Dienstag, 12. Mai 2015
KZ-Neuengamme – die letzten Zeitzeugen
Am Stadtrand von Hamburg befindet sich das frühere Konzentrationslager Neuengamme und in der vergangenen Woche jährte sich der Tag der Befreiung zum siebzigsten Mal, was Anlass für eine große Gedenkfeier war. Schon vor 10 Jahren war ich bei der damaligen Gedenkfeier anwesend, aber diesmal hatte ich mir mehr Zeit genommen.

Zur Feier erschienen 54 der letzten Überlebenden. Viele saßen im Rollstuhl und waren auf eine Begleitperson angewiesen. Zu den Rednern der Gedenkfeier gehörte auch der 88jährige Janusz Kahl, der als 17jähriger während des Aufstands im Warschauer Ghetto nach Deutschland deportiert wurde und 1945 ins KZ-Neuengamme kam. Janusz Kahl erwähnte in seiner Rede, dass es lange Zeit keineswegs selbstverständlich war, ein Gedenkzentrum einzurichten, sondern dies erst erkämpft werden musste. Janusz Kahl ist Musiker und zu den Feierlichkeiten gehörte auch die Aufführung seines Werkes Tryptichon, das von zwei jungen Schülern vorgetragen wurde. Es gab auch andere bekanntere musikalische Vorträge wie der Chant des Partisans und Bella ciao.

Nachdem die eigentliche zweistündige Gedenkfeier beendet war, sah man viele der ehemaligen Häftlinge über das Gelände gehen, manche schilderten dabei ihren Begleitern ihre Erinnerungen. Ich selbst nahm mir auch die Zeit, mir in Ruhe das Gelände anzusehen. Die Gefühle dabei kann man nur schwer beschreiben, denn die Natur bildete einen großen Kontrast zu diesem Ort des unsäglichen Leidens. An diesem sonnigen Frühsommertag blühte überall auf den zahlreichen Wiesen, die einen Großteil des Geländes ausmachen, Unmengen von gelbem Löwenzahn. Auch die nahe Umgebung des KZs kann man nicht anders als idyllisch und schön bezeichnen – alte Bauernhäuser, Gärten, Baumalleen und Obstplantagen. So lautet denn auch der Titel eines Buches, an dem auch Janusz Kahl mitgearbeitet hat treffenderweise „Die Hölle in der Idylle“.

Was mag wohl in den Überlebenden vorgehen, wenn sie diesen Ort jetzt wiedersehen? Ein Ort der Entmenschlichung an dem ein einzelnes Menschenleben völlig wertlos war und der Tod allgegenwärtig. Bei manchen der früheren Häftlinge konnte man in den Gesichtern wahrnehmen, wie die leidvollen Erinnerungen an diesem Ort wieder gegenwärtig werden.

Als ich einem älteren Herrn beim Anziehen seines Mantels behilflich sein wollte, bemerkte ich plötzlich, dass es sich um Janusz Kahl handelte. Ich konnte nicht umhin, ihm zu sagen wie sehr mir seine Musik gefallen hatte. Es ergab sich dann ein kurzer Wortwechsel, der mich tief berührt hat und den ich deswegen hier auch nicht wiedergeben möchte. Manche Begegnungen verändern etwas in einem Menschen und für mich war dies hier der Fall. Es ist ein Geschenk, jemandem begegnen zu dürfen, der sich trotz des unbeschreiblichen Leids, das ihm und anderen zugefügt wurde, ohne Hass und Verbitterung mit ganzem Herzen für eine Aufarbeitung und Aussöhnung einsetzt.
http://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/livestream/
http://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/fileadmin/user_upload/aktuelles/2015/Reden/Rede_Kahl_dt.pdf



Sonntag, 18. Januar 2015
Hier fühle ich mich nicht mehr wohl
Einige Meter entfernt von meiner Wohnung befindet sich die Takwah-Moschee, die laut Erkenntnissen des Verfassungsschutzes als Anlaufpunkt dschihadistischer Salafisten gilt. Schon ein paarmal wurde die Moschee in den Nachrichten gezeigt und so kann es dann passieren, dass einem auf dem Weg zur Arbeit Reporter mit Mikrophonen begegnen, die auf der Suche nach Interviewpartnern für die geplante Sendung sind. Vor ein paar Monaten hätte man auch Pierre Vogel begegnen können, der in besagter Moschee gepredigt und auch ein paar Mal genächtigt hat. Und da die Moschee vom Verfassungsschutz überwacht wird, wird übrigens mit Sicherheit auch das eigene Auto überprüft, das mangels Parkmöglichkeiten zwangsläufig manchmal in der Nähe geparkt werden muss.

