Sonntag, 3. Januar 2016
Plädoyer für Ratlosigkeit
Zum zweiten Mal habe ich heute den Film „Der Vorleser“ angesehen, der auf dem gleichnamigen Buch von Bernhard Schlink basiert. Manchmal löst ein Film oder auch ein Buch beim zweiten Mal eine größere Reaktion aus als beim ersten Mal. Vielleicht ist man einfach nur in einer anderen Stimmung oder vielleicht war man beim ersten Mal nicht wirklich konzentriert dabei. Wie dem auch sei, heute ging mir der Film sehr viel näher. Der Film hinterließ bei mir ein Gefühl, das man am besten mit Ratlosigkeit beschreiben könnte. Ratlos ist man dann, wenn das übliche Schema von Gut und Böse fehlt und dies ist hier der Fall. Bei Hanna, der weiblichen Protagonistin des Films, gespielt von Kate Winslet, handelt es sich um eine frühere KZ-Aufseherin, die in den 60er Jahren für ihre Taten angeklagt und lebenslänglich verurteilt wird. Der männliche Protagonist Michael hatte als 15jähriger mit der über 20 Jahre älteren Frau ein Liebesverhältnis und sieht diese erst bei jenem Prozess wieder, an dem er im Rahmen seines Jurastudiums teilnimmt.

Die Frau, mit der er eine heftige und sinnliche Liebesbeziehung hatte und die von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand, taucht jetzt in Michaels Leben als angeklagte Massenmörderin wieder auf, was verständlicherweise ein gefühlsmäßiges Chaos in dem inzwischen erwachsenen Mann auslöst, der hin- und hergerissen ist zwischen zärtlichen Erinnerungen auf der einen Seite und Sprachlosigkeit auf der anderen Seite angesichts Tatsache, dass die ehemalige Geliebte den Tod von Hunderten von Menschen auf dem Gewissen hat. Während des Prozesses wird Michael klar, warum Hanna ihn während ihrer Beziehung hartnäckig zum Vorlesen drängte – Hanna ist offensichtlich Analphabetin. Obwohl sich Michael nicht zu einem persönlichen Kontakt durchringen kann, schickt er Hanna regelmäßig Kassetten, die er mit literarischen Werken bespricht. Kurz vor der anstehenden Entlassung nimmt sich Hanna das Leben. Der Film endet damit, dass Michael eine der KZ-Überlebenden aufsucht, um ihr gemäß Hannas Wunsch deren Geld und eine Teedose zu überbringen. Verständlicherweise löst dies eher eine Reaktion der Befremdung und Ablehnung aus.

Warum hinterlässt dieser Film bei mir ein Gefühl von Ratlosigkeit? Weil es einfacher ist, sich kaltblütig mordende Menschen als gefühlslose Monster vorzustellen, die weder eine Seele noch eine Biographie noch sonst irgendetwas besitzen, das Menschen von Monstern unterscheidet. Und weil man gern von anderen Menschen eine strikte und glasklare Parteilichkeit gegen das Böse fordert. Da wirkt es irritierend, dass der männliche Protagonist sich beim Erkennen der wahren Identität seiner ehemaligen Geliebten nicht sofort angeekelt abwendet und das Weite sucht, sondern immer noch mit Gefühlen kämpft.

Ich las nach dem Film noch ein paar Filmkritiken. Ich hatte es mir schon vorher gedacht – dem Film wurde vorgeworfen, die Täter des Dritten Reichs zu verharmlosen. Dabei wurde kritisiert: „die Deutschen der Nazizeit davon freizusprechen, von der Endlösung gewusst zu haben“ und es wurde konstatiert: „Problematisch sei die Sichtweise auf die Täterin, eine attraktive, geheimnisvolle Verführerin“. Dies passt anscheinend nicht so recht in das Klischee, dass Mörder per se immer grobschlächtig und abstoßend sind und selbstverständlich ist es völlig undenkbar, für solche Kreaturen auch noch andere Gefühle als Ekel und Hass zu empfinden.

