Mittwoch, 15. Dezember 2010
Die Lust am Wollen. Oder was ist eigentlich Überschwänglichkeit?
Diese Frage stelle ich mir in Bezug auf eine Kritik, die ich vor kurzem erhalten habe. Auf der einen Seite würde ich überschwänglich loben und auf der anderen Seite überschwänglich kritisieren. Und das scheint ein völlig falsches Verhalten zu sein.

Wie wäre es denn richtig? Und was mache ich falsch? Anscheinend zuviel Begeisterung und zuviel Kritik anstelle von Ausgewogenheit und Harmonie, die ja offensichtlich so dringend erforderlich ist. Wofür eigentlich? Aber das „wofür“ ist vielleicht gar nicht die entscheidende Frage, die Frage des“ für wen?“ ist sehr viel aufschlussreicher.

Menschen, die selbst sehr differenziert denken, die selbstkritisch und nachdenklich reflektieren, sollten in der gleichen Weise behandelt werden. Aber Menschen, die sich überhaupt nicht die Mühe machen, über Dinge nachzudenken, deren Lebensphilosophie schwarzweiß ist und deren Reaktionen aus plumpen Floskeln bestehen, die noch dazu ständig von ermüdenden Projektionen begleitet sind – bei diesen Menschen fällt es mir in der Tat schwer, mit Kritik sparsam vorzugehen. Sicher, es wäre edel und korrekt, auch bei diesen Menschen differenziert und behutsam zu beurteilen. Und es würde unsere Welt sehr viel friedlicher machen. So würde Jesus handeln, der bei einem Schlag ins Gesicht die andere Wange hinhält. Aber Jesus hat die menschlichen Schwächen überwunden - ganz im Gegensatz zu mir.

Obwohl ich es manchmal sogar schaffe, mich ein bisschen an der „Feindesliebe“ zu orientieren. Immer dann, wenn es sich um jemanden handelt, der Kritik von allen Seiten erhält und der sich noch dazu nicht wehren kann. Dann schreckt mich davon ab, mich in die Masse der Draufhauer einzureihen. Aber genau umgekehrt ist es für mich bei denjenigen Menschen, vor denen alle ängstlich kuschen. Diejenigen, die ihre Mitmenschen nur als Mittel zum Zweck nutzen und die sich wie Oberfeldwebel aufführen, welche andere in die Rolle der Rekruten drängen. Die professionellen Ausnutzer und Diktatoren.

Und was ist mit dem zweiten Vorwurf? Der der überschwänglichen Begeisterung? Sicher, es gibt diese Menschen, die dieses Gefühl nicht kennen. Die allenfalls ein gleichgültiges „ganz nett“ über die Lippen bringen – wenn überhaupt. Bei mir ist das anders. Ich könnte vor Freude an die Decke springen, wenn sich irgendjemand mal nicht eigennützig und opportun verhält – gerade weil so etwas ja sehr selten geworden ist (zumindest in einigen Kreisen…). Und ich kann mich auch über ein gutes Essen, einen tolles Konzert oder ein liebevolles Geschenk ausgiebig und lange freuen.

Aber bevor ich mich jetzt im Beispielnennen verliere. Man kann – glaube ich – alles in einem Satz ausdrücken: „Die Lust am Wollen“. Ich will bestimmte Dinge und ich will bestimmte Dinge nicht.

Ich will keine diktatorischen Alphamännchen. Ich will keinen Homo oeconomicus, der andere Menschen bis aufs Blut ausnutzt. Ich will keine dumpfen grobschlächtigen Beleidigungen. Aber ich will Menschen, auf die ich mich verlassen kann. Ich will Rückgrat. Ich will differenzierte und respektvolle Umgehensweise.

Vielleicht erreiche ich ja irgendwann einmal die Stufe der höchsten Erleuchtung, so wie ein japanischer Zen-Meister, der überhaupt nichts mehr will. Oder die Stufe eines selbstlosen Christen, der fähig ist, allen Menschen zu verzeihen. Aber so weit bin ich noch nicht. Und bis ich soweit bin, werde ich auch genaue Vorstellung davon haben, was ich will und was nicht. Und solange ich diese Vorstellung habe, werde ich aus Herzenskräften kritisieren und loben. Und dabei immer schön überschwänglich sein.



Donnerstag, 9. Dezember 2010
Weihnachtshasserin mit Einschränkungen
Obwohl ich mittlerweile eine absolute Weihnachtshasserin bin, war ich eben mit meiner Freundin stundenlang auf dem Hamburger Weihnachtsmarkt. Wenngleich inzwischen jedem halbwegs sensiblen Menschen das ganze quäkende „Jingle bells“ und die grellbunten Flackerlichter auf den Wecker gehen, gibt es irgendwo im tiefsten Innersten noch eine Erinnerung daran, dass all dies früher einmal als schön empfunden wurde. Und diese Erinnerung ist wahrscheinlich ein nicht totzukriegendes Relikt aus der Kindheit.

Es gibt da auf der einen Seite den Verstand, der einem sagt, was für eine fürchterlich verlogene Konsumorgie das alles ist. Und auf der anderen Seite gibt es ein unbelehrbares Kind, das Schmalzgebäck essen und Punsch (jetzt mit Alkohol) trinken will und kitschige bunte Weihnachtskugeln und viel zu teuere Räuchermännchen kaufen möchte. Und seit einiger Zeit gibt es wieder all die nostalgischen Dinge von früher zu kaufen, so als hätte man die Zeit um 40 Jahre zurück gedreht. Und merkwürdigerweise gefallen einem all diese Dinge noch genauso wie früher, als man dafür auch noch Verwendung hatte.

Weihnachten lebt von der Erinnerung. Weihnachten als Fest des Schenkens macht in einer Überflussgesellschaft keinen Sinn mehr. Deswegen spielen sich alle die schönen Weihnachtsgeschichten im Szenarium der Armut und der Zeit des Entbehrens ab. Das fängt schon mit der biblischen Weihnachtsgeschichte an, in der ein Paar, das ein Kind erwartet, keine Obdach findet und in einem Stall übernachten muss. Auch in Charles Dickens Weihnachtsgeschichte, in Hans Christian Andersons "Mädchen mit den Schwefelhölzern" oder in Wolfdietrich Schnurres „Leihgabe“ geht es um Armut.

