Sonntag, 27. April 2014
Ein Film, der unter die Haut geht – Armut und Würde
„Durch Armut, das heißt durch ein einfaches Leben und wenig Zwischenfälle, festige und kristallisiere ich mich wie Dunst oder Flüssigkeit durch Kälte. Es ist eine einzigartige Konzentration von Kraft, Energie und Aroma. Enthaltsamkeit ist ein ständiges Bekenntnis zum All. Mein zerstreutes, nebelhaftes Leben wird wie die Eisblumen und Frostnadeln, die an einem Wintermorgen an den Kräutern und Stoppeln wie Edelsteine glitzern. Ihr glaubt, daß ich mich selbst arm mache, indem ich mich von den Menschen zurückziehe, aber in meiner Einsamkeit habe ich mir ein seidenes Gewebe wie eine Schmetterlingspuppe gesponnen, und gleich einer Nymphe werde ich in Bälde als ein vollkommeneres Wesen hervorgehen, einer höheren Gesellschaft würdig. Durch Einfachheit, gewöhnlich Armut genannt, ist mein Leben konzentriert und damit organisiert, ein Kosmos, während es vorher unorganisch und knotig war.
Henry David Thoreau (1817 - 1862)

In dem Film „Die Summe meiner einzelnen Teile“ geht es um jemanden, der mehr oder weniger schlagartig aus der gesellschaftlichen Normalität hinausgedrängt wird und sich plötzlich am Rande der Gesellschaft wiederfindet. Der junge Mathematiklehrer Martin verliert durch eine psychische Erkrankung seine Arbeit, seine Beziehung und schließlich auch seine Wohnung. Obdachlos campiert er in leerstehenden Häusern, wo er den Jungen Viktor trifft, der vor kurzem seine Mutter verloren hat und der ebenfalls kein Zuhause mehr hat. Die beiden freunden sich an und wohnen schließlich gemeinsam im Wald in einer selbstgebauten Hütte.

Den Anfang des Films empfand ich als extrem bedrückend. Jemand wird in relativ stabilem Zustand aus stationärer psychiatrischer Behandlung entlassen und hat den Wunsch, seine Arbeit wieder aufzunehmen, was jedoch daran scheitert, dass der Chef ihn nicht mehr weiterbeschäftigen will. Als die Freundin die Beziehung beendet, verfällt Martin in Apathie und kümmert sich um nichts mehr, so dass die Miete nicht mehr bezahlt wird und er die Wohnungskündigung erhält. Dies endet damit, dass morgens der Gerichtsvollzieher die Tür aufbrechen lässt und gewaltsam in seine Wohnung eindringt um ihm zu eröffnen, dass diese jetzt geräumt wird. Man kann sich eigentlich kaum etwas Schrecklicheres vorstellen, als morgens in aller Frühe von einem Rollkommando überfallen zu werden und mit einem Schlag sein Zuhause und alles, was dazugehört zu verlieren.

Was dann geschieht, hat bei mir eine merkwürdige Mischung von Gefühlen ausgelöst, denn zum einen verursacht das durch den Arbeits- und Wohnungsverlust entstandene Elend Entsetzen und Mitleid und zum anderen wird genau hinter diesem Elend eine sonderbare Form der Freiheit und Autonomie deutlich. Freiheit, die nur dann entstehen kann, wenn es nichts mehr zu verlieren gibt und man keinen Zwängen mehr unterliegt. Ein bisschen erinnert mich die Situation auch an unsere Hamburger Bauwagengruppe, die aus Menschen besteht, die auf fließend Wasser und Strom verzichten und in Bauwagen campieren. Das Leben in einem Bauwagencamp bietet diesen Menschen ganz offensichtlich Vorteile, die Leben auf wenigen Quadratmetern mit Plumsklo und Ofenheizung aufwiegen.

Es ist ein äußerst heikles Thema, wenn Armut in irgendeiner Form idealisiert wird und Menschen, die im Überfluss leben, sollten damit mehr als vorsichtig sein. Zu leicht bagatellisiert man die vielen Probleme, die mit Armut und dem Leben am Rande der Gesellschaft verbunden sind. Dennoch kann man nicht die Augen davor verschließen, dass Armut den Menschen zurückwirft auf sein eigentliches Sein. Es geht nicht mehr um ein gepflegtes Erscheinungsbild, nicht mehr um die einwandfreie Rasur und das akkurat gebügelte Hemd, sondern es geht ums reine Überleben. Um die Existenz.