Eine ähnliche Kritik gab es übrigens auch für den Film „Der Untergang“ von einigen Seiten (unter anderen auch von der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich). Man hätte Hitler nach Meinung einiger Kritiker viel zu menschlich dargestellt und der Film wäre angelegt, das Dritte Reich zu verharmlosen und Verständnis zu wecken. Für mich ist diese Einschätzung noch nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar, denn der Film hat meines Erachtens das Szenario im Führerbunker mit all seinem Irrsinn und seiner Verblendung schonungslos dargestellt. Da zu meinem Bekanntenkreis auch viele Nichtdeutsche gehören, bin ich immer wieder froh, auch mal die Meinung von Menschen zu hören, die keine deutschen Scheuklappen tragen. Als ich einen an deutscher Geschichte sehr interessierten Franzosen von der negativen Einschätzung zum Film „Der Untergang“ erzählte, reagierte er genauso mit Unverständnis wie ich.

Ich frage mich immer wieder, warum Menschen so ein ausgesprochen starkes Bedürfnis danach haben, jeden Versuch, eine Thematik differenziert darzustellen, sofort durch den Vorwurf einer einseitigen Sichtweise zu entwerten. Im Grunde ein Paradoxon schlechthin – die eigene einseitige Sichtweise wird auch bei dem anderen vorausgesetzt. Wer auch nur den Hauch des Verständnisses für einen Täter zeigt, wird rigoros als jemand bewertet, der sich voll und ganz auf dessen Seite stellt und das Leid der Opfer strikt leugnet. Dies ist beileibe nicht nur bei Filmen so, sondern zieht sich durch alle Lebensbereiche.

Was den hier beschriebenen Film „Der Vorleser“ betrifft, so ist es gerade das Fehlen eines Schwarz-Weiß-Schemas, das ihn für mich so sehenswert macht. Der Film macht das, was einen guten Film ausmacht: er wirft Fragen auf und verunsichert. Konfrontation mit der Komplexität menschlicher Gefühle anstatt Reduktion auf plumpe Einteilung in Gut und Böse.



Montag, 4. März 2013
Durchschnitt und Genie
Man sollte sich nie auf Filmkritiken verlassen, die voll des Lobes sind, wenn man nicht enttäuscht werden will. So ging es mir eben bei „Black swan“. Ich hatte noch die Kritiken bei Erscheinen des Films in Erinnerung, die den Film als beeindruckend lobten. Was mich dann aber richtig neugierig machte, war die Rubrik „Hintergrund“ der Fernsehzeitung. Dort stand nämlich geschrieben, dass der Regisseur Darren Aronofsky sich beeinflusst sah durch Roman Polanskis Filme „Der Mieter“ und „Ekel“. Letzter Film hat mich nicht allzu sehr beeindruckt, weil ich Catherine Deneuve nicht besonders mag, denn es reicht mir nun mal nicht, wenn jemand zwar wunderschön aussieht, aber die schauspielerischen Fähigkeiten sich meist darauf beschränken, geheimnisvoll lächelnd in die Kamera zu starren.

Was allerdings Polanskis „Der Mieter“ betrifft, so ist dies für mich der beeindruckendste Film, den ich je gesehen habe. Ich bin vor vielen Jahren mehr oder weniger zufällig spätabends in diesen Film gestolpert ohne zu wissen, dass es sich um ein Werk von Polanski handelt. Dies habe ich erst bemerkt, als er als Protagonist im Film auftauchte.

„Der Mieter“ ist ein Film, durch den man langsam in die Welt der Psychose hineingezogen wird und am Ende nicht mehr weiß, ob man sich in der Realität oder im Wahn befindet. Und dieser Prozess steigert langsam seine Bedrohlichkeit. Das Unheimliche am Film ist das Ungewisse, denn obwohl man einerseits spürt, dass die Hauptperson mit dem Bezug zur Realtität kämpft, ist man sich andererseits auch sicher, dass nicht alles Wahn ist, sondern mit Außenwelt etwas nicht stimmen kann. Der Film schafft es wie kein anderer, das Gefühl von beängstigender Unsicherheit zu hinterlassen.