Und so sind auch alle anderen Weihnachtsgeschichten Erinnerungen an eine Zeit, in der Hunger und Verzicht herrschte und es etwas ganz Besonders war, ein Geschenk zu machen oder zu erhalten und dazu noch ein luxuriöses Mahl genießen zu dürfen. Mit den oft bedichteten Pfeffernüssen und Mandelkern könnte man heute kein Kind mehr hinter dem Ofen hervorlocken.

Eine Geschichte über ein Weihnachtsfest, in dem es Handys, Gameboys, CD-Player und Gutscheine für Beautyfarmen gibt, hätte nichts Lesenswertes. Und deswegen werden alljährlich die Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit hervorgeholt obwohl das mit unserer Gegenwart nicht mehr das Geringste zu tun hat.

Aber trotz alledem tut es gut, mit einer guten Freundin auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Und hat man erst einigen Glühwein oder Eierpunsch getrunken, sieht man auch alles gar nicht mehr so kritisch. Erinnerungen können manchmal ein starkes Gegenmittel für die Unzulänglichkeiten der Gegenwart darstellen. Ab und zu muss man sich das einfach gönnen.



Donnerstag, 4. November 2010
In vino veritas und Chapeau
Manchmal gibt es trotz aller Schwierigkeiten und Probleme doch noch ein paar Glücksmomente. Ich komme gerade von einem Restaurantbesuch zurück. Jede Menge Sushis und jede Menge grüner Veltliner. Ich bin eigentlich nicht mehr nüchtern genug, um einen Blogbeitrag zu schreiben – aber notfalls kann man den ja löschen, wenn man wieder nüchtern ist.

Ich habe etwas gefeiert. Und zwar das Rückgrat meines Kollegen. Und gleichzeitig eine Premiere. Gewissermaßen eine Rückgrat-Premiere. Das erste Mal in vielen Arbeitsjahren hat jemand Rückgrat bewiesen und sich nicht durch Alphamännchen-Gehabe beeindrucken lassen. Ein Kollege, der eigentlich eher ruhig ist und kein Freund der großen Töne. Aber dem es genauso wie mir zuwider ist, wenn jemand andere plattwalzt.

Ich glaube, es gibt so etwas wie Lust am Rückgrat. Eine unbändige Lust, nicht alles mit sich machen zu lassen. Sich nicht zu verbiegen. Sich nicht in eine Richtung drängen lassen, in der sich alles nur noch ums Geld dreht und in der man deswegen ständig etwas vortäuschen muss, so dass das ganze Leben zu einer lächerlichen Farce wird.

Rückgrat. Auch dann noch, wenn die Kolleginnen dies gern ein bisschen biegen wollen „Das ist das falsche Zeichen, was du da setzt“. Irrtum liebe Kollegin – sich gegen Meinungsdiktatoren zu wehren und dagegen, aus allem Kapital zu schlagen, ist das einzig richtige. Menschen, die mit anderen umgehen wie mit Immobilien, sollten sich mal wieder an das kleine Wörtchen „Nein“ gewöhnen. Meine Freundinnen sind des Lobes voll für jemanden, der die Zivilcourage hat, endlich mal das längst fällige „Das geht zu weit“ zu sagen. Es wären nicht meine Freundinnen, wenn es anders wäre.

Ich liebe dieses kleine Wort, das heute notwendiger den je ist. Dieses Wort, das Einhalt gebietet, wenn Menschen anfangen, anderen zu schaden. Dieses Wort, das dem Zweck dient, Machtgehabe zu verhindern. Und das die Garantie dafür ist, dass nicht alles missbraucht wird, um damit Geschäfte machen.

Ich trinke jetzt das letzte Glas Veltliner und fühle etwas, was ich schon fast vergessen hatte – ein Gefühl von Glück. In vino veritas – und diese Wahrheit ist, dass Rückgrat genauso wichtig wie Luft und Wasser ist. Aber eben nicht nur das eigene – auch das Rückgrat der anderen.

Ich trinke auf das Rückgrat!
Ich trinke auf das Wörtchen „Nein“!
Ich trinke auf die Lust am Leben, die man haben kann,
wenn es an beiden nicht mangelt
(aber nur dann).

Ich lösche das bestimmt morgen. Aber heute bleibt es stehen. Als Chapeau für meinen Kollegen. Den hat er wirklich verdient.



Sonntag, 16. Mai 2010
Kategorie Lichtblicke – Tage, an denen alles stimmt
Bei sonnigem Wetter in den wunderschönen Hamburger Alsterarkaden in einem ebenfalls schönen und gemütlichen kleinem syrischen Café habe ich gestern einen herrlichen Nachmittag verbracht. Ich habe mich mit einer Betreuerin aus Westfalen getroffen, die ich bisher nur per Mailkontakt kannte. Das erste Mal seit langer, langer Zeit einfach mal über unsere Arbeit sprechen, ohne dass es dabei um Gewinnmaximierung und werbewirksame Außendarstellung geht. Einfach mal den kaufmännischen Aspekt ausblenden und sich wirklich nur mit inhaltlichen Problemen auseinander setzten.

Ich hatte schon fast vergessen, wie schön Hamburg sein kann. Schwäne auf den Alsterfleeten, die quirlige Spitalerstraße, in der es immer irgendwelche kuriosen Selbstdarsteller gibt – diesmal ein lautstark über Gott Lamentierender, der zu Bekräftigung seiner Worte ein riesiges Holzkreuz schwingt. Dann beim Traditionsbetrieb Daniel Wischer eines der köstlichen Fischbrötchen kaufen und wie früher in der Mönckebergstraße auf eine Demo stoßen. Es ging – glaube ich – um die Situation der Opposition im Iran. Es gibt also doch noch Menschen, die für ihre Überzeugung auf die Straße gehen. Oder auf den Punkt gebracht: es gibt doch noch Menschen, die überhaupt eine Überzeugung haben.