Der Film wirft die Frage auf, ob Armut grundsätzlich mit entwürdigenden Lebensbedingungen verbunden sein muss, oder ob nicht gerade die radikale Abkehr von allen gesellschaftlichen Abhängigkeiten eine Form der Würde beinhalten kann, die gerade darin begründet ist, dass man einen Zustand der Autonomie erreicht hat, der innerhalb der gesellschaftlichen Zwänge gar nicht mehr möglich ist. Wobei man einräumen muss, dass es kaum noch Nischen gibt, die frei von Zwängen sind. Im Film wird daher auch irgendwann die selbstgebaute Hütte abgerissen und Martin erneut in die Psychiatrie eingewiesen. Und auch das von mir erwähnte Bauwagencamp muss ständig eine Zwangsräumung fürchten.

Sehr berührend ist die Freundschaft zwischen Martin und Viktor. Zwei verlorene Seelen, die beide sehr viel Leid erlebt haben, geben sich gegenseitig Halt. Viktor spricht kein Deutsch, so dass Sprache als Kommunikationsmittel ausgeschlossen ist. Trotzdem tut dies der tiefen Freundschaft keinen Abbruch, denn es sind nicht Worte, über die Verbindung hergestellt wird, sondern die gegenseitige Fürsorge ist das Ausschlaggebende. Fürsorge ist übrigens ein veraltetes und mittlerweile verachtetes Wort, wie mir gerade einfällt und trotzdem möchte ich kein anderes verwenden, denn es ist eben genau das Füreinander-Sorge-Tragen, was das Besondere der Beziehung der beiden darstellt.

Als ich diesen beeindruckenden Film nachklingen ließ, fiele mir der Ausspruch Thoreaus ein: „Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, daß ich gar nicht gelebt hatte.“ Als ich dann ein wenig mehr von Thoreau las, fand ich die eingangs zitierten Worte, die für mich beeindruckend beschreiben, dass Armut auch noch eine andere Seite haben kann, als die des Elends. Auch wenn es ein großer Unterschied ist, ob Armut freiwillig gewählt wurde, wie es bei Thoreau der Fall war, oder ob Armut unfreiwillig durch einen Schicksalsschlag verursacht wird, wie hier im Film dargestellt – Armut kann ein bewusstes und würdevolles Nein zu allem Überflüssigen und zu entfremdeten Wertmaßstäben darstellen.



Freitag, 26. April 2013
Man sieht sich immer zweimal im Leben?
Mit dieser alten Volksweisheit ist gemeint, dass man jemanden, der einem Schaden zugefügt hat, irgendwann wieder trifft und die Situation dann umgekehrt ist. Sei es, dass beim Wiedersehen die Möglichkeit des Heimzahlens besteht, sei es, dass der Betreffende inzwischen auch in irgendeiner Form Schaden erlitten hat.

Und genau daran glaube ich nicht im Geringsten. Es wäre zu schön, wenn es eine ausgleichende Gerechtigkeit geben würde, aber leider wird dies immer frommes Wunschdenken bleiben.

Sicherlich gibt es Kausalitätsketten und jemand, der anderen Menschen immer wieder Schaden zufügt, wird irgendwann auch entsprechende Reaktionen ernten. Aber wirklich sicher ist dies nicht und zumindest vergeht bis dahin meist sehr viel Zeit, in der derjenige ungehindert weiter sein Unwesen treiben kann. Und oftmals haben sich gerade jene Menschen, die auf anderen herumtrampeln, Positionen geschaffen, die bestens Schutz gewähren. Denn genau darin sind solche Menschen Spezialisten – im Entwickeln von wohl geschützten Positionen, die mit viel Macht verbunden sind Und irgendwie schaffen sie es doch immer wieder, ihren Kopf geschickt aus der Schlinge zu ziehen, wenn es um die Konsequenzen ihres Handelns geht.

Nein, leider sieht man sich nicht immer zweimal oder falls doch, hat sich oftmals an der Konstellation nicht das Geringste geändert. Es gibt keine höhere Macht, die dafür sorgt, dass jeder seine Chance auf eine Revanche oder eine Genugtuung erhält.



Mittwoch, 6. März 2013
Wie mögen sie sich wohl fühlen?
Ich frage mich manchmal, ob die beiden noch inhaftierten Frauen von Pussy Riot es wohl mitunter bereuen, für ihren Mut mit zwei Jahren strenger Lagerhaft büßen zu müssen.