Auch bei „Black swan“ ist man sich stellenweise nicht sicher, ob es sich um Realität oder Fiktion handelt. Aber dies wird bewusst als Mittel eingesetzt, während es beim Polanski so subtil eingearbeitet ist, dass man ohne es recht zu bemerken, in die Falle des Zweifels tappt. „Black swan“ ist ein typischer Hollywoodfilm und den Unterhaltungswert kann man nicht bestreiten, genauso wie die schauspielerische Leistung Natalie Portmans. Aber das war’s dann auch schon. Und dies ist etwas, was ich allgemein mit amerikanischen Filmen verbinde – Unterhaltung. Amerikanische Filme können hoch spannend sein oder romantisch, urkomisch oder gruselig – nur wirklich beeindruckend sind sie nicht. Hauptziel fast aller amerikanischen Filme ist der Erfolg beim Publikum. Kein wirklicher Künstler arbeitet so, denn Kunst ist immer ureigenster Ausdruck und nicht geplante Wirkung.

Und genau das ist er, der Unterschied zwischen Durchschnitt und Genie.

Vielleicht sollte sich Polanski des Themas annehmen.



Freitag, 19. Oktober 2012
Lehrstunden der Liebe – Lust och fägring stor
Es gibt nur wenige Filme, die die Zartheit der ersten Liebe so zum Ausdruck bringen, wie dieser Film, der in der Zeit um 1943 in Schweden spielt. Ein 15jähriger Schüler verliebt sich in seine Lehrerin, die nach anfänglicher Abweisung seine Liebe erwidert. Irgendwann ist die Liebe dem Versteckspiel und dem Altersunterschied nicht mehr gewachsen. Und es endet so, wie es oft endet – das, was in Zartheit und Anmut beginnt, wandelt sich in Verletzung und Grausamkeit.

Obwohl ich keine Kennerin klassischer Musik bin, hat mich das „Lascia ch`io Pianga mia cruda sorte“ aus Händels Rinaldo tief berührt „Lass mich beweinen mein grausames Schicksal“ ist die Untermalung der Blicke und Gesten, mit denen sich die zarte Liebe zwischen dem ungleichen Paares langsam anbahnt. Wenn es ein Gedicht gibt, das in dem Film seine Ensprechung findet, dann „Zärtlichkeiten“ von Stefan Zweig (1881-1942):

Ich liebe jene ersten bangen Zärtlichkeiten,
die halb noch Frage sind und halb schon Anvertrauen
weil hinter ihnen schon die andren Stunden schreiten,
die sich wie Pfeiler wuchtend in das Leben baun.


Diesen wunderschönen kurzen Ausschnitt ansehen lohnt sich:

http://www.youtube.com/watch?v=3ckEBz5P5Ao&feature=share&list=PL2AB5EFC0A6A9B673



Sonntag, 13. Mai 2012
Familienfeste und das Gebot des Schweigens
Obwohl es schon einige Jahre zurückliegt, dass ich diesen Film gesehen habe, fallen mir immer wieder Szenen daraus ein. „Was sie nie erzählte“ ist die Geschichte einer zarten Jugendliebe und eines sexuellen Missbrauchs. Nach zwanzig Jahren entdeckt der inzwischen erwachsene Wander seine Jugendliebe Zelda in einer Talkshow wieder. Dabei spielt sich vor seinem geistigen Auge die Zeit zwischen dem ersten Kennenlernen bis zum plötzlichen Verschwinden Zeldas ab. Der 14jährige Wander und die sonderbare Zelda freunden sich an und nach kurzer Zeit verliebt sich Wander in Zelda. Der Kontakt bricht aber abrupt ab, als Zeldas Familie plötzlich den Ort verlässt. Jetzt verfolgt der überraschte Wander gebannt die Talkshow, in der Zelda von ihrem Vater erzählt, der nach einiger Zeit auch dazukommt. Und dann kommt das schreckliche Geheimnis zutage, dass Zelda damals vor ihm verborgen hat: ihr Vater hat sie jahrelang sexuell missbraucht. Der Film endet damit, dass Wander, der als Schiffsmaschinist arbeitet, seine Sachen zusammenpackt und eilig das Schiff verlässt.

Was für mich den Film so beeindruckend macht, sind zum einen die phantastischen schauspielerischen Leistungen der beiden jugendlichen Schauspieler. Die ruppige Zelda, mit der irgendetwas nicht zu stimmen scheint und der schüchterne Wander, der sich davon nicht abschrecken lässt und beharrlich um Zelda wirbt. In dem Film wird das ungeheuer Zarte deutlich, durch das die erste Liebe geprägt ist. Und neben dieser sehr beeindruckend gespielten Zartheit klafft der Abgrund dessen, was von einem Erwachsenen unter Liebe verstanden wird und das nichts anderes ist als ein abscheulicher Missbrauch.