Vielleicht muss man einfach nur die Augen öffnen um all diese Dinge zu sehen. Oder vielleicht muss man einfach nur mal auf jemanden stoßen, der die gleiche Wellenlänge hat. Einfach mal wieder zu spüren, dass die eigenen Bedenken nicht völlig unbegründet sind, sondern von anderen geteilt werden. Einfach mal weg vom Homo oeconomicus zurück zum Homo sapiens.

Solche Tage gibt es viel zu selten.



Sonntag, 2. Mai 2010
Lichtblicke
Vor einiger Zeit habe ich auf einem anderen Blog einen Beitrag gelesen, in dem Frage gestellt wurde, wann man sich denn eigentlich das letzte Mal so richtig gefreut hat.

Das ist bei mir schon Urzeiten her. Aber Freitag passierte allerdings etwas, was mir das gute alte Gefühl des Freuens wird ins Gedächtnis rief. Ich war abends auf dem Weg von meinem Büro zum Bus, als ich einen Menschenauflauf sah. Als ich näher kam, sah ich, wie zwei Männer sich lauthals stritten und kurz vor einer Prügelei standen. Dies ist eine Situation, vor der ich mich immer sehr fürchte, denn ich frage mich immer, ob ich den Mut hätte, einzugreifen. Bei den Männern handelte es sich um einen jüngeren und einen älteren, beide waren anscheinend sehr alkoholisiert und eine – ebenfalls alkoholisierte – Frau versuchte, die beiden auseinander zu halten. Als der jüngere den älteren ohrfeigte, überwandt ich mein Angst und griff ein. Und wider Erwarten hatte dies tatsächlich Erfolg, denn der Schläger zog von dannen.

Worüber ich mich freue? Darüber, dass ich mich nicht von meiner Angst habe einschüchtern lassen. Ich hätte sicher nicht eingegriffen, wenn zwei Zuhälter mit Messern aufeinander losgegangen wären. Aber dennoch bin ich froh mich getraut zu haben, denn wenn ich nichts gemacht hätte, wäre mir mit Sicherheit das halbe Wochenende verdorben gewesen.

Und während ich dann mit dem lange vermissten Gefühl des Freuens nach Hause fuhr, fielen mir dann auch noch mehr Dinge ein, über die ich mich gefreut hatte. Emails, in denen es intensiven Austausch gab oder Zustimmung zu den Dingen, für die ich eintrete. Unterstützung, die mir von anderen gegeben wird und die man so dringend braucht, damit man den Mut nicht verliert, sich nicht allem und jedem zu beugen.

Also, wenn ich resümiere, dann kommen dabei so manche Lichtblicke heraus. Lichtblicke sind – wie der Name schon aussagt – nur Blicke und noch nicht das Licht selbst. Aber mehrere dieser Lichtblicke können einen dunklen Tunnel erhellen.



Montag, 19. April 2010
Klassentreffen - alles genauso und doch ganz anders

Gestern fand es nun endlich statt – das lange vorbereitete Klassentreffen. Und nicht eine einzige meiner Befürchtungen hat sich bestätigt. Es war der schönste und witzigste Abend, den ich seit langem verbracht habe. Keine einzige Sekunde war „Mein Haus, meine Frau, mein Auto“ Thema. Es ging eigentlich die meiste Zeit um das, was früher alles passiert war - und das war eine Menge. Und wir waren uns alle einig, dass unsere Klasse etwas Besonderes war. Ziemliche Charakterköpfe mit Ecken und Kanten. Es ist erstaunlich, wie sich Menschen trotz eines langen Zeitraums und der damit verbundenen Entwicklung nicht nur äußerlich, sondern auch in ihren grundlegenden Wesenszügen immer noch sehr ähnlich sind.

Der Abend klingt immer noch in mir nach. Denn im Grunde ging es nicht nur um ein Klassentreffen. Es ging um die kurzeitige Rückkehr in eine Zeit, in der ich glücklicher war als jetzt. Je mehr ich über alles nachdenke, desto mehr wird mir klar, dass es hierbei um Authentizität geht und dass die eigene Authentizität von der der anderen abhängt. Menschen, die nicht authentisch sind, projizieren die eigene Nichtauthentizität in andere hinein und sind dadurch unfähig, andere so wahrzunehmen, wie sie tatsächlich sind. Wenn Menschen sich nicht gegenseitig wahrnehmen können, kommuniziert man zwangsläufig aneinander vorbei. Manche können damit umgehen. Ich leider nicht. Obwohl in unserer damaligen Klasse nicht immer nur eitel Sonnenschein herrschte, sondern es auch Streit gab, war das Miteinander klar und direkt. Ein schönes Gefühl, so wahrgenommen und akzeptiert zu werden, wie man nun mal ist.

Eigentlich war der gesamte Abend das genaue Gegenteil von meinem normalem Lebensalltag. Ich hatte schon fast vergessen, wie es ist, wenn es keine Diktatur der Alphamännchen gibt und man endlose Gespräche führen kann, ohne dass diese durch dumpfe Platituden bestimmt werden und es nur um Geldanlage und Außenwirkung geht. Und wie herrlich angenehm Offenheit, Esprit und wirklicher Humor sein kann.

Sehr berührt hat es mich, dass sich alle bei mir bedankt habe und ich sogar kleine liebevoll ausgesuchte Geschenke bekommen habe. Obwohl es so viel Arbeit nun auch nicht war, habe ich dafür viel Anerkennung erhalten. Etwas nicht als selbstverständlich hinnehmen – auch das habe ich schon seit langem nicht mehr erlebt.

Abende wie gestern gibt es viel zu selten - schade.



Dienstag, 13. April 2010
Countdown fürs Klassentreffen

Wieso bin ich nur so dickbackig? Hatte ich Mumps? Aber doch nicht mehr in der 1o. Klasse?

Noch eine knappe Woche und das erste Klassentreffen nach 35 Jahren findet statt. Es hat mich eine Menge Vorbereitungszeit gekostet – obwohl ja Dank Internet alles sehr viel einfacher ist als zur Zeit des Briefeschreibens. Nur 2 haben keine Lust und somit werden wahrscheinlich 23 Ehemalige erscheinen.