Wie ich heute in einem Bericht im Spiegel las, wurden von Seiten des russischen Staates versucht, die Solidarität unter den Frauen zu untergraben, indem man einen Spitzel auf sie ansetzte. Und dabei wurden auch Briefe zitiert, die aus der Haft geschrieben wurden, in denen es darum geht, sich nicht in die Knie zwingen zu lassen. Eine der Frauen schrieb,, dass es das Wichtigste für sie sei, noch in den Spiegel schauen zu können.

Und an diesem Satz bin ich hängengeblieben. Ist es wirklich das Wichtigste, noch in den Spiegel schauen zu können, wenn man dafür unendlich viel Leid auf sich nehmen muss? Ob der Frau – ich glaube, es war Nadeschda Tolokonnikowa - nicht manchmal auch Zweifel kommen? Und erblickt sie im Spiegel nicht mitunter ein verbittertes und trauriges Gesicht? Bereut man es nicht mitunter doch, auf den bequemen und angenehmen Weg verzichtet zu haben, um seinen Idealen treu zu bleiben? Was die Frauen getan haben und auf sich nehmen, zeugt von großem Mut. Aber können der Mut und die Überzeugung, für die Freiheit zu kämpfen wirklich immer darüber hinweghelfen, dass zwei Jahre der Jugend gestohlen wurden?

Und auf der anderen Seite sitzt dieser erbärmliche ehemalige KGB-Leiter, der keinen Gedanken an andere Menschen verschwendet und dem es nie auf etwas anderes ankam, als seine feiste Position zu erhalten, die mit einer Fülle von Macht und Privilegien ausgestattet ist. Wie ich gerade gelesen habe, hat sich dieses Alphatier Anfang der 90er zum orthodoxen Glauben bekannt. Just nach den Umwälzung durch die Perestroika, durch die ein Glaubensbekenntnis nicht mehr mit gesellschaftlichem Abstieg verbunden war – kluges Timing.

Die Welt ist nicht gerecht und wird es nie sein. Und der ungeheure Mut der zwei Frauen, gegen Unrecht anzutreten macht sie zu Heldinnen. Aber dennoch bleibt für mich die Frage, ob es am Ende eines Lebens der Held ist oder aber der Opportunist, der etwas bereut. Ein Opportunist hat alle Vorteile genossen, die mit opportunistischem Verhalten verbunden sind während der Held durch seinen Mut auf vieles verzichten musste.

Was bleibt, ist dann nur die Sache mit dem Spiegel, in den man noch schauen kann.



Montag, 18. Februar 2013
Ideale sind unsterblich
Auch wenn ich schon diverse Male Dokumentationen und natürlich auch die beiden Spielfilme über die Weiße Rose angesehen habe, so fesselt mich dieses Thema immer wieder aufs Neue. So auch heute bei der Reportage „Sophie Scholl – allen Gewalten zum Trotz…“ aus dem Jahr 2005. Und ich erliege meist auch der Versuchung, anschließend im Internet zu stöbern um mehr zu erfahren. Und wie bei anderen verwandten Themen wird mir dabei immer schmerzlich bewusst, dass die Zeitzeugen langsam aussterben. Anneliese Knoop-Graf starb im Jahr 2009 und Susanne Hirzel im Dezember vergangenen Jahres. Zwei Frauen, die auch im hohen Alter geistig noch hellwach waren und sich bei ihren Schilderungen noch so erregen können, als wäre alles erst vor kurzem geschehen.

Sophie Scholl wurde nur 21 und ihr Bruder Hans nur 24 Jahre alt. Hans Scholl rief nach der Verkündung seines Todesurteils "Freiheit". Mir fällt dabei die Zeile eines Lieds von Joan Baez ein (die kennt wahrscheinlich heute niemand mehr) über den Gewerkschaftsführer Joe Hill, der zu Unrecht zum Tode verurteilt wurde: „Takes more than guns to kill a man, says Joe – I didn't die". Und etwas davon ist wahr, denn wenn jemand für seine humanistischen Ideale hingerichtet wird, so kann dies immer nur in Bezug auf seine physische Existenz geschehen, nicht für seine Ideen. Die werden dadurch erst unsterblich.

Vielleicht ziehen mich deswegen die Berichte über Widerstandskämpfer so an, es geht im Grunde dabei um etwas Metaphysisches – um die Unsterblichkeit. Etwas, das – allen Gewalten zum Trotz, wie Sophie Scholl formuliert – unbesiegbar ist.