Der Film hinterlässt dennoch nicht nur Wut, denn trotz der schrecklichen Geschehnisse, die offenbar wurden, hat man als Zuschauer das Gefühl von Hoffnung. Es ist offensichtlich – zumindest für mich – dass Wander die Chance nutzt und sich sofort auf die Suche nach seiner Jugendliebe macht. Aber es ist noch etwas anderes, das Genugtuung verschafft: Zelda bricht ihr Schweigen! Und dies mit ungeheurem Mut, denn sie erzählt ihre Geschichte nicht im Bekanntenkreis, sondern im Fernsehen. Damit macht sie den entscheidenden Schritt, etwas scheinbar Privates dorthin zu verlagern, wo es hingehört: in die Öffentlichkeit. Das ungeheure Leid, dass durch sexuellen Missbrauch verursacht wird, ist weder Privatangelegenheit noch Kavaliersdelikt.

Auch in Lars von Triers „Das Fest“ geht es um das Öffentlichmachen eines jahrelang streng geheim gehaltenen familiären sexuellen Missbrauchs. Ausgerechnet auf dem großangelegten Geburtstagsfest bricht der missbrauchte Sohn sein Schweigen. Allerdings wird dies von der illustren Geburtstagsgesellschaft nahezu ignoriert und es wird eher der Sohn als vermeintlicher Störenfried angefeindet, als der Vater. Man betrachtet nicht den Missbrauch als solchen als Schandtat, sondern vielmehr sein Öffentlichmachen.

Beide Filme machen schmerzhaft deutlich, dass die Zerstörung einer Kinderseele ihre letzte Vollendung durch das Gebot des Schweigens erhält. Ein Gebot, das zu allem Übel auch noch damit verbunden ist, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Das unausgesprochene Gebot, reibungslos zu funktionieren und fröhlich an Familienfesten teilzunehmen, zerstört vollends die gesunde Wahrnehmung, die ein Kind in Bezug auf sich und die Erwachsenen hat. Täter, schweigende Komplicen oder stumme Zuschauer – ihnen allen ist gemeinsam, dass die eigene Schuld hartnäckig ausgeblendet wird. Und alle benötigen das reibungslose Funktionieren eines Kindes als Absolution. Und deswegen wird nichts so schwer geahndet, wie das Öffentlichmachen des Verbrechens, das das mühsam aufrechterhaltene Gebilde einer heilen Welt ins Wanken bringt. Öffentlichmachen heißt nichts anderes, als die Absolution zu verweigern und die Täter, Komplicen und stumme Zuschauer ihres Seelenfriedens zu berauben. Dieser Seelenfrieden, der den Erwachsenen so viel wichtiger ist, als der Seelenfrieden der Kinder, die ihnen anvertraut sind und die doch so sehr ihres Schutzes bedürfen.

Dabei geht es bei dem Thema sexueller Missbrauch – sexuellem Missbrauch die Absolution zu verweigern und endlich das Schweigen zu brechen. Und das geschieht nie nur für das einzelne Kind, sondern für alle.



Donnerstag, 23. Februar 2012
Der blaue Engel – Macht, Grausamkeit und Feigheit
Es gibt für mich kaum einen Film, der Doppelmoral, Untertanentum und Konservatismus so beeindruckend ausdrückt wie „Der blaue Engel“. Der Film spielt in der nachwilhelminischen Zeit, die gekennzeichnet ist durch kleinbürgerliche Enge und Autoritätsgläubigkeit. Es geht um das Zugrundegehen eines Gymnasialprofessors, das sich ereignet vor dem düsteren Hintergrund einer Erziehung, die durch Freudlosigkeit und ängstliches Ducken vor der Autorität gekennzeichnet ist. Es scheint, als ob sich Lehrer und Schüler gleichermaßen gegenseitig hassen.

Professor Unrat scheitert daran, dass seine Autorität verkörpernde Position nicht vereinbar ist mit der Heirat einer zweitklassigen Varietesängerin. Obwohl das Kleinbürgertum sich schon immer magisch angezogen fühlte von der Welt des Tingeltangels, in der all das erlaubt ist, was im eigenen starren und sittenstrengen Wertesystem verpönt ist, gilt die unumstößliche Regel, derzufolge sich niemand offen zu dieser Anziehung bekennen darf. An dem Wechsel in diese andere Welt zerbricht Professor Unrat.