Aber die Takwah-Moschee ist nicht die einzige Moschee in meinem Bezirk, etwa 15 Gehminuten von meiner Wohnung entfernt befindet sich die Masjid-El-Iman-Mosche, die ebenfalls als Anlaufstelle fanatischer Dschihadisten angesehen wird. Ursprünglich wollten muslimische Interessenten den gesamten Häuserblock anmieten, um dort ausschließlich muslimische Geschäfte zu eröffnen, aber letztendlich wurde hierfür keine Zustimmung erteilt.

Es gibt noch weitere unschöne Schauplätze in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung. Wie zum Beispiel eine Straße, in der es vor einigen Monaten eine blutige Auseinandersetzung zwischen Albanern gab, die ein Todesopfer zur Folge hatte. Oder den Croqueladen, in dem es ebenfalls zu einem Mord kam, weil Afghanen eine Frage der Ehre mit einer Messerstecherei lösen wollten. Angrenzend an mein Wohnviertel liegt das Wohngebiet, in dem meine Schwester viele Jahre als Erzieherin arbeitete und in dem auf offener Straße vor den Augen von Kindern eine junge Kurdin von ihrem Bruder ermordet wurde, weil sie sich ihren Mann selbst aussuchen wollte. Auch in der Nähe der Wohnung meiner Nichte am südlichen Stadtrand Hamburgs kam es zu schon zu einer Schießerei unter Albanern, bei der der Vaters eines Mitschülers ihres Sohnes erschossen wurde. Und dann ist da noch der Bahnhof, den ich jeden Tag passiere, vor dem vor fünf Jahren ein Mann wegen 20 Cents von zwei Jugendlichen totgeprügelt wurde. Mittlerweile ist das Ausmaß der Gewalt so groß, dass unser ansonsten völlig belangloser Stadtteil jetzt sogar das Interesse der Presse geweckt hat. Vor kurzem prangte auf dem Titelblatt meiner Tageszeitung ein Foto meines Wohnorts, das tituliert wurde mit „Hamburgs härtestes Viertel“.

Mein Bezirk hat allerdings schon im Jahr 2001 traurige Berühmtheit erlangt, da dort Muhammed Atta & Co lebten, bevor sie Flugzeuge in das World-Trade-Center lenkten. Die Marienstraße, in der die Salafisten wohnten, war eine Querstraße zu meiner früheren Wohnung. In den Tagen nach der Katastrophe war an manche Häuserwände „Al Kaida“ gesprayt worden.

Ungefähr 14 Jahre lang habe ich im angrenzenden Bezirk Hamburg-Wilhelmsburg gearbeitet. Da ich kein Auto fahre, benutzte ich die öffentlichen Verkehrsmittel. Man bekommt wohl kaum einen besseren Einblick in die Mentalität einer Gesellschaft, als beim Fahren in öffentlichen Verkehrsmittel. Im Urlaub profitiere ich immer ungemein davon - Bemo fahren auf Bali, Jeepneys auf den Philippinen oder Überlandbusse auf Sumatra sind unvergessliche Erlebnisse. Und unvergesslich sind mir auch die Fahrten im Citybus Nr. 13 oder in der S-3 nach Wilhelmsburg. Allerdings nicht im positiven Sinn. Ausdrücke wie „Hurensohn, Schlampe, ich ficke deine Mutter “ – gehörten zu meiner regelmäßigen Beschallung.

Ich wohne seit meinem Auszug aus der elterlichen Wohnung im Alter von 15 Jahren bis auf eine kurze Unterbrechung im Süden Hamburgs. Ein Viertel, das immer schon das Stiefkind unter den Hamburger Bezirken war und das nur diejenigen mögen, die dort schon seit ihrer Kindheit oder Jugend wohnen. Ein Arbeiterbezirk mit vielen Altbauten, die noch bis in die späten 80er oftmals über keine Badezimmer verfügten und deren Toiletten sich im Treppenhaus befanden. Arbeiter, Studenten, alte Menschen, Ausländer der ersten Generation – Leute eben, die nicht das Geld für teure Wohnungen hatten. Mir hat’s gefallen.

Jetzt gefällt es mir nicht mehr. Ich hänge zwar sehr an meiner kleinen Dachgeschosswohnung, in der ich nun schon so lange wohne. Aber trotzdem möchte ich nur noch eins – weg von hier.



Samstag, 15. Juni 2013
Andenken an Iris und daran, dass die Welt bunt ist und nicht grau
Bald jährt sich der vierte Todestag meiner Freundin Iris.