Sonntag, 20. Januar 2013
Brauchen wir wirklich eine Hierarchie des Bösen?
Seit einigen Tagen schlafe ich schlecht. Dies liegt an meiner Lektüre vor dem Schlafengehen. Ich lese weder Vampirgeschichten noch spannende Krimis. Ich lese Berichte über die Zeit des Stalinismus. Vom Aufstieg Josef Stalins bis zu seinem Tod – Zeitdokumente, Chroniken und viele Bilder, die das Blut in den Adern gefrieren lassen. Während ich mich durch die Berichte quäle – und es ist manchmal tatsächlich ein Quälen – fallen mir zwangsläufig die Berichte von den Insassen der Konzentrationslager des Dritten Reichs ein. Hunger, eisige Kälte, Schikanen der Aufseher und die Allgegenwärtigkeit des Todes.

Einige Zeit zuvor hatte ich ein wenig über die Weimarer Republik gelesen. Über eine Demokratie, die von Anfang an kaum eine Chance hatte in einer Gesellschaft, die nicht durch Dialog, sondern durch Straßenkämpfe bestimmt war. In der sich Nationalsozialisten und Kommunisten gleichermaßen gewaltbereit gegenüber standen.

Auch wenn das damalige Nachrichtensystem mit dem heutigen kaum vergleichbar ist, so ist das Ausmaß der stalinistischen Schreckensherrschaft mit seinen Säuberungsaktionen, seinen Liquidierungen und den Internierungen in den Gulags den anderen europäischen Staaten nicht verborgen geblieben. Ein Schreckgespenst, von dem man befürchtete, dass es bald auch in das eigene Land eindringen könnte.

Und just als beginne, mir Gedanken darüber zu machen, in welchem Ausmaß dieses Schreckgespenst wohl die Bereitschaft der Masse verstärkte, sich den Nationalsozialisten als kleineres Übel zuzuwenden, zappe ich, wie der Zufall es so will, in ein Interview mit dem Historiker Ernst Nolte, in dem es um den durch seine Thesen hervorgerufenen Historikerstreit geht. Worum geht es bei diesem Streit? Nolte hat die Greueltaten des Dritten Reichs denen des Stalinismus gegenübergestellt und dabei die These vertreten, dass der Holocaust eine Reaktion der Nationalsozialisten auf die Ausrottungsmaßnahmen der Gulags darstellte. Dies wiederum hat den Philosophen Jürgen Habermas dazu bewegt, von einem Versuch zu sprechen, die Greueltaten des Dritten Reichs zu relativieren mit dem Ziel, einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit zu ziehen.

Der gesamte Historikerstreit ist natürlich ungleich komplexer als das, was ich hier in ein paar Sätzen zusammengefasst wiedergebe. Und natürlich habe ich als Laie längst nicht den immensen geschichtlichen Wissensfundus, wie die an dem Streit beteiligten Historiker. Aber dennoch möchte ich mich dazu äußern. Denn auch mir tauchten beim Lesen der Schilderungen über das Gulag-System und die Säuberungskampagnen vor meinem geistigen Auge die Bilder der KZ-Insassen auf. Und auch mir stellte sich sofort die Frage, welche Ängste und welche Bereitschaft die Kenntnis der stalinistischen Greueltaten in den Deutschen geweckt haben mag. Man muss nicht großartig darüber spekulieren, dass die vor sich hinschwächelnde Weimarer Republik nicht den Rahmen darstellte, innerhalb dessen man sich wirklich sicher fühlen konnte. Unglücklicherweise schien da ein großmäuliger Nationalsozialist schon eher die Hoffnung auf Schutz und Sicherheit zu garantieren.

Ich glaube nicht, dass man die Ursachen des Holocaust auf die Formel „Ohne Gulag keine KZs“ bringen kann. Aber das wollte Nolte höchstwahrscheinlich auch gar nicht. Nolte stellte zwei durch und durch menschenverachtende Systeme in Bezug auf ihr Zerstörungsausmaß als gleichrangig gegenüber. Und Nolte wagt es, eine Verbindung zwischen den beiden herzustellen. Und die kann auch nicht so einfach geleugnet werde, denn bekanntlich gibt es keine Phänomene, die völlig wirkungsfrei sind.