Und ich bin aufgeregt und trotzdem ist mir mulmig. Der Grund für meinen Wunsch nach einem Klassentreffen war Neugier und auch ein wenig Nostalgie. Sehnsucht nach Menschen, mit denen es Spaß gemacht hat, zusammen zu sein. Aber meine Erinnerungen stammen aus einer längst vergessenen Zeit – im doppelten Sinn. Sowohl im rein zeitlichen Abstand als auch im Hinblick auf die Phase, in der wir uns sich damals befanden. Jugendliche kümmern sich noch nicht um ihre Altersvorsorge, gehen nicht auf Tupperfêten und ducken noch nicht vor allem und jedem. Jugendliche haben Ideale und Ideen, motzen gegen Obrigkeiten und hassen Ungerechtigkeiten. Rockfestivals, politische Diskussionen, Demos und Rebellion gegen die Eltern.

Insgeheim sehne ich mich wahrscheinlich nach dieser Zeit zurück. Ich bin mehr als frustriert über die meisten Menschen um mich herum, die nichts anderes mehr interessiert als Geldanlage und der gute Eindruck nach außen. Es geht um nichts anderes mehr als um Einbauküchen, Geldanlagen, und das Bewerten des äußeren Erscheinungsbilds anderer. Wie eine endlos lange Nonstop-Vormittagstalkshow eines Privatsenders.

Aber Sehnsucht nach früher birgt auch immer die Gefahr des Idealisierens. Es war nicht alles toll damals – Pubertät ist schwierig und so manche Dinge kommen einem im nachherein ziemlich albern und peinlich vor.

Habe ein wenig Angst, dass aus den Originalen von damals Dutzendware geworden ist und mir die letzte Illusion flöten geht. Bei denjenigen, zu denen ich noch Kontakt habe, ist das nicht der Fall. Meine Freundin wird extra aus Berlin kommen und selbst wenn das Klassentreffen nicht das hält, was ich mir davon versprochen habe, werde ich zumindest mit meinen Freunden einen schönen Abend verbringen.

Apropos Mein Haus, meine Frau, mein Auto – meine 5er Clique von früher:

2 Sozialpädagogen
2 Taxifahrerinnen
1 Hartz-IV-Empfängerin

Von 5 Leuten hat niemand ein Haus und nur einer hat ein Auto! Eigentlich die beste Voraussetzung dafür, dass es nicht langweilig werden kann...



Mittwoch, 23. Dezember 2009
Ein Totenbesuch
Eben gerade habe ich einen Totenbesuch gemacht. So etwas tut man in Deutschland eigentlich nicht mehr. Aber mein Lebensgefährte ist Nichtdeutscher und ich wollte ihn diesen Besuch nicht allein machen lassen.

Und im Angesicht der Toten ist mir bewußt geworden, welch unendlich tiefe Würde der Tod hat.

Der Tod gibt dem Menschen seine Authentizität wieder. Die ganze, im Laufe eines Lebens erlangte Fassade des Falschen ist plötzlich wieder verschwunden. Der Mensch wird wieder das, als was er geboren wurde.

Ein Totenzimmer ist ein Zimmer, in dem die Zeit auf merkwürdige Weise stillsteht. Alle Gegenstände dort haben ihren Bezug und ihren Sinn verloren. Auch der Tote selbst erfüllt keinen Zweck mehr. Stellt etwas dar, von dem man sich jetzt nur noch verabschieden kann.

Der Tote liegt still in seinem Bett. In einer Aufrichtigkeit und Würde, die er vielleicht im Leben nie hatte.

Früher hatte ich Angst vor dem Anblick eines Toten. Jetzt machen mir Tote viel weniger Angst als die Lebenden. Denn Tote lügen nicht. Tote wollen nichts mehr darstellen, was sie eigentlich gar nicht sind.

Tote sind vielleicht der letzte Bezug zur Realität, der uns noch geblieben ist.

Deswegen sind Totenbesuche ja auch aus der Mode kommen.



Sonntag, 20. Dezember 2009
Klassentreffen – mein Haus, meine Frau, mein Auto?
Vor kurzem habe ich begonnen, ein Klassentreffen zu organisieren. Das letzte fand vor etwa 34 Jahren statt. Es macht Spaß und die meisten meiner ehemaligen Mitschüler reagieren ausgesprochen positiv und nur zwei haben kein Interesse.

Eine davon ist meine frühere Freundin F., die mir schrieb, daß sie weder Kinder noch Karriere vorzuweisen habe und sie daher gar nicht wüßte, worüber sie auf einem Klassentreffen sprechen sollte mit Leuten, die sie schon ewig lange nicht mehr gesehen hat. F. ist schon lange arbeitslos und ich hatte mit einer Absage gerechnet.

Ich unterhielt mich mit meiner Freundin (auch Mitschülerin) über die Absage von F., die früher auch lange Zeit zu unserer Clique gehört hatte. Meine Freundin meinte, wenn solche Kriterien gelten würden, dann dürfe sie letztendlich auch nicht kommen, denn sie habe zwar einen Job aber noch nicht einmal einen Partner.

Und jetzt sitze ich hier vor meinem Laptop und sinniere über Sinn und Unsinn eines Klassentreffens. Und dabei kommt man unweigerlich auf die Frage: was ist eigentlich Erfolg und was heißt es, wenn man es „zu etwas gebracht hat“? Und mir fallen die Aussprüche der Ehefrau eines Kollegen ein: "Aus dem wird nie etwas" oder „Man sieht ja, was aus dir geworden ist“. Außerdem fällt mir eine Auseinandersetzung mit meinem früheren Chef aus einem gemeinnützigen Verein ein, der mir meine Zukunft prognostizierte mit den Worten: „Wer mit 40 Jahren noch nichts geworden ist, aus dem wird nie etwas!