Bei der Grabstätte, in der Iris beigesetzt wurde, handelt es sich um ein Urnengrab, in dem auch ihre geliebte Großmutter beigesetzt wurde und auf dem sich lediglich eine kleine Grabplatte befindet. Leider ist das Grab für mich so weit entfernt, dass ich es nicht mal eben so aufsuchen kann.

Vor einiger Zeit las ich hier darüber, dass jemand im eigenen Garten für seine verstorbenen Freunde und Familienmitglieder kleine, sehr liebevoll gestaltete Gedenkstätten angelegt hat. Ich finde diese Idee wunderschön und kommentierte dann, dass ich so etwas auch gern für meine Freundin gestalten würde, was aber leider daran scheitert, dass ich keinen Garten habe. Und dann erhielt ich auf meinen Kommentar eine Antwort, die mir die Sprache verschlug: "das requiem" für ihre verstorbene freundin hat mich sehr bewegt, ich werde für ihre iris einen kleinen gedenkstein anlegen und ihr davor ein blümchen pflanzen. lassen sie mich nur bitte wissen, welche pflanze ihre freundin gemocht hat." Inzwischen wurde wie man oben auf dem Foto sehen kann, der Platz auch angelegt und es soll sogar noch der Namenszug hinzukommen.

Mir fehlen auch jetzt die Worte für diese Begebenheit. Die Bloginhaberin kennt weder mich noch meine Freundin und ich bin auch erst vor kurzem auf den Blog aufmerksam geworden. Trotzdem wird mir jetzt dieses Geschenk zuteil. Meine Freundin, die ein herzensguter Mensch war und in ihrem viel zu kurzem Leben sehr viel leiden musste, hat dieses Andenken verdient.

Wenn Menschen spontan anderen etwas geben oder ihnen helfen, dann werde ich daran erinnert, dass die Welt bunt ist und nicht grau. Durch meine berufliche Tätigkeit wurde ich in ein Umfeld gezogen, in dem es vielen (allerdings nicht allen) vorrangig um Geld geht und in dem diese Vorrangigkeit wirkliches Interesse an andern Menschen immer mehr verdrängt. Dennoch ist dieses Umfeld nicht stellvertretend für die ganze Welt. In der gibt es nämlich nach wie vor Menschen, deren Handeln von Mitmenschlichkeit geprägt ist.

Fast hatte ich dies schon vergessen und ich bin dankbar, dass mich Feuerlibelle wieder daran erinnert hat.



Sonntag, 6. Januar 2013
Einmal im Jahr
Einmal im Jahr treffe ich mich mit drei alten Freunden. Zwei davon sind eine frühere Mitschülerin, bzw. ein Mitschüler und die dritte Freundin kenne ich auch schon seit meinem fünfzehnten Lebensjahr.

Es war ein bisschen wie Weihnachtsbescherung, denn ohne uns verabredet zu haben, hatte jeder ein kleines Geschenk für die anderen mitgebracht. Ich habe von S. eine aus einer afrikanischen Kokosnuss geschnitzte kleine wunderschöne Schale bekommen. S. ist seit zwei Jahren nach Afrika ausgewandert und kommt einmal im Jahr zu Besuch nach Deutschland. Schon früher war S. jemand, die so viel wie möglich selbst gemacht hat und so ist auch die Kokosnuss eine Eigenkreation. Schon früher war S. jemand, die man sich nur schwer in einer Stadtwohnung vorstellen kann und jetzt wohnt sie mit ihrem Mann in Ghana in einem kleinen Dorf. Natürlich geht das nicht ohne Heimweh und gerade deswegen bewundere ich diesen Schritt so. Irgendwie war für uns früher Auswandern immer mal wieder ein Thema, aber gemacht hat es letztendlich nur einer von uns.

Von M. habe ich ein spezielles Duftöl bekommen. M. beschäftigt sich mit Düften und ihren Wirkungen. Auch wenn ich nicht unbedingt den Zugang habe zu diesem Bereich, so gefällt mir der Duft sehr gut. Und ich war ein wenig gerührt, als M. mir erzählte, was sie sich bei der Auswahl des Dufts gedacht hat, denn sie hat von unserem letzten Gespräch vor einem Jahr genau behalten, in welcher Situation ich mich befinde. Während ich mich schon daran gewöhnt habe, dass von Menschen, mit denen ich tagtäglich zu tun habe/hatte, die absurdesten Fehleinschätzungen gemacht werden, trifft M. mit ihrer Einschätzung trotz der langen Zeit, die wir keinen Kontakt hatten, genau ins Schwarze. M. fährt schon seit vielen Jahren Taxi, hat aber seit einigen Jahren wieder angefangen, zusätzlich wieder in ihrem erlernten Beruf als Goldschmiedin zu arbeiten. Schon in der Schule hat M. mit voller Begeisterung am Kunstunterricht teilgenommen.