Ob es ohne die Gulags die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie in genau demselben verheerenden Ausmaß gegeben hätte, wird immer im Bereich des Spekulativen bleiben. Bei der Monstrosität Hitlers ist es durchaus vorstellbar, dass er auch ohne stalinistische Vorbilder ein perverses Vernichtungssystem entwickelt hätte. Was aber nicht geleugnet werden sollte, ist der Umstand, dass man grausame Vernichtungsmaschinerien nicht in schlimm und weniger schlimm unterteilen sollte. Insofern kann und darf man auch den Holocaust nicht auf eine zwangsläufig erfolgte Reaktion reduzieren, die, weil sie angeblich nur eine Reaktion und kein für sich losgelöstes Phänomen darstellt, weniger schlimm ist als ihr zeitlicher Vorläufer. Andererseits ist es auch ebenso vermessen, darauf zu bestehen, dass man menschenverachtende Tötungsmaschinerien nicht in ihrem Ausmaß der Grausamkeit vergleichen darf und es eine unangefochtene Hierarchie des Bösen geben muss.

Deswegen hat für mich der ganze Historikerstreit einen bitteren Beigeschmack. Es wird um eine Rangfolge gekämpft, die überhaupt keine Rolle spielen sollte, wenn es wirklich einzig und allein um den Kampf gegen Grausamkeit und Menschenverachtung geht. Aber das ist eben auch das Kennzeichnende für Ideologien – es wird nicht nach Wahrheit, sondern nach Bestätigung gesucht und zwangsläufig stellt der Andersdenkende, selbst wenn er nur minimal von der eigenen Meinung abweicht – dadurch immer eine Gefahr dar.

Man hat Menschen dadurch getötet, dass man sie in Gaskammern geschickt hat. Und man hat Menschen dadurch getötet, dass man sie hungernd und frierend zu 16stündiger Zwangsarbeit in eisiger Kälte geprügelt hat. Wir sollten soviel Respekt vor den Opfern haben, dass wir ihr Leiden nicht gegeneinander aufwiegen. Und wenn Leiden irgendeinen Sinn haben sollte, dann ist es der der schmerzlichen Erkenntnis, dass keine Ideologie eines besseren oder gerechteren Lebens die Ermordung von Menschen rechtfertigt.



Dienstag, 18. Dezember 2012
Ich bin zu müde für die Philosophie der Balinesen und Inuit
Etwas, was mir von meiner mittlerweile schon viele Jahre zurückliegenden Balireise immer im Gedächtnis bleiben wird, ist der eigentümlich Mythos des einander bedingenden Guten und Bösen.

„Es muss auch das Böse geben, weil nur dadurch das Gute existieren kann“. Sehr sinnbildlich wird dies von den Balinesen im Barong-Tanz dargestellt. In diesem Tanz geht es um den Kampf zwischen dem das Gute verkörpernde, löwenähnlichen Barong und der das Böse verkörpernden Hexe Rangda.

Jetzt habe ich vor ein paar Tagen eine Sendung über Inuit gesehen, in der fast genau das Gleiche über das sich Bedingende Gute und Böse gesagt wurde: „Das Böse muss da sein, um das Gute zu ermöglichen“. Und da die Arktis und das indonesische Bali sehr weit auseinander liegen, ist es schon bemerkenswert, dass zwei so unterschiedliche Kulturen die gleiche Philosophie entwickelt haben.

Ich bin eigentlich immer davon ausgegangen, dass eine Welt ohne das Böse erstrebenswert wäre. Keine Gewalt, keine Ausbeutung, keine Ungerechtigkeit – das wäre die ideale Welt, in der man leben möchte. Aber Inuit und Balinesen sehen dies anders. Ein wenig erinnert mich dies an Camus Mythos von Sisyphos, demzufolge nicht das Ziel, sondern den Weg dahin als sinnstiftend angesehen wird.

Dieser Mythos ist praktisch, weil er so manchen Alltagskampf leichter ertragen lässt. Der Einsatz für eine Sache ist wichtiger als die Sache selbst und somit entfällt der Erwartungsdruck. Und man wäre nicht enttäuscht, wenn wieder einmal bei irgendetwas überhaupt nichts herausgekommen ist. Oder wenn man im Laufe seines Lebens dahinter kommt, dass sich kaum etwas verändern lässt.

Aber was wäre denn so schlimm daran, wenn man im Paradies leben würde? Wäre es wirklich so eine Katastrophe, wenn man endlich einmal ausruhen könnte? Endlich einmal ein wenig verschnaufen? Müssen Ziele wirklich unerreichbar sein?