Tja, wie sieht denn eigentlich jemand aus, aus dem „etwas geworden“ ist? Anscheinend handelt es sich um jemanden, der eine angesehene berufliche Stellung, Familie mit eigenen Kindern und ein eigenes Haus hat. Da spielt es keine Rolle, ob dies jemand nur durch Betrügereien oder nur durch Ducken erreicht hat. Oder ob jemand über Leichen geht und den Mitmenschen – natürlich bis auf Kinder und Ehepartner – nur in Bezug auf ihre Nützlichkeit interessieren. Ein Ehering ist wichtig, auch wenn der die Verbindung zu jemanden darstellt, der zum Fürchten ist. Eigene Kinder sind wichtig, auch wenn diese sich manchmal zu einer bisweilen schon besorgniserregenden Kopie der Eltern entwickeln. Das eigene Haus mit Einbauküche, Holzterasse und regelmäßig ausgewechselter Couchgarnitur ist Standart und wird – genauso wie der Zweitwagen – nur am Rande erwähnt.

Vor dem Hintergrund dieser Kriterien des „Es-zu-etwas-gebracht-haben“ steht natürlich ein Hartz-IV-Empfänger dumm da. Auch wenn dieser niemals jemanden betrogen hat und grundsätzlich jedem hilft, der Hilfe benötigt. Auch wenn der Hartz-IV-Empfänger ein vielseitiges Interesse an allem und jedem hat und über ein beeindruckendes Wissen verfügt, ist er ein Verlierer par Excellence. Da spielt es auch keine Rolle, daß Erfolgsmenschen außer ihren beruflich verwertbaren Kenntnissen oftmals ein grausam schwach ausgeprägtes Allgemeinwissen haben und keine anderen Gesprächsthemen als Altersvorsorge und schulische Entwicklung der Kindern zu bieten haben.

Und mein Resümee zum Thema Klassentreffen:

Ich glaube, daß manche Menschen es einfach deswegen „zu nichts“ bringen (um es mit den Worten meines früheren Chefs und der Ehefrau meines Kollegen auszudrücken), weil sie zuviel Rückgrat haben und zuwenig Skrupel. Zuviel Sozialverhalten und zuwenig Lust auf faule Kompromisse.

Solchen Menschen gestehe ich einen lebenslangen Bezug von Hartz-IV zu! Und solche Menschen sollten sich verdammt-noch-mal nicht schämen, auf ein Klassentreffen zu kommen! Das kann nämlich trotz - oder gerade wegen - fehlender Fotos von Haus, Kindern und Auto spannend werden!



Dienstag, 29. September 2009
Requiem für meine Freundin
Es gibt zwei Arten, jemandem ein Requiem zu widmen. Man kann sich in erster Linie dem Verstorbenen widmen oder aber man widmet sich der Beziehung und der Bedeutung des Verstorbenen für das eigene Leben. Ich werde es nicht schaffen, über Dich zu schreiben ohne über Deinen Einfluß auf mich. Wichtig ist mir einzig und allein eins: Authentizität.

Wir hatten oft jahrelang keinen Kontakt und dann rief wieder eine von uns an. In unserem Leben als Erwachsene haben wir nicht viel geteilt. Was uns aber immer wieder verbunden hat, ist ein Teil der gemeinsamen Kindheit. Auch hier geht es nur um eine kleine Zeitspanne, denn Kinder müssen ungefragt mit ihren Eltern umziehen und das hat uns beide für lange Zeit getrennt.

In der ersten oder zweiten Klasse kamst Du zu uns nach Neuenfelde. Ende der sechsten Klasse zogst Du dann fort nach Göttingen. In diesen 5 Jahren waren wir Verbündete. Man kann sich nur gegen etwas verbünden und nicht für etwas. Ich glaube, wir haben uns gegen die geistige Enge verbündet, die in einem Dorf herrscht, in dem die Frauen ihren Lebenssinn im Putzen und sehen und die Männer im Bauen von Häusern.

Bevor ich Deine Mutter kennenlernte, war mir unbekannt, daß sich Frauen auch für Gesellschaft und Politik interessieren können. Deine Mutter hatte Ethnologie studiert und war so ziemlich an allem interessiert, was in dieser Welt geschieht. Erst viel später hast Du mir gesagt, daß diese Eigenschaft Deiner Mutter für Dich auch wie ein Fluch war, denn jeder war von ihr beeindruckt und niemand hat gesehen, wieviel Dir trotz allem fehlte und wie der Glanz Deiner Mutter manchmal auch zum Schatten für Dich wurde.

In einer Zeit, in der jeder die ersten, nach Deutschland eingewanderten Ausländer argwöhnisch beäugt hat, hat Deine Mutter Dir erklärt, wie schwer es für ein Kind ist, in einem fremden Land zu leben. Du warst die Erste und lange Zeit die Einzige, die Sevim zum Geburtstag eingeladen hatte. Wie Sevim mir auf Deiner Trauerfeier erzählte, war es für Dich etwas Spannendes, bei ihr das erste Mal gefüllte Weinblätter zu essen und sie war beeindruckt von den Kartoffelpuffern, die Deine Mutter für Euch briet. Und bei unserem letzten Beisammensein auf Deinem 50. Geburtstag hast Du dann nochmals ausdrücklich betont, wie Du es genossen hast, als Kind durch ein anderes Kind etwas völlig Neues und Fremdes kennengelernt zu haben. Ich schäme mich, wenn ich vor meinem geistigen Auge Dich als kleines Kind sehe neben einigen meiner erwachsenen Kollegen, die auf menschenverachtende Weise über Ausländer herziehen, ohne daß irgend jemand von ihnen auch nur im geringsten Anstoß daran nehmen würde.

Und dann erinnere ich mich noch wie heute, als Du mit unserer Grundschullehrerin Fräulein Mohrdieck in Streit gerietst. Der genauen Grund erinnere ich nicht mehr, nur daß Du widersprochen hattest. Das durfte man nicht in einer Neuenfelder Schule, in der noch der Rohstock geschwungen und im Unterricht gebetet wurde. Du hattest Dich dann geweigert, wieder in den Klassenraum zu kommen. Als Fräulein Mohrdieck Dich mit Gewalt hineinzerren wollte, gelang es ihr nicht, so daß sie schließlich den Schulleiter holte. Gemeinsam zogen sie dann mit aller Kraft an Dir, die sich an einem Heizkörper festkrallte. Und soviel sie auch zogen und so unglaubwürdig es sich anhört – die zwei viel größeren und stärkeren Erwachsenen schafften es nicht! Ich war als einziges Kind aus der Klasse bei Dir geblieben und hatte die Situation aus nächster Nähe miterlebt. Fräulein Mohrdieck redete dann auf mich ein und gab mir den Auftrag, Dich zu überreden, wieder in die Klasse zurückzukehren. Ich war mit der Situation ziemlich überfordert aber nachdem Du Dich nach einiger Zeit wieder beruhigt hattest, kehrten wir tatsächlich wieder in den Klassenraum zurück.