Von meinem Mitschüler Mi. habe ich zwei Bücher bekommen, deren Auswahl auch genau ins Schwarze getroffen hat. So gut, dass ich eines (Franz Jalics) schon besitze. Das andere von Viktor Frankl und Pinchas Lapide lese ich gerade mit Feuereifer, denn es geht genau um „mein“ Thema. Ich bin sowieso ein großer Viktor Frankl Fan und wundere mich eigentlich, dass ich nicht schon viel früher auf seine Bücher gestoßen bin. Mi. hat gerade zwei schwere Wochen hinter sich, denn sein Sohn wurde in der Sylvesternacht völlig grundlos so schwer zusammengeschlagen, dass er auf die Intensivstation kam. Glücklicherweise geht es dem Sohn inzwischen besser und es werden keine Folgeschäden bleiben. Während mich so eine Gewalttat unbändig wütend macht, erträgt Mi. es mit bewundernswerter Ruhe.

Irgendwie sind die Kontakte ein wenig auf das Klassentreffen vor drei Jahren zurückzuführen. Ein Schritt in die Vergangenheit muss nicht immer ein Schritt zurück sein, auch wenn dies paradox klingt. Aber man kann sich manchmal so weit weg von dem entwickeln, was man eigentlich für sein Leben geplant hatte, dass das Auffrischen von Erinnerungen wieder die Augen dafür öffnet, wie wenig die eingeschlagene Richtung noch stimmig ist. Meine Freunde sind zwar der Meinung, dass Sozialarbeit genau das ist, was zu mir passt, aber das ist vielleicht genau der Punkt, denn ich befinde mich ja schon lange nicht mehr unter Sozialarbeitern. Man landet manchmal genau dort, wo man überhaupt nicht hin wollte und auch überhaupt nicht hin passt.

In der Literatur und in Filmen werden Ausflüge in die Vergangenheit meist als deprimierend oder zumindest ernüchternd dargestellt. Ein Stereotyp der zwei Pole des Stehenbleibens und der Weiterentwicklung. Aber das kann eben auch genau umgekehrt sein.

Darüber sollte man eigentlich mal ein Buch schreiben…



Sonntag, 3. Juni 2012
Ich mag Lagerfeuer
Seit einigen Jahren hat es sich in unserem Freundeskreis eingebürgert, dass wir Pfingsten auf einen wunderschönen Campingplatz direkt an der Elbe verbringen. Der Platz ist ein Geheimtipp, nicht zuletzt, weil er Dünencharakter hat und man durch die vielen Bäume und Büsche gar nicht den Eindruck eines Campingplatzes hat. Es gibt eine mongolische Jurte, ein Zirkuszelt, ein Indianertipi und es gibt so manche Camper, die in ausrangierten Bau- oder Zirkuswagen wohnen. Außerdem findet man noch Uraltmodelle von Wohnwagen, die aus der Anfangszeit des Campings stammen. Auf dem Platz sind Lagefeuer erlaubt und vom Stand aus kann man die riesigen Schiffe beobachten, die in den Hamburger Hafen ein- und auslaufen. Sehr große Schiffe kann man sogar auch schon vom Platz aus sehen und es wirkt sehr beeindruckend, wenn man plötzlich Container oder die oberen Decks eines Kreuzfahrtschiffs über den Baumwipfeln dahingleiten sieht.

Während es an diesem Wochenende eher ungemütlich ist und man schon fast versucht ist, die Heizung wieder anzustellen, wurden wir am vergangenen Wochenende von der Sonne verwöhnt. Es war also ideal. Ich habe mich außerdem sehr gefreut, dass ein früherer Kollege, zu dem ich erst vor kurzem nach über 20 Jahren wieder Kontakt aufgenommen hatte, auch spontan zu unserem Treffen gekommen ist.

Was ich an unseren Campingtreffen immer besonders genieße, ist das Lagerfeuer, vor dem man bis spät in die Nacht sitzt. Und wie immer gab es dabei natürlich auch Gespräche über Gott und die Welt (und nicht über Gewinnmaximierung und PR). Irgendwie sind wir dann bei dem Recht auf Widerstand gelandet, das auch Gewalt mit einbezieht.