Ich bin manchmal sehr müde und könnte gut auf das Steinerollen verzichten.




Freitag, 16. November 2012
Kann nur ein Kompromiss faul sein oder gibt es auch faule Kompromisslosigkeit?
Was ist denn nun besser – um des lieben Friedens Willen einen Kompromiss schließen oder kompromisslos seine Ansicht vertreten?

Es gibt viele Formen von Kompromissen, wie zum Beispiel die Einigung auf einen Mittelwert. Auch wenn dann wahrscheinlich beide Parteien nicht auf ihre Kosten kommen, so ist dennoch ein Miteinander möglich. Oder es gibt die Kompromisse, die darin bestehen, sich abzuwechseln im Nachgeben. Als faulen Kompromiss empfinde ich die Form der Kommunikation, in der jemand sofort seine Ansicht und seine Wünsche aufgibt, damit der Friede gewahrt bleibt. Faul an dem Ganzen ist dabei das nur scheinbar Friedliche.

Aber bei völlig konträrer Meinung gibt es oftmals keinen Kompromiss. Es gibt nur die Wahl zwischen Nachgeben und Entzweiung. Oder anders ausgedrückt: die Wahl zwischen Klappe halten und auf den Tisch hauen. Wobei letzteres dann entweder darin mündet, dass der andere nachgibt oder aber darin, dass er dies eben nicht tut und man sich dadurch zwangsläufig entzweit.

Ich bin erschreckt darüber, wie schnell menschliche Beziehungen in die Brüche gehen, wenn man kompromisslos ist. Will man sich selbst treu bleiben, muss man befürchten, irgendwann völlig allein dazustehen. Während im Streit immerhin noch ein Gegenüber vorhanden ist und somit quasi etwas Verbindendes darstellt, zieht die Entzweiung dann einen Schlussstrich unter die Beziehung. Den erlangten Frieden muss man dann allein genießen.

Es stimmt zutiefst pessimistisch, dass man allein durch die Beibehaltung seiner Meinung den Bruch einer Beziehung riskiert. Irgendetwas ist daran genauso faul, wie an den vielen scheinheiligen Kompromissen. Nicht „faul“ im Sinne von marode oder unecht. Eher „faul“ im Sinne eines Armutszeugnisses für das Zusammenleben. Kompromisslosigkeit mit der Konsequenz der Entzweiung macht deutlich, dass freundschaftliche oder doch zumindest friedliche Beziehungen im Grunde nie eine wirkliche Tragfähigkeit besaßen.

Es bleibt die philosophische Frage, was besser ist. Sich selbst treu zu bleiben und nicht jede von anderen erhobene Erwartung zu erfüllen oder aber sich selbst zurückzunehmen, damit Beziehungen erhalten bleiben. „Allein oder Miteinander“ könnte man die Frage auf einen Kurzformel bringen.



Samstag, 25. August 2012
Ganz banale Gründe
Eben bin ich auf einen Artikel einer Ausgabe des Spiegels aus dem Jahr 1976 gestoßen, in dem Jean Améry zu seinem Buch „Hand an sich legen“ interviewt wurde. Das Interview wurde schon mehr als zwei Jahre zuvor gemacht. Veröffentlicht wurde das Interview zwei Wochen nachdem sich Jean Améry im Jahr 1978 fünfundsechzigjährig das Leben nahm. Jean Améry war im Widerstand gegen das Dritte Reich aktiv und ein Überlebender aus Auschwitz und Bergen-Belsen. Nach Kriegsende war Améry sehr enttäuscht darüber, dass es niemals zu einer wirklichen Aufarbeitung des Dritten Reichs kam. Und er war auch enttäuscht über die Linke.

Einfach ein gewisser Ekel vor den Leuten in der Straßenbahn, zu viele Menschen zu nah um mich herum, zu viele Gesichter, die ich nicht mochte, Häuser, die ich scheußlich fand und Straßen, die kein Ende nahmen. Und dann kam der Gedanke: das geht eigentlich nicht.

Diese Zeilen stehen wie ein unverrückbares Monument, dem man nichts entgegensetzen kann. Einen Lebensekel, den wahrscheinlich so manche Menschen kennen. Vielleicht nicht unbedingt als grundsätzliches sondern nur als zeitweiliges Lebensgefühl. Ein Gefühl, dessen Ursache nicht als eine kranke Wahrnehmung, sondern als eine durchaus realistische angesehen wird.