Vor etwa 8 Jahren, als unsere inzwischen 89jährige Klassenlehrerin schon in einem Altenheim lebte, hattest Du (oder war ich es?) die Idee, Fräulein Mohrdieck zu besuchen, was wir dann auch taten. Merkwürdig, ich hatte Fräulein Mohrdieck noch einige andere Male zu ihrem Geburtstag besucht, aber nie war jemand von ihren Lieblingsschülern dort. Selbst am 80. und 90. Geburtstag sah man keinen von ihnen. Etwas, über das ich immer wieder nachdenke und das für mich einen schon fast philosophischen Charakter hat: Beziehungen, die auf Angst und Kuschen beruhen, sind nicht verläßlich. Unsere alte schrullige Lehrerin wurde letztendlich von ihren Lieblingen allein gelassen und nur die enfants terribles erinnerten sich ihrer. Um Dich nicht zu verletzen, habe ich Dir nie erzählt, daß Fräulein Mohrdieck meiner Mutter gesagt hat, Du wärst kein Umgang für mich. Aus der jetzigen Sicht eines Erwachsenen eine schändliche Sache, einem Kind die beste Freundin abspenstig zu machen.

Ich merke, wie ich es nicht länger hinausschieben kann, über das zu schreiben, was Deine Kindheit, Deine Jugend und Dein Erwachsenenalter wie ein Albtraum geprägt und überlagert hat. Du wurdest im Alter von 8 Jahren von Deinem Stiefvater mißbraucht. Als Deine Mutter zur Geburt Deiner kleinen Schwester Claudia im Krankenhaus war, kam Dein Stiefvater nachts in Dein Zimmer. Du hattest es mir zu unserer Neuenfelder Zeit nie erzählt. Ich weiß nicht, ob Du es damals überhaupt jemandem erzählt hast. Mir hast Du es erst erzählt, als wir zwölf Jahre alt waren und ich Dich in Göttingen besuchte. Mir wurde Angst und Bange, als Du mich batest, mit in den Keller zu kommen um etwas zu besprechen, was niemand hören durfte. Als Du davon erzähltest, weintest Du und ich stand wie erstarrt neben Dir. Ich glaube, niemand hat je so kläglich versagt, wie ich in dieser Situation. Ich wollte am liebsten von alledem nichts hören und sehen. Und es war abstoßend, noch die gesamte gemeinsame Woche zusammen mit Deinem Stiefvater zu verbringen. Mit einem Mann, der tagsüber das Leben eines gesellschaftlich anerkannten Mannes führt und der sich nachts an einem kleinen wehrlosem Kind vergreift.

Viel, viel später Du bist Du dann ganz offensiv mit diesem Albtraum umgegangen. Du bist sogar gemeinsam mit Deiner Therapeutin zu Deinem Vater gefahren um ihm den Albtraum auf den Kopf zuzusagen – so daß er die Sache nicht mehr leugnen konnte. Trotzdem blieb der Albtraum ein Albtraum und hat Dich Dein Leben lang verfolgt. Eine nie verheilende blutende Wunde. Ein Vertrauensbruch, wie er schändlicher nicht hätte sein können. Ein Kind vertraut seinem Vater und ist ihm ausgeliefert. Und gerade dieser Mensch, der sein Kind schützen und umsorgen soll, nutzt dieses Vertrauen aufs Ekelhafteste aus. Ich denke immer wieder darüber nach, ob es überhaupt möglich ist, mit so einem Erlebnis weiterzuleben. Du hast verschiedene Versionen des Umgangs damit versucht. Als Jugendliche hast Du Dich offen gegen Deinen Stiefvater gestellt. Später, als Du erwachsen warst, hast Du den Wunsch nach Verzeihen gehabt. Aber ist das in diesem Fall überhaupt möglich? Tut man sich nicht gerade damit Gewalt an? Ich weiß es nicht.

Deine Mutter hat Deinen Aussagen nach keine eindeutige Partei für Dich ergriffen, als Du ihr von dem Mißbrauch erzähltest. Und das Schlimmste war, daß auch gar nicht mehr genug Zeit vorhanden war um den Albtraum mit ihr aufzuarbeiten, denn als Du 15 Jahre alt warst, verstarb Deine Mutter plötzlich. In den Wirren der Pubertät, in der ein Kind so dringend jemanden bräuchte, der Halt gibt, standest Du plötzlich allein da. Mit einem Stiefvater, der dich mißbraucht hatte, einen kleinen Bruder und einer kleinen Schwester, die behindert war und selbst sehr viel Zuwendung und Hilfe brauchte. Ich weiß nicht, wie Deine anderen Verwandten auf den Mißbrauch reagiert haben. Ich ahne aber, daß niemand die Courage gehabt hat, Deinen Vater auf sein entsetzliches Verbrechen hin anzusprechen. Mißbrauch und Mißhandlung sind schlimme Verbrechen. Das wirklich Grauenhafte ist aber erst das Wegsehen und das Totschweigen. Ein Kind ist dann nicht nur einem Täter ausgesetzt sondern auch noch seinen Komplicen.