Während ich dieses Recht nur in einer Diktatur für gegeben halte, vertraten einige die Ansicht, dass es dieses Recht auch gab im Nachkriegsdeutschland, in dem sich die alten Nazis sofort wieder in der Politik breitmachten. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass der letztendlich in Gewalt mündende Widerstand der falsche Weg war. Als Beispiel für einen anderen Weg nannte ich Beate Klarsfeld, die Naziverbrecher verfolgte und auch immer noch verfolgt und diese ohne Selbstjustiz der Rechtsprechung zuführte. Sicher, die Aktion, bei der sie 1968 den damaligen Bundeskanzler Kiesinger ohrfeigte, ist strenggenommen natürlich auch eine Gewaltausübung, aber der körperliche Schaden, den eine Ohrfeige auslöst, hält sich in Grenzen. Das worum es ging, war eine moralische Ohrfeige für jemanden, der das menschenverachtende Regime von Anfang an mitgetragen hatte und der ohne irgendein Wort des Bedauerns übergangslos wieder in politische Positionen vordrang.

Aber auch jenseits der moralischen Frage nach der Berechtigung von Gewalt sollte man sich vor Augen führen, dass die Bevölkerung – um die es ja angeblich geht – meist verständnislos und ablehnend auf Gewaltaktionen reagiert.

Allerdings ist die Frage der Existenzberechtigung von Widerstand, der auch Gewalt rechtfertigt, ist so alt wie die Menschheit und wird daher auch an einem Lagerfeuer nicht gelöst werden. Aber es beruhigt es mich schon, dass es überhaupt Menschen gibt, mit denen man ohne in Streit zu geraten und ohne zu polemisieren, ausgiebig über so ein wichtiges Thema sprechen kann. Das ist doch selbstverständlich, wird jetzt mancher sagen. Nein, das ist es eben nicht! Ich weiß es mittlerweile sehr zu schätzen, wenn Menschen sich nicht nur über Geldanlage, Möbelkauf und schulische Leistungen der Kinder unterhalten. Und deswegen habe ich die zwei Abende am Lagerfeuer sehr genossen – trotz unterschiedlicher Standpunkte über einen Punkt voll und ganz einig zu sein: dass das Nachdenken und der gemeinsame Austausch wichtig ist.



Samstag, 26. November 2011
Nach langer Zeit
Vor kurzem habe ich mich mit einem früheren Kollegen getroffen, den ich seit mittlerweile zwanzig Jahren nicht mehr gesehen habe. Wir waren damals beide auf befristeter Basis bei einem Beschäftigungsträger angestellt und unser Arbeitsort war das Arbeitsamt, wo ich Langzeitarbeitslose und er jugendliche Arbeitslose beraten haben. Im Gegensatz zu mir ist der Kollege der Sozialarbeit treu geblieben und arbeitet bei einem Fortbildungsträger.

Es ist schon merkwürdig, sich mit jemand nach so langer Zeit zu treffen. Eigentlich hätte man erwarten können, dass man sich irgendwie fremd ist. Dies war aber nicht der Fall. Im Grunde etwas, worüber man sich freuen könnte. Mich hat es aber eher nachdenklich gemacht. Denn mir ist schmerzhaft bewusst geworden, dass ich die Art Gespräch, wie ich sie an dem Abend geführt habe, schon seit langem nicht mehr erfahren habe. Wir konnten endlos über Reisen reden und für mich gibt es nichts Interessanteres, als sich über die Orte zu unterhalten, die man gemeinsam durch das Reisen kennengelernt hat. Es tut ungemein gut, die Faszination für fremde Kulturen mit jemandem zu teilen. Ich wurde ein wenig neidisch, als mein früherer Kollege von einem Sabbatjahr erzählte, in dem er gemeinsam mit seiner Frau Südamerika bereiste.

Zwanzig lange Jahre bieten auch die Möglichkeit eines Vergleichs der enormen gesellschaftlichen Veränderungen, mit denen wir beide in unserer Arbeit konfrontiert sind. Einen Vergleich, der auf praktischer Erfahrung jenseits jeglicher Theorie basiert. Dabei geht es dann nicht um das zweifelsfreie „richtig“ oder „falsch“, sondern um eine Bestandsaufnahme dessen, was sich in unserer Arbeit verändert hat.

Während ich immer der Meinung war, dass es außer mir niemanden mehr gibt, der eine Wohnung ohne Badezimmer bewohnt, wurde ich jetzt eines Besseren belehrt, denn mein früherer Kollege bewohnt mit seiner Frau ebenfalls eine Altbauwohnung ohne Bad und wir beide haben in der Küche eine sogenannte „Heimdusche“. Dadurch rutscht die Wohnung im Mietenspiegel in eine Kategorie, in der die Miete erheblich geringer ausfällt. Das wiederum erhöht das Budget für die Reisen oder für eine berufliche Auszeit. Und damit wären wir wieder beim Thema: was steht an erster Stelle im Leben? Das ist eine Frage, die immer nur höchst individuell beantwortet werden kann. Aber wie auch immer die Antwort ausfallen mag – es lebt sich leichter, wenn man nicht nur mit Menschen zu tun hat, deren Antwort völlig konträr zur eigenen ausfällt.

