Donnerstag, 8. April 2010
Abu Ali ibn Sina
Die ganze Zeit ihrer Umarmung über hatte er sich in von weit hergekommene Reminiszenzen gleiten lassen, die wie aus grauer Vorzeit wieder aufgetaucht anmuteten. Sie hatten im Voraus die Gesten, die Umarmungen des anderen gewusst; das Vorherwissen ihres gegenseitigen ganz erstaunlich vorgreifenden Verlangens. Die Erfahrung vergangener Liebschaften hatte ihn gelehrt, dass nur äußerst selten zwei sich unbekannte Körper sogleich beim ersten Male die vollkommene Harmonie erreichen mochten. Dennoch hatte das Wunder stattgefunden. Sie hatten aneinander getrunken, ihre Lippen hatten sich vereinigt, verbunden, verschmolzen, mit der Inbrunst des Töpferwerks, das gleichsam zurück in seine Form drängt. Sie waren ausgebrannt, verzehrt, ohne mehr zu wissen, wer von beiden Talg und wer die Flamme war. In Wirklichkeit hatten sie sich nicht beigewohnt... Sie hatten sich einfach nur wieder erkannt.

„Wie geschieht mir?“, fragte Ali, als spräche er zu sich selbst. „Da ist etwas, was in mir lebt, das ich bis zur Stunde nicht kannte. Verstehst du?“

Sie strich ihm sanft mit der Hand den Nacken entlang. „Ich verstehe, Ali ibn Sina. Doch im Unterschied zu dir und obwohl ich das, von dem du sprichst, nie empfunden habe, wusste ich, dass es existiert. Undeutlich. Wie man um ein Land weiß, ohne es je kennen gelernt zu haben.“


Diese Zeilen stammen aus dem Roman Gilbert Sinoués „Die Straße nach Isfahan“, in dem es um das Lebenswerk des berühmten persischen Arztes Abu Ali ibn Sina geht, besser bekannt als Avicenna. Der Roman beschreibt den Lebensweg dieses Mannes, der nicht nur durch seine medizinischen Verdienste, sondern auch durch seine Verehrung Aristoteles’ bekannt wurde.

Mir gefiel diese hochpoetische Art, wie Erotik beschrieben wird. Eine Zeit widerspiegelnd, in der Erotik noch etwas Geheimnisvolles und Mystisches war. Geheimnisvoll deswegen, weil Erotik ein der Öffentlichkeit verborgener Bereich war. Mystisch, weil dies eine über das rein körperliche Empfinden hinausgehende Verschmelzung beinhaltet. Der Ausspruch der Geliebten „Ich wusste, dass es existiert“ drückt die Erahnung von etwas aus, das sich einer konkreten Vorstellung entzieht und nicht im Bereich des Alltäglichen zu finden ist. Eine Ahnung, die mit Sicherheit heute kaum noch jemand kennt.



Samstag, 5. September 2009
Etty Hillesum
Blaise Pascal hat mal geschrieben: "Je länger ich die Menschen betrachte, desto mehr liebe ich meinen Hund". Ich habe gar keinen Hund, aber ich kann diesen Aphorismus für mich entsprechend wandeln in "Je länger ich dumme Menschen betrachte, desto mehr liebe ich Literatur". Eigentlich ist es beunruhignd, den letztendlich nur fiktiven Menschen den Vorrang zu geben vor den realen Menschen aus Fleisch und Blut. Aber ich bin schon seit langem in Kreise geraden, in denen das Denken besorgniserregend wenig wenig praktiziert wird. Ich meine dabei nicht das Denken über Möglichkeiten der Zeitersparnis, der Geldanlage oder der Außendarstellung, sondern das Nachdenken. Die geistige Beschäftigung mit etwas. Zum Beispiel mit dem Menschen. Nicht über das, was man in ihn projiziert, sondern über den Menschen mit seiner ihm eigenen Persönlichkeit.

Vor einiger Zeit habe ich hier Etty Hillesum zitiert, von der ich allerdings bisher auch nur ein Zitat und nie das Buch selbst gelesen hatte. Das habe ich inzwischen nachgeholt und mir das Buch "Das denkende Herz" besorgt. Das Buch basiert auf Tagebuchaufzeichnungen, die die Holländerin Etty Hillesum in den Jahren 1941-1943 gemacht hatte bevor sie in Auschwitz ermordet wurde.

Ich hatte ein wenig Anlaufschwierigkeiten mit dem Buch, aber jetzt bin ich drin. Vielleicht hat alles seine Zeit und vor ein paar Wochen war es eben noch nicht soweit. Etty Hillesum ist aus zwei Gründen im Moment das, was ich so dringend brauche. Zum einen ist es eben dieser Mangel an Möglichkeit des geistigen Austauschs. Zum anderen hat sie genau das, was mir fehlt: Verständnis für die Schwächen der anderen. Sei es Dummheit, sei es primitive Gewalttätigkeit - Etty Hillesum trägt in sich einen tiefen Humanismus, der über die eigene Person als Betroffene hinausgeht. Leid ist für sie so etwas Universelles, daß es überhaupt nicht an den eigenen Erfahrungen festgemacht werden darf. Es geht um Größeres.

Und sie hat - im Gegensatz zu mir - erkannt, daß Denken nicht der Weg ist: Mit Denken komme ich ja doch nicht weiter. Denken ist eine schöne und stolze Beschäftigung beim Studieren, aber aus schwierigen Gemütszuständen kann man sich nicht "herausdenken". Dazu muß man anders vorgehen. Man muß sich passiv verhalten und horchen. Wieder den Kontakt mit einem Stückchen Ewigkeit finden .

Ich werde dieser großartigen Frau hier in meinen Kommentaren in ihrem Buch folgen.