Dann folgten Jahre, in denen wir nichts voneinander hörten. Und dann hast Du Dich wieder gemeldet und bist wieder nach Hamburg gezogen. Tatkräftig wie eh und je. Mit einem Berufsabschluß als Hauswirtschaftsleiterin und jeder Menge Energie, um die ich Dich immer beneidet habe. Später lerntest Du Deinen Mann kennen und bist dann irgendwann wieder aus Hamburg fortgezogen. Eigentlich war die Arbeit in der Küche auf Dauer viel zu schwer für Dich und so hattest Du auch einmal den Versuch einer kaufmännischen Umschulung gemacht. Wie ich erst jetzt von Deinem früheren Mann erfuhr, hast Du die Umschulung allerdings nie beendet. Das wundert mich nicht, denn ich könnte mir Dich auch nur schwer in einem Arbeitsbereich vorstellen, der nur so von Selbstüberschätzung und Berufsdünkel strotzt. Ein Bereich, in dem Arbeit für die meisten einfach nur Gelderwerb ist und die Gesprächthemen dadurch arg begrenzt sind. Du bist lieber in Deinen alten Beruf zurückgekehrt – trotz der viel härteren Arbeit und des viel geringeren Verdienstes.

Dein großer Wunsch nach einem Kind hat sich nicht erfüllt. Und gerade Dich hätte ich mir gut als Mutter vorstellen können. Die meisten Mütter machen bei ihren Kindern die gleichen Fehler, die schon ihre Mütter bei ihnen gemacht haben. Das wäre Dir aber wahrscheinlich nicht passiert, denn Du hast eisern und kritisch an Dir gearbeitet, und dadurch wäre es nicht zur der Selbstgefälligkeit gekommen, die vielen Müttern eigen ist.

Und vor etwa 10 Jahren warst Du dann wieder da. Du warst inzwischen geschieden und hast in einem schönen Hamburger Schwulencafé in der Küche gearbeitet. Inzwischen hattest Du auch wieder eine neue Beziehung. Dann hast Du Deinen ewigen Traum wahrgemacht: Du hast ein kleines Café eröffnet. Mit unendlich viel Arbeit und Liebe hast Du es restauriert und eingerichtet. Und mit viel Liebe die Menüs zusammengestellt. Du hast soviel Herzblut und Schweiß in Dein Café gesteckt, daß es niemand so wie Du verdient hätte, damit Erfolg zu haben. Aber es gibt viele Cafés in Hamburg und es gab die Umstellung auf den Euro, der die Cafébesuche seltener werden ließ. Und schließlich mußtest Du schließen und Du, die immer sparsam gelebt hatte, hatte plötzlich einen großen Berg Schulden. Du konntest nicht einmal mehr Deine Krankenkasse bezahlen und als Du dringend ärztlicher Hilfe bedurftest, wurde Dir - die ein Leben lang schwer geschuftet hat - diese verweigert. Warum hast Du mich nicht angerufen? Ich hätte mir das Sozialamt sofort vorgeknöpft.

Wir haben einmal gemeinsam einen Ausflug in unser Neuenfelde gemacht. Das ist das Eigentümliche an unserer Beziehung: Wir beide mußten als Kinder fortziehen aus Neuenfelde und wir haben beide immer das gleiche Gefühl von Wehmut darüber gespürt. Obwohl ich eingangs von der geistigen Enge des Dorflebens geschrieben habe, gibt es auch die andere Seite. Die Geborgenheit, die Kinder in einem Dorf erleben. Wir sind mit unseren Klappfahrrädern an die Elbe gefahren, sind im Winter von Eisscholle zu Eisscholle gesprungen (heute würde ich Todesängste haben, wenn ich Kinder dabei beobachten würde) und haben auf den Deichen gespielt. Wir sind bei den Schützenfesten stolz mit unseren Blumenkränzen den Schützen hinterher marschiert und wir haben mit unseren anderen Schulfreundinnen Kindergeburtstage gefeiert. Es gab Poesiealben mit Oblaten. Und just in diesem Augenblick in dem ich dies schreibe, fällt mir der Spruch ein, den Du in das Poesiealbum einer Klassenkameradin geschrieben hast. Du hast den damals beliebten Spruch „Reden ist Silber – Schweigen ist Gold“ verändert in „Reden ist Gold – Schweigen ist Blödsinn“.

Vielleicht ist es das, womit Du mein Leben so beeinflußt hast. Das Aufbegehren. Das Anderssein. Das Nicht-hinnehmen-wollen von Mißständen. Wir mußten damals in der Schule, immer mit gefalteten Händen ruhig dasitzen, wenn wir mit unseren Aufgaben fertig waren. Das fiel uns beiden so schwer, denn wir beide haben immer viel geredet und viel herumgealbert. Am Anfang des Schuljahres durften wir uns unseren Tischnachbarn aussuchen, und wir hatten uns natürlich zusammen gesetzt. Nach knapp einer Woche wurden wir dann wieder auseinandergesetzt, weil wir nach Aussagen von Fräulein Mohrdieck den Unterricht störten. Ich wurde einmal bei so einer Trenn-Aktion neben den größten Langeweiler der Klasse gesetzt. Heinrich saß mit stoisch nach vorn gerichteten Augen und gefalteten Händen neben mir und ließ sich durch nichts von seiner Haltung abbringen – noch nicht einmal durch ein bei Jungen doch so beliebtes Autoquartett. Du schriebst mir dann kleine Zettel, auf die Du Deine Figuren gezeichnet hattest, die mich immer zum Lachen brachten.

Merkwürdigerweise träume ich immer noch von Eurem Haus. Völlig verwinkelt, mit einem sonnigen Hof, einem Fliederbaum, Schaukeln für uns Kinder und geheimnisvollen Abseiten zum Verstecken. Und viel schöner als die anderen Häuser in Neuenfelde. Ohne die dort übliche Sterilität und zwangsneurotische Sauberkeit. Und es gab Bücher. Keiner meiner Verwandten hatte ein einziges Buch in seiner Wohnung. Wozu auch? Aber dieses Haus war für Dich nicht nur eine Stätte Deiner Kindheit. Es war auch die Stätte, die Dein dunkles Geheimnis barg, von dem niemand wissen durfte.