Die Schüler des Professors sind keine Kinder mehr, sondern junge Erwachsene. Und trotzdem verstecken sich diese ängstlich blitzschnell unter dem Tisch oder hinter dem Paravent, als der die Autorität verkörpernde Professor naht. Auf bedrückende und anschauliche Weise fallen hier die sinnbildliche und konkrete Bedeutung des Begriffs „Ducken und Kuschen“ zusammen. Durch den gesellschaftlichen Abstieg des Professors wechseln die Positionen. Nicht mehr der Lehrer hat jetzt die Position des Überlegenen, sondern die Schüler. All jene, die zuvor noch geduckt und gekuscht hatten, schlagen jetzt zurück. Wobei bezeichnend ist, dass die Konstellation einer Einzelperson gegen eine Gruppe sich wandelt in die einer Gruppe gegen eine Einzelperson.

Für mich ist der Film nicht nur eine beeindruckende Charakterstudie eines gescheiterten Menschen, sondern auch eine bemerkenswert Studie über das zwangsläufige Zusammenspiel von Feigheit, Macht und Grausamkeit. Feigheit findet seine Entsprechung in der Freude an Grausamkeit. Wer einsteckt, ohne aufzumucken, konserviert seine Wut so lange, bis sie sich in Grausamkeit gewandelt hat. Und diese Grausamkeit gleicht einem Tier, das so lange auf der Lauer liegt, bis sich das potentielle Opfer in der unterlegenen Position befindet. Dann – und nur dann – schlägt sie zu. Immer aus dem sicheren Hinterhalt und dabei mit sichtbarem Genuss, denn schließlich wurde auf diesen Moment lange gewartet. Selbst wenn das Opfer schon wehrlos am Boden liegt, wird nochmals nachgetreten.

Ja sicher, die Schüler sind letztendlich auch nur Opfer eines entwürdigenden Erziehungssystems. Aber niemand ist ausschließlich Opfer. Wäre dies der Fall, dann würden wir alle als vorprogrammierte Maschinenmenschen in Diktaturen leben. Feigheit ist immer ein klares Ja zu allem Bestehenden und ein klares Nein zu Veränderung. Mögen die Machtverhältnisse auch noch so verhasst sein – Feigheit ist die Voraussetzung für deren Konservierung und bildet eine Koalition mit ihr und mit dem Unrecht.

Mit dem Film „Der blaue Engel“ assoziiere ich drei Bilder: Die Schüler, die sich – obwohl erwachsen – wie kleine Jungen mit schreckverzerrten Gesicht unter den Tisch ducken. Dann die die Szene, in der die Schüler im Schutz der sicheren Gruppe ihren Lehrer hasserfüllt und laut grölend verhöhnen. Und letztendlich Emil Jannings, der als Professor Unrat noch im Tod das Lehrerpult umkrallt, als würde es nichts anderes geben, das jemals wichtig für ihn war. Ein Mensch, dessen Dasein eine Metamorphose von der gefürchteten Autorität hin zur verlachten Witzfigur durchmachte.

Diese drei Bilder sind es, die diesen Film für mich so düster und unheimlich machen.



Mittwoch, 28. Dezember 2011
Schlecht geschlafen
Vorgestern habe ich mir im Fernsehen „Schindlers Liste“ angesehen. Bisher hatte ich den Film nie zu Ende gesehen und kannte nur Ausschnitte. Es ist kaum möglich, so einen Film anzusehen, ohne hinterher völlig aufgewühlt und fassungslos zu sein. Meinem Freund ging es genauso und insbesondere die Szenen mit den Kindern gingen ihm sehr nahe. Auf der anderen Seite weckt der Film auch eine Mordswut auf die Nazischergen, die mit unvergleichlichem Sadismus Menschen quälten. Ich habe im Anschluss an den Film noch ein wenig recherchiert und viele der Filmfiguren, wie z.B. die des Amon Göth, waren durchaus authentisch.

Und wie immer frage ich mich nach so einem Film nach dem Warum. Sind solche Menschen eigentlich noch Menschen oder einfach nur noch Bestien? Die Antwort lautet leider, dass es sich um Menschen handelt und dies macht die Sache noch schrecklicher, denn es wird der Abgrund deutlich, den das menschliche Wesen in sich birgt.