Und deswegen hat mich das Treffen nachdenklich gemacht. Gespräche über Reisen oder über Arbeitsinhalte sind selten geworden in meinem Leben. Genauso wie Menschen, die kein Problem mit dem Verzicht auf materielle Annehmlichkeiten haben.

Und ich träume. Von einem Sabbatjahr.



Sonntag, 5. Juni 2011
Schubladen – sind wir alle Teelöffel und Socken?
Manchmal findet man sich ehe man sich versieht, in einer Schublade wieder. Schubladen gibt es viele: Politische Gesinnung, Hautfarbe, Nationalität, Alter, Geschlecht, religiöse Überzeugung, äußere Attraktivität, gesellschaftlicher Status, Musikgeschmack – die Kategorien sind schier unerschöpflich.

Diese Schubladen haben die gleiche Funktion, wie die Schubladen im Wohnzimmerbuffet oder im Schreibtisch – man findet sich besser zurecht. Man muss nicht immer erst lange nachdenken, bis man fündig wird, sondern man hat schnell das parat, was man braucht.

Was allerdings einen gravierenden Unterschied zu den Kategorie-Schubladen der menschlichen Eigenschaften darstellt, ist der Umstand, dass die menschlichen Eigenschaften und Überzeugungen ungleich vielfältiger sind und sich zeitgleich in verschiedenen Schubladen befinden können. Während die Socken oder die Teelöffel sich tatsächlich nur in der jeweils ein- und derselben Schublade befinden können, ist ein Mensch infolge seiner vielfältigen Eigenschaften nicht auf eine einzige Schublade reduzierbar.

Ich habe vor einiger Zeit in der Diskussion zu einem Beitrag meine Einstellung zu Glaubensfragen geäußert. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen und dies Thema tunlichst vermeiden sollen. Mir ist aus Studienzeiten noch gut in Erinnerung, wie leicht man deswegen in einer Schublade landen kann. Da konnte es schon mal passieren, dass man als „reaktionäre Sau“ bezeichnet wurde oder schlichtweg nur das Attribut „dämlich“ zuerkannt bekam. Bestenfalls wurde man in die Schublade derer befördert, mit denen man Geduld haben muss, bis sie endlich „soweit sind“ – was immer das heißen mochte.

Das verhängnisvolle an den Schubladen ist die abenteuerliche Art, wie kausale Verbindungen hergestellt werden. Die Schublade „religiös“ beeinflusst sofort entscheidend die Bewertung all dessen, was es sonst noch an Überzeugungen oder Meinungen gibt. Als ich mich in einem anderen Beitrag kritisch zu der Entwicklung äußerte, die die sogenannte sexuelle Revolution genommen hat, wurde dies prompt in die Schublade der überholten Moralvorstellungen eingeordnet und zur Sicherheit auch noch in die Schublade derer, die für alle Fehlentwicklungen ausnahmslos die 68er verantwortlich machen. Zu guter Letzt wird man gleich noch in die Schulblade der im Altenheim Befindlichen verfrachtet.

Das, worum es mir eigentlich geht bei meiner Kritik an der Entwicklung, die die sexuelle Revolution mittlerweile genommen hat, ging bei alledem völlig unter. Um die unselige Allianz einer mächtigen Medienmaschinerie mit einer gigantischen Vermarktungsindustrie, die beide suggerieren, dass der Garant für eine erfüllte Sexualität einzig und allein im Brechen von Tabus besteht – darum ging’s mir eigentlich. Und diese Ansicht vertreten beileibe nicht nur Menschen, die gläubig, religiös oder was-weiß-ich sind, sondern auch Menschen, die mit Glauben oder Religion nicht das Geringste am Hut haben.

Ja, so ist das mit den Schubladen. Mal abgesehen davon, dass mit dem Begriff „religiös“ Strömungen mit einer Bandbreite zusammengefasst werden, die von Kreationisten bis zur Theologie der Befreiung und von Vorsokratikern bis zu Stämmen balinesischer Animisten reichen, ist es fraglich, welchen Nutzen die Schubladen haben.