Selbstmord zu verteidigen ist eine äußerst heikle Sache. Nicht wegen der moralischen Wertung und der sogenannten Freiheit des Individuums. Die Gefahr liegt vielmehr in dem Missbrauch, den man damit betreiben kann, wenn es eigentlich gar nicht um Respekt vor der Entscheidung des anderen geht, sondern schlichtweg nur um Gleichgültigkeit und Desinteresse anderen (ausgenommen die eigene Familie) gegenüber. Gleichgültigkeit ist noch lange keine Toleranz und als ebensolche wird die Verteidigung des Rechts auf Freitod gern deklariert. Man muss sich weder um Mitmenschen kümmern, geschweige denn Mitgefühl haben und vor allen Dingen muss man sich nicht mit einem schlechten Gewissen belasten, weil man ja einfach nur tolerant ist.

Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht schreiben, denn auch das endet in einer Schubladendiskussion. Mir geht es einfach um die Zeilen, mit denen Améry beschreibt, dass es möglich ist, sich unendlich tief vor dem Leben zu ekeln und dabei gleichzeitig die Gründe für diesen Ekel erschreckend banal sein können. Und wie kompromislos Améry darauf besteht, dass es sich bei diesem Ekel nicht um etwas Krankhaftes und somit Heilbares handelt. Er proklamiert damit das Recht auf eine völlige Negation der menschlichen Existenz. Nicht der Wunsch zu sterben ist krankhaft, sondern das Leben an sich. Ohne Wenn und Aber. Und ehrlicherweise sollte man zugeben, dass es – auch bei aller Anstrengung – kein rechtes Gegenargument gibt.



Samstag, 4. August 2012
Unter freien Himmel…
…habe ich schon lange nicht mehr geschlafen. Zum einen liegt es daran, dass ich keinen Garten habe und zum anderen daran, dass in unseren Breitengraden die warmen Nächte äußerst selten sind. Vor vielen, vielen Jahren habe ich während eines Griechenlandsurlaubs draußen geschlafen. Wir hatten zwar auf Lesbos eine Behausung direkt am Strand, aber der Sternenhimmel war so schön, dass wir draußen schliefen und erst früh morgens, als es in der Sonne zu warm war, in unser Zimmer umgezogen. Am Ende des Urlaubs haben wir dann noch eine Nacht in einer menschenleeren Bucht auf Paros, die wir ganz für uns allein hatten, geschlafen. Es war Vollmond
und wir lagen mit unseren Schlafsäcken direkt am Meer. Dann habe ich vor etwa zehn Jahren eine Nacht in der Sahara verbracht. Dies war ebenfalls unbeschreiblich, da der wolkenlose Himmel voller Sternschnuppen war.

Vorgestern habe ich mir ein Herz gefasst und in der Lüneburger Heide auf dem Campingplatz meiner Mutter die Vollmondnacht auf der Hollywoodschaukel (ohne Dach) verbracht. Obwohl aufgrund der Laternen keine völlige Dunkelheit herrschte und der Himmel auch nicht völlig wolkenfrei war, war es wieder unbeschreiblich. Der Blick in den bestirnten Himmel, der aus Milliarden Galaxien besteht, die wiederum aus Milliarden Sternen besteht, lässt ein Gefühl dafür entstehen, dass unsere Erde und die eigene Existenz so ziemlich das Unbedeutendste ist, was man sich vorstellen kann. Und das hat eine ungemein beruhigende Wirkung.

Und wie es so ist mit den Zufällen, habe ich gestern, als ich mir schon mal für 2013 einen Lyrikkalender gekauft habe, auf der letzten Seite genau das entdeckt, was meine Empfindungen beschreibt:

Ich sehe oft um Mitternacht,
Wenn ich mein Werk getan
Und niemand mehr im Hause wacht,
Die Stern' im Himmel an.

Sie gehn da, hin und her zerstreut
Als Lämmer auf der Flur;
In Rudeln auch, und aufgereiht
Wie Perlen an der Schnur;

Und funkeln alle weit und breit,
Und funkeln rein und schön;
Ich seh die große Herrlichkeit,
Und kann mich satt nicht sehn…

Dann saget, unterm Himmels-Zelt,
Mein Herz mir in der Brust:
„Es gibt was Bessers auf der Welt
Als all ihr Schmerz und Lust.“

Ich werf mich vor mein Lager hin
Und liege lange wach,
Und suche es in meinem Sinn,
Und sehne mich danach.