Bis zum Alter von etwa neunzehn Jahren war ich der Meinung, dass sich so eine Katastrophe nicht wiederholen könnte, da wir ja alle aus Auschwitz gelernt und uns weiterentwickelt hätten. Als ich dann aber eine Tätigkeit in einer Anwaltskanzlei aufnahm, kam meine Meinung ins Schwanken. Ich war plötzlich mit Menschen konfrontiert, deren Standardspruch lautete: „Issas mein Problem, oder was?“ Menschen, die vor dem Chef kuschten, als würde ihr Leben auf dem Spiel stehen. Menschen, die tagaus – tagein nur über Möbeleinkäufe, das Gedeihen ihrer Kinder und nicht anwesende Kolleginnen redeten und die nichts, absolut gar nichts anderes interessierte.

Um es deutlich zu sagen, ich glaube nicht, dass dieser Typ Mensch die Intention hätte, jemanden zu töten oder zu misshandeln. Aber dieser Typ Mensch wäre mit Sicherheit in der Lage, all diese Greultaten mitanzusehen ohne auch nur den geringsten Grund zum Eingreifen zu sehen – solange es nicht um eigene Angehörige geht. Das Gros der Menschen wird auch heute immer noch einzig und allein darauf achten, für sich selbst zu sorgen.

Und auch deswegen schlafe ich nach solchen Filmen schlecht – weil Auschwitz sich jederzeit wiederholen könnte. Auch wenn es heute mit Sicherheit wachsame Menschen gibt, die bei Absehbarkeit einer vergleichbaren Entwicklung laut aufschreien würden – an der menschlichen Natur hat sich nichts Grundlegendes geändert. Es gibt immer noch Menschen, die abgrundtief hassen. Und die Gruppe derer, auf die der Hass abzielt, ist austauschbar. Es kann sich um Menschen handeln, die einen anderen Glauben haben, einer anderen Kultur angehören, eine andere politische Meinung vertreten, eine andere Sexualität leben oder die sich keinen Geschlechtervorschriften unterwerfen wollen. Und es gibt immer noch Menschen, die ducken und selbst dann kuschen, wenn es gar nichts zu befürchten gibt.

Unweigerlich fragt man sich bei dem Ansehen eines Films wie „Schindlers Liste“, wie man selbst gehandelt hätte. Und genau das ist es, was so beunruhigend ist – man weiß es nicht. Man kann nicht sagen, wie sehr Angst das eigene Handeln gelähmt hätte. Wie groß die Furcht vor Misshandlung und Tod gewesen wäre. Der Krieg bringt im Menschen das Schlechteste hervor. Dieser Ausspruch ist leider erschreckend wahr.



Dienstag, 1. März 2011
Gewalt, Rache, Gerechtigkeit und was aus einem Trauma entstehen kann
Obwohl ich Actionfilme nicht besonders mag, habe ich mir die gesamten Folgen der Millennium-Trilogie von Stieg Larsson angesehen. Ich habe erst vor einigen Monaten das erste Mal von Stieg Larsson und seiner Trilogie gehört. Das war in meinem Urlaub in Malaysia, als ich mich mit einem Australier unterhielt und wir dabei auch auf meinen Beruf zu sprechen kamen. Am nächsten Abend trafen wir uns zufällig wieder und er sagte mir, dass ihn durch unsere Unterhaltung die Romane von Stieg Larsson eingefallen wären, denn auch dort kommt ein „Guardian“ – also Vormund – vor. Der Australier beschrieb die Romane als äußerst spannend und lesenswert.

Als jetzt vor sechs Wochen die erste Folge – Verblendung – im Fernsehprogramm angekündigt wurde, war für mich klar, dass ich mir zumindest eine Folge ansehen wollte. Besagter Australier hatte mir die Romane so ans Herz gelegt und ich war außerdem sehr neugierig, welche Rolle man in einem Actionfilm wohl einem Vormund zugedacht hat. Schon der erste Teil des Films strotzt nur so von Gewalt – dies ist auch der Grund, warum ich mir normalerweise schon seit längerem solche Filme nicht mehr ansehe. Man baut eine Menge Wut auf, die auch nach dem Ende des Films noch spürbar ist und letztendlich weiß ich nach solchen Filmen oftmals nicht, warum ich sie mir überhaupt angesehen habe. Inhaltlich geht es meist um nichts anderes, als um die Darstellung von Gewalt und überzogenen Klischees.