Iris, ich bin traurig, daß ich Dir nicht die Freundin war, die Du verdient hättest. Auch ich habe grausame Gewalt in meiner Kindheit erlebt und auch ich kenne das unendlich schmerzhafte Gefühl, schon mit 15 Jahren völlig allein dazustehen. Aber ich habe anders reagiert und mich immer zurückgezogen und eingeigelt und mich vor allen, also auch vor Dir, zurückgezogen. Von uns beiden warst Du immer die Tatkräftigere. Die, die ihre Probleme angepackt hat. Ein Stehaufmännchen, wie Dein Bruder einmal treffend formuliert hat. Liegt es vielleicht auch daran, daß Du die ältere Schwester bist? Ich bin die verwöhnte jüngste Tochter und habe nie so wie Du für jüngere Geschwister sorgen müssen.

Du bist eine Geberin. Du hast nie jemanden hängen lassen, der Deine Hilfe brauchte. Als Deine Oma vor einigen Jahren dement wurde und Deine Verwandten damit überfordert waren, hast Du sie zu Dir genommen. Einen alten dementen Menschen zu pflegen ist ein Kraftakt, der die meisten an ihre Grenzen bringt. Das war auch bei Dir so, aber Du hast es durchgehalten und Deiner geliebten Oma ein Verbleiben in der Familie bis zum Ende ermöglicht.

Und Du warst eine ausgeprägte Antimaterialistin. Du hast zwar viel Freude an schönen Dingen und einer schönen Umgebung gehabt. Aber Du hast trotzdem nie dieses unselige Verlangen nach Besitz gehabt. Nach Anhäufen von Werten. Das hätte auch schon allein deswegen nicht funktioniert, weil Du Dein Geld ja nie für Dich behieltest, sondern anderen immer großzügige Geschenke und viele, viele kleine Aufmerksamkeiten gemacht hast. Heute habe ich nochmals mit Deinem früheren Mann telefoniert und auch hierüber gesprochen. Er sagte, daß dies vielleicht Deine Art war, Deinen Schmerz zu ertragen. Anderen helfen. Für andere da sein. Anderen etwas abgeben. Für andere die Hilfe anbieten, die Du selbst so vermißt hast. Dich hat man als Kind mit Deinem Schmerz allein gelassen. Und das, was Dein Vater Dir antat, war nicht nur ein Mißbrauch. Es war ein Verrat. Ein Verrat an der Seele eines Kindes. Es gibt nichts, was schlimmer hätte sein können.

Iris, manche Gedichte von Rilke scheinen für Dich geschrieben worden zu sein. Wenn Rilke schreibt: "Du hast so große Augen Kind; Du siehst gewiß nachts oft Gestalten" dann hat er von Dir geschrieben. Von Deinen großen, braunen Augen, die wohl in so manchen Nächten angstvoll groß aufgerissen waren.

Bei Deiner Trauerfeier stand neben Deinem Sarg ein Blumengesteck, das Dein früherer Mann geschickt hatte. Auf der Trauerschleife stand „Danke“. Es gibt sicher nicht viele Frauen, denen von ihren geschiedenen Männern ein Gefühl des Dankes ausgesprochen wird, wo doch Ehe bei vielen oftmals nur als Freiraum für Verletzung und Beherrschung des anderen genutzt wird.

Als ich vorgestern Deinen Sarg sah, konnte ich mir nicht vorstellen, daß Du dort drinnen liegen solltest. Du, die immer aktiv war. Die nie aufgegeben hat. Die immer wieder aufstand. Es gibt nichts, was mich tröstet. Gerade hattest Du die Zusage für eine neue Arbeitsstelle. Gerade hattet ihr Euch eine wunderschöne Wohnung auf dem Land gesucht. Gerade sollte wieder ein neuer Abschnitt beginnen.

Der Tod ist unberechenbar und grausam. Und mehr als ungerecht. In diesen Momenten verläßt mich jeder Gottesglauben. Ich glaube ohnehin nicht an ein lenkendes und handelndes Wesen. Nur an eine in allen lebendigen Dingen verborgene göttliche Kraft. Aber angesichts Deines Todes glaube ich nicht einmal mehr daran. Schön wäre es, wenn der Kinderglaube an ein Paradies wahr wäre. Dann wüßte ich Dich jetzt gut aufgehoben. Allerdings wären wir dann für ewig getrennt, da sich mir die Paradiestore nicht öffnen würden. Ich bin sehr viel hasserfüllter als Du. Ich hasse dort, wo Du schon längst verziehen hättest. Auch das ist ein Unterschied zwischen uns beiden.

Dein Tod ist für mich eine höchst persönliche Sache. Wir haben beide in diesem Jahr unseren 50. Geburtstag gefeiert. Ich stehe an einem Punkt, wo ich nicht mehr stehen will. Ich ertrage nicht mehr die vielen Menschen um mich herum, die auf erbärmliche Art dem Geld hinterherjagen. Die ein schon fast krankhaftes Desinteresse an allem haben, was nicht mit Geld oder zumindest mit dem eigenen Vorteil zu tun hat. Die feist und dumpf mit Freude ihren geistigen Stillstand zelebrieren. Menschen, die nicht einmal mehr den Hauch von Authentizität haben und deren einzige Sorge eine gefällige Außendarstellung, ein nach außen heiles Bild ist. Menschen, die auf erschreckende Weise Deinem Stiefvater ähneln, dessen heile, gesellschaftlich anerkannte Fassade einen Menschen birgt, der auf dem Seelenleben anderer herumtrampelt. Menschen, deren Rückgrad schon grausam verbogen ist. Anpassen. Stillhalten. Mund halten. Kuschen. Ich weiß, daß Du genauso wie ich unter meiner Situation leiden würdest. Aber wahrscheinlich würdest Du handeln. Etwas Beenden. Etwas Neues beginnen. Du würdest kämpfen.

Vor dem realen Hintergrund erbärmlicher Menschen sehe ich eine kleine Iris, die sich mit aller Kraft und mit vollem Erfolg gegen zwei Lehrer wehrt, die das kleine Mädchen irgendwohin ziehen wollen, wo es nicht hin will. Eine kleine Iris, die ins Poesiealbum schreibt „Reden ist Gold – Schweigen ist Blödsinn“. Eine kleine Iris, die einem ausländischen Mädchen helfen möchte, sich in einem fremden Land zurecht zu finden.

Ich bin sehr, sehr stolz, daß Du meine Freundin warst.