Aber vielleicht sind die Schubladen ja tatsächlich unerlässlich, auch wenn sich mir nicht erschließt wofür. In diesem Fall ist eines zumindest tröstlich: Wenn ich mich in meiner Schublade umsehe, befinde ich mich in hervorragender Gesellschaft. Der von mir verehrte Rainer-Maria Rilke, der von mir bewunderte Mahatma Gandhi, mein Jugendidol Hermann Hesse, Nelly Sachs und so viele andere, dass man gar nicht alle Namen nennen kann. Auf einige meiner Freunde und auf fast alle Mitglieder meiner Familie muss ich leider verzichten, die befinden sich der Schublade der Kategorie „nicht religiös“.

Ja, so ist das mit den Schubladen. Alles hat seine Ordnung. Teelöffel gehören nicht zu den Socken. Und religiöse Menschen nicht zu den nichtreligiösen. Und vor allem - man hat alles gleich parat und verschwendet keine Zeit mit unnötigem Suchen.



Mittwoch, 4. Mai 2011
Für Iris
Ich habe gewusst, dass es irgendwo in meinen Gedichtbänden ein Gedicht gibt, dass zu unserem Grabstein passt. Was man bei den lebenden Menschen nicht findet, findet man bei toten Dichtern:

Auf dem Kirchhof
Der Tag ging regenschwer und sturmbewegt
ich war an manch vergessnem Grab gewesen.
Verwittert Stein und Kreuz, die Kränze alt,
die Namen überwachsen, kaum zu lesen.

Der Tag ging sturmbewegt und regenschwer,
auf allen Gräber fror das Wort: Gewesen.
Wie sturmestot die Särge schlummerten,
auf allen Gräbern taute still: Genesen.

Detlev Liliencron (1844-1909)



Sonntag, 1. Mai 2011
Verlorenes und Wiedergefundenes
War nach längerer Zeit mal wieder in meinem Heimatdorf im Alten Land. Und wie immer war dies aufwühlend. Einerseits die Dinge, die unverändert sind, wie die Pracht der Obstblüte, die Schönheit der über 400 Jahre alten Kirche und die alten Bauernhäuser mit dem Altländer Tor. Und andererseits die Dinge, die sich völlig verändert haben. Durch die Airbuserweiterung wurden Häuser aufgekauft, die jetzt leer stehen und langsam verfallen, wodurch der Eindruck einer Geisterstadt entsteht. Da das Versprechen von mehr Arbeitsplätzen mittlerweile zu etwas fast schon Heiligem geworden ist, vor dem man sich ehrfürchtig beugen muss, konnte die Airbuserweiterung nach anfänglichem Protest durchgesetzt werden. Mit den vielen neuen Arbeitsplätzen hat es trotz allem nicht geklappt.

Das alte Strohdachhaus meiner Großeltern, das Haus meiner Freundin, unsere Schule und der Spielplatz vor der Kirche – alles erscheint immer viel kleiner, als man es aus der Kindheit in Erinnerung hat. Bei den Apfelbäumen hat dies übrigens einen ganz realen Grund: die früher großen und ein wenig verknorpelten Apfelbäume sind einer Züchtung von kleinen Bäumen gewichen, da man jetzt ohne Leiter Apfel ernten kann. Erinnert mich ein wenig an Bonsai-Bäumchen. Schon lange gibt es auch die sogenannten Klappermühlen nicht mehr, deren Klang für mich immer mit dem Sommer verbunden war. Jetzt schützt man sich vor den hungrigen Vögeln mit großen Netzen.

Ich sah mir auch die schöne alte Kirche an, in der ich und diverse meiner Vorfahren getauft wurden und in der ebenfalls meine Vorfahren geheiratet hatten und konfirmiert wurden. Und bevor man eine spezielle Beerdigungskapelle geschaffen hatte, wurde dort auch der Trauergottesdienst abgehalten.

Und jetzt möchte ich kurz die Geschichte dieses Fotos erklären. Als Kind bin ich mit meiner Freundin einmal über den alten Friedhof gegangen. Der um die Kirche angelegte alte Friedhof wurde schon seit vielen Jahren nicht mehr genutzt und es gab nur noch sehr alte Gräber. Auf evangelischen Friedhöfen ist es eher unüblich, Grabsteine mit Fotos zu versehen und so fiel uns beiden sofort der einzige Grabstein mit einem Foto auf. Das Foto zeigt eine Frau in der Altländer Tracht. Meine Freundin und ich waren sehr beeindruckt. Irgendwann wurden dann die meisten der Gräber bis auf einige wenige entfernt.