Aber irgendetwas an dem Film hat mich dann doch sehr gefesselt. Zum einen ist die von Noomi Rapace dargestellte Rolle der Lisbeth Salander sehr beeindruckend. Eine ungewöhnliche Mischung aus Zerbrechlichkeit, Trotz, Verletztheit und Racheengel. Und dann die Person des Journalisten Mikael Blomkvist, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, miese Machenschaften ans Licht zu bringen. Beide Figuren trifft man im wahren Leben nicht. Menschen, die für Gerechtigkeit ihr Leben aufs Spiel setzen gibt es leider nur im Film. Allerdings wurde im Anschluss an den ersten Teil eine Dokumentation über das Leben von Stieg Larsson gezeigt, die doch ein kleines bisschen an meiner Einschätzung gerüttel hat.

Ähnlich wie seine Romanfiguren hat sich nämlich Stieg Larsson in seinem wahren Leben dem Kampf gegen Ungerechtigkeit verschrieben und sich insbesondere gegen Rechtsradikalität engagiert. Und was mich sehr berührt hat, ist der Anlass, der zu seinem Engagement geführt hat. Als Jugendlicher wurde Stieg Larsson Zeuge, wie eine Gruppe anderer Jugendlicher ein Mädchen vergewaltigte. Er griff – warum wurde nicht näher erwähnt – nicht ein, aber nach seinen Aussagen hat dieses Erlebnis bei ihm dazu geführt, sich gegen Gewalt zu engagieren.

Ich habe das Gefühl, dass es Stieg Larsson gelungen ist, seinen Romanen und damit auch deren Verfilmung die Authentizität einzuhauchen, die man in Filmen dieses Genres normalerweise vergeblich sucht. Was übrigens nicht heißt, dass die Verfilmung auf die üblichen reißerischen Mittel verzichtet. Im Großen und Ganzen ist es ein ganz normaler Unterhaltungsfilm – allerdings auf höherem Niveau als normalerweise üblich.

Was mich an Stieg Larsson so beeindruckt, ist nicht die Thematik seiner Romanverfilmungen. Es ist vielmehr die Tatsache, dass jemand aus einer traumatischen Situation einen Wendepunkt in seinem Leben gemacht hat. Oder besser gesagt, die Tatsache, dass jemand die Situation des Miterlebens von Gewalt ohne gegen diese eingeschritten zu sein, überhaupt als Trauma empfunden hat. In einer Zeit der Ideologie des Wegsehens ist dies ein Hoffnungsschimmer.

Menschen sind fehlbar und es gehört zur menschlichen Existenz, dass es Situationen gibt, in denen man tatenlos zusieht, obwohl es richtig wäre, einzugreifen. Das Entscheidende ist, dass man aus diesen Situationen lernt. Ausschlaggebend die Veränderung, die aus Fehlern entstehen kann, wenn man sich ehrlich eingesteht, dass man einen Fehler begangen hat.

Ach so – was die Darstellung eines Vormunds anbetraf, wegen der ich mir ja die Trilogie überhaupt angesehen habe: es gibt im Film davon gleich zwei. Bei dem einen handelt es sich um einen liebenswürdigen älteren Herrn, der sich sehr für sein Mündel eingesetzt hat. Bei dem anderen handelt es sich um einen Kotzbrocken, der seine Position brutal und skrupellos ausgenutzt hat. Zumindest dies war so real wie im richtigen Leben…



Sonntag, 2. Januar 2011
Vom Geben und Nehmen - Emerenz Meier (1874-1928)
Geld
Ich wünsche denen, die ich liebe, Geld
Vor allen andern Gütern dieser Welt.
Denn wer keins hat, dem bleiben auch die andern
Stets fern, und mag er sich zu Tode wandern.
Es hält dir Freunde und Geliebte treu
Und macht dich schaffensfroh und wahr und frei.
Der Schlüssel ist's, ins Leben einzudringen,
Das Seil, sich dran emporzuschwingen.