Matthias Claudius (1740 – 1815)



Freitag, 15. Juni 2012
Ich denke, also bin ich – oder vielleicht doch nicht?
Materie ist feinstoffliche Nichtsubstanz, die erst durch das Denken Realität erhält.
Welt am Draht, Fred Stiller zitiert Aristoteles

Die philosophische Frage, in wieweit wir uns auf unsere menschliche Wahrnehmung verlassen können und vielleicht alles, was wir als Realität empfinden in Wahrheit nur Schein ist, wurde für mich in keinem Film so gut umgesetzt wie in Fassbinders „Welt am Draht“ aus dem Jahr 1973. Im Film geht es um ein Computerprogramm namens Simulacron, mit dem eine perfekte Simulation einer Art zweiten Welt geschaffen wurde, deren eigendynamische Menschheit voll und ganz der realen Welt gleicht. Ziel des Programms ist das Sammeln von Erkenntnissen wirtschaftlicher und soziologischer Art.

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zu der virtuellen Welt, wie sie jetzt – fast vierzig Jahre später – bereits existiert. Denn in der Welt des Simulacron geht es nicht einfach um virtuelle Existenzen, die man sich schafft und hinter denen immer der Gedanke und die Idee eines realen Menschen stehen, sondern es geht um tatsächlich geschaffenes eigenständiges Bewusstsein. Eben kein Bewusstsein, das sich in einem lebenden Körper befindet, sondern Bewusstsein, das die Folge von Elektronensteuerung und Bits und Bytes ist. Ganz schön schwierig. Deswegen habe ich es als Vierzehnjährige auch erst verstanden, als mir ein in Physik versierter Mitschüler das Ganze nochmals genau erklärte.

Für mich haben die Filme von Fassbinder immer etwas sehr Sperriges, das sie schwer zugänglich macht. Außerdem hat mich schon immer die Künstlichkeit seiner Frauenfiguren gestört, die meist eine Trümmerfrauenfrisur in Kombination mit einem Marlene-Diedrich-Kostüm tragen und so langsam und gestelzt reden, wie ich eine real existierende Frau noch nie reden gehört habe. Aber dennoch ist „Welt am Draht“ trotz seiner Sperrigkeit für mich ein kleines philosophisches Meisterwerk und ich habe ihn mir nach nunmehr fast vierzig Jahren jetzt nochmals angesehen.

Da ich mich inzwischen immer wieder mal mit der Quantenphysik beschäftige (leider, ohne sie wirklich zu verstehen), hatte ich beim zweiten Ansehen doch einen etwas anderen Zugang als wie zu meiner Teenagerzeit. Schon damals fand ich das Thema unheimlich und ich muss gestehen, daran hat sich nichts geändert.

Menschliches Bewusstsein ohne den dazu gehörigen Menschen. Das ist umso unheimlicher, als dass diejenigen, die dieses Bewusstsein per Computerprogramm geschaffen haben, das von ihnen geschaffene Bewusstsein auch jederzeit im Handumdrehen ausschalten können. Und richtig unheimlich wird es erst, wenn die gar nicht existierenden Menschen herausfinden, dass sie eben gar nicht wirklich existieren. So geht es nicht nur einem der virtuellen Existenzen im Simulacronprogramm, die dem ganzen auf die Schliche kommt, sondern auch jemanden aus der scheinbar ganz normalen Welt, der zufällig herausfindet, dass auch er selbst nur eine Computersimulation ist. Das hält niemand aus.

Und am Ende bleibt die Frage, ob überhaupt jemand „wirklich“ existiert, oder ob nicht vielleicht alle nur das Gedankenprodukt eines höheren Wesens sind. Wenn letzteres zuträfe, dann muss man den descartesschen Satz „Ich denke, also bin ich“ umformen in den Satz „Ich werde gedacht, also bin ich“. Nicht die Materie ist es, die unabhängig existiert, sondern die Ideen, von denen schon Platon meinte, dass sie eine ewigliche Existenz besitzen.

Und das ist das Phantastische und das Unheimliche an dem Grundgedanken des Films – man fängt tatsächlich an zu grübeln, ob es nicht sein kann, dass jemand „uns nur denkt“. Dieser Zweifel an der Realität mag für Buddhisten das Normalste von der Welt sein – in unserer westlichen Welt, die dem menschlichen Verstand den unumstößlich höchsten Stellenwert einräumt, haben Zweifel wenig Platz.

Und ich schließe mit dem Satz: „Ich denke – und das bedeutet noch absolut gar nichts“!