Vor einigen Jahren als Erwachsene besuchten meine Freundin und ich wieder unser Heimatdorf und dabei auch die Kirche und den alten Friedhof. Und wir waren über alles enttäuscht, dass „unser“ Grabstein nicht mehr vorhanden war. Ich erinnere noch, wie meine Freundin nochmals betonte, wie ungewöhnlich der Grabsein sei und wie schade, dass man alles der Modernisierung opferte.

Meine Freundin war genau wie ich eine Liebhaberin alles Alten und genau wie ich liebte sie Reetdachhäuser, Kachelöfen und alte Möbel. So konnte sie sich immer wieder darüber aufregen, dass die inzwischen in ihrem Elternhaus lebende Familie als erstes den alten schönen Kachelofen rausriss und stolz die Zentralheizung präsentierte. Und genau wie ich empfand sie es ausgenommenen Stilbruch, dass man die alten mit viel Schnitzereien verzierten Eingangstüren der Bauernhäuser durch geschmacklose 60er Jahre Kunststofftüren ersetzt hatte.

Als ich jetzt wieder einmal über den alten Friedhof ging, nahm ich mir sehr viel Zeit für jedes Grab. Und plötzlich stand ich vor „unserem“ Grab. Irgendwie mussten wir es bei unserem letzten Besuch übersehen haben. Ich dachte sofort an meine Freundin, die inzwischen verstorben ist. Gern würde ich es ihr erzählen, dass die Freunde der gnadenlosen Modernisierung doch soviel Erbarmen hatten, den schönen alten Grabstein nicht zu zerstören.

Von dem Paradies unserer Kindheit ist inzwischen viel zerstört worden. Immer dem Prinzip folgend, dass Altes dem Neuen weichen muss. Zumindest dann, wenn es um Geld geht oder um Rationalisierung. Es ist so wenig übrig von dem, was mir vertraut ist und was mir etwas bedeutet. Und deswegen hat dieses kleine Fundstück für mich soviel Bedeutung. Die Frau auf dem Bild, die irgendwann Mitte 1800 gestorben ist, kenn ich nicht. Und trotzdem bedeutet mir ihr Grabstein etwas.



Sonntag, 2. Januar 2011
Persönliche Highlights und Flops des Jahres 2010
Die Enttäuschung des Jahres 2010:
Die Einreiseverweigerung im Flughafen von Burma.

Das Ereignis des Jahres 2010:
Das nach 35 Jahren erstmals veranstaltete Klassentreffen. Lange nicht mehr so wohl gefühlt wie an jenem Abend.

Die Peinlichkeit des Jahres 2010:
Die von einem Kollegen angekündigte Unterlassungsklage.

Die materielle Neuanschaffung des Jahres 2010:
Das erste eigene Auto.

Der Held des Jahres 2010:
Ein Kollege, der unserem Alphamännchen
ein Nein erteilt hat.

Das Beeindruckendste des Jahres 2010:
Ein Flug über Borneos Regenwald und Küsten in einer winzigen Propellermaschine als einzige Passagiere, mit Sitzplätzen direkt am Cockpit.

Der Hoffnungsschimmer des Jahres 2010:
Es gibt auch noch andere Betreuer, für die Betrug im Betreuungswesen kein Kavaliersdelikt darstellt.

Der Schreck des Jahres 2010:
Eine Giftschlange im Bastsonnenschirm.

Die Lachnummer des Jahres 2010:
Die Schreibdame eines Kollegen, die auf die Bitte um eine Kopie mit einem hochempörten und wahrlich kabarettreifen Vortrag zum Thema „Das ist nicht mein Arbeitsauftrag“ reagierte. Solange es sonst nichts gibt, worüber man sich empören kann...

Endlich geschafft im Jahr 2010:
Die letzte BAföG-Rate getilgt.

Die gute Entscheidung des Jahres 2010:
Kontakt zu alten Freunden wieder aufleben lassen.

Der Misserfolg des Jahres 2010:
Die Abweisung einer Beschwerde beim Landgericht dagegen, dass eine Betreute meine Vergütung aus eigener Tasche zahlen muss.

Das Revival des Jahres 2010:
Das Classic Rock Festival im August. Gutes ist nicht totzukriegen...

Das Gourmet-Ereignis des Jahres 2010:
Das nächtliche Seafood-Dinner im Fackelschein direkt am Sandstrand von Perhentian.

Das Versäumnis des Jahres 2010
Wieder viel zu wenig Sport gemacht und nicht gefastet.

Das persönliche Unwort des Jahres 2010:
Unterlassungsklage.

Zur Erklärung: wenn es etwas zu beklagen gibt, dann sind es die Aussagen an sich und nicht deren Zitat.