch Jorge Mario Bergoglio, auf der anderen Seite über Papst Franziskus, der wie neu geboren ist und nichts auf seiner Lebenskarte stehen hat.

Zudem halte ich die Fähigkeit des Eingestehens von Fehlern in der katholischen Kirche für nicht ausreichend ausgeprägt. Das hat sich an den Missbrauchsfällen gezeigt, und das wird sich auch nicht ändern. Fehlbarkeit zuzugeben ist in den Augen vieler gleichbedeutend mit einer Einbuße an Autorität und Glaubwürdigkeit, nicht zuletzt auch an Macht.

Dass es sich im Grunde andersherum verhält und dass man Authentizität und den Respekt anderer gewinnen kann dadurch, dass man sich als Mensch verhält und akzeptiert ist eine nicht sehr weit verbreitete Erkenntnis - nicht nur in klerikalen Kreisen.

Gerade eben habe ich bei einem Interview vernommen, dass der Überlebende der Entführung durch die Militärjunta – und das muss dann ja wohl Franz Jalics sein – geäußert haben soll: „Wir sind im Reinen miteinander!“. Und ich bin völlig hin- und hergerissen zwischen Akzeptanz und Aufbegehren. Ich gebe ja ehrlich zu, dass ich viel mehr von Jalics’ Fähigkeit haben sollte, zu verzeihen und etwas abzuhaken. Aber da ist nun mal auch die andere Seite. Die, die immer nur verdeckt und verheimlicht.

Es muss ja überhaupt nicht dazu kommen, dass es zu einem Gemetzel von Anklage und Verteidigung kommt. Aber es wäre doch zumindest denkbar, dass der Papst sich zu den vorhandenen Vorwürfen äußert und bekennt, dass er nicht richtig gehandelt hat. Das würde von menschlicher Größe zeugen und wäre dem, was man christlich nennt, sehr viel näher als das bewusste Totschweigen.

Aber Du hast sicher recht – genau das wird natürlich nicht geschehen.

@philosophicus
Wie erklärst Du Dir die superschnelle Reaktion von Wikipedia? Haben die für alle potentiellen Kandidaten schon eine "Papstversion" angefertigt und dann bei Bekanntgabe schnell den Richtigen eingefügt? Oder haben die bessere Verbindungen als der Rest der Welt?

Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung und eigentlich hab' ich mir auch nicht so wirklich Gedanken darüber gemacht, aber jetzt wo du fragst, ist es natürlich die Frage wert...
Grundsätzlich denke ich wohl, dass das Einfügen des neuen Titels der Seite und des Halbsatzes (... und seit [Datum] Papst... oder so ähnlich) nicht unbedingt viel Zeit in Anspruch nimmt. Vielleicht hatten sie alle Seiten der verschiedenen Kardinäle (beziehungsweise der Kardinäle, die in der engeren Auswahl waren) offen und haben schon überall das richtige rausgelöscht und eingefügt.
Die "Vorab-Papstversion" erscheint mir dahingehend unlogisch, da ja der neue Name noch nicht bekannt war...

Sicher bin ich mir in keiner Richtung. Wer weiß denn schon, was die da so alles treiben... ;)