Die Armut ist ein bodenloser Sumpf,
Wer drein versenkt, er müht sich, bis er stumpf
Ein Wurm nur mehr, kriecht seinen schmalen Steg,
Und kaum ein Schaf springt über ihn hinweg,
Das ihm nicht blökend zu verspüren gäbe,
Welch eine Kraft in seinen Beinen lebe.

Da sagen sie mit tugendspitzem Mund,
Der Reichtum mache niemand glücklich und
Was Gold ist, wird den Weg zur Münze finden. -
Sie mögen doch erst selbst als Wurm sich winden
Und unter Tritten um Erlösung beten,
Bis man wie mich sie vollends totgetreten!


Gestern habe ich eine „Fernsehnacht“ gemacht. Es gab auf BR die Filme „Wildfeuer“ und „Schiefweg“ von Jo Baier. Während Wildfeuer sich nur vage an das tatsächliche Leben von Emerenz Meier hält, ist der Film „Schiefweg“ ein sehr detailgetreuer und von Laien gespielter Film über die Kindheit von Emerenz Meier.

Einige Zeilen aus dem Gedicht „Geld“ wurden von Emerenz Meier schon im Alter von zehn Jahren geschrieben. Und wenn man sich vor Augen hält, wie entbehrungsreich und unmenschlich hart damals das Leben von Kleinbauern und Tagelöhnern war, dann bekommt das Gedicht eine bittere Realität.

Ungerechtigkeit habe ich schon immer als einen körperlichen Schmerz empfunden“ schreibt Emerenz Meier und deswegen widme ich ihr einen Beitrag. Ich habe tiefen Respekt vor Menschen, die Ungerechtigkeit nicht einfach übersehen.

Emerenz Meier wanderte übrigens als Erwachsene mit ihren Eltern nach Amerika aus, wo sich der Wunsch nach einem besseren Leben aber nicht erfüllte, sondern sie immer noch sehr hart um ihre Existenz kämpfen musste. Obwohl sie selbst kaum Geld hatte, schickte sie Pakete in ihre Heimat.

Und das ist etwas, was ich immer wieder feststelle: Menschen, die selbst kaum etwas besitzen, geben ab. Menschen, die mehr als genug haben, horten immer mehr und haben noch nicht einmal Skrupel, sich an denen zu bereichern, die selbst viel weniger haben.



Freitag, 26. März 2010
Schmerz, Tod und Schuld
Bin gestern in die zweite Hälfte des Films "Vier Minuten" gestolpert. Und war dann auch sofort gefesselt. Eine 80jährige Pianistin gibt im Gefängnis Klavierunterricht und stößt dabei auf das große Talent einer jungen Frau. Sowohl die Klavierlehrerin als auch die junge Frau haben in ihrem Leben schon großen Schmerz erlebt und beide sind hart geworden.

Die Klavierlehrerin - gespielt von Monika Bleibtreu - tut alles, um ihre Schülerin an einem großen Musikwettbewerb teilnehmen zu lassen, was aber zu scheitern droht. Wider Erwarten gelingt es der Schülerin aber doch, an dem Wettbewerb teilzunehmen, während die Oper innen und außen von einer Hundertschaft Polizisten umstellt ist. Und das Resultat sind diese vier Minuten hier:
Wenn jemals innere Zerissenheit vertont wurde, dann hier. Menschen, die über das Mittelmäßige hinauswachsen, lassen Grandioses entstehen. Und das verdankt man eben denjenigen, die dieses Grandiose ahnen und ihm den Weg ans Licht bahnen.

Zwei Menschen, denen großer Schmerz zugefügt wurde und die ihren Schmerz nie ganz überwinden werden, weil sie selbst auch Schuld auf sich geladen haben. Zwei Menschen, die mit ihren Albträumen leben müssen und daran verzweifeln.

Das Klavierstück wechselt von harmonischen Klängen zu sehr harten, die mich an Gewehrsalven erinnern. An Bedrohung, wie sie die Klavierlehrerin im Krieg erlebt hatte und ihre Schülerin durch die Verfolgung der Polizei. Es ist der Schmerz, der große Werke entstehen läßt.



Samstag, 27. Februar 2010
Seelenverwandtschaften

Gestern sah ich den Film "Kirschblüten – Hanami". Ein stiller poetischer Film, in dem es um Verlust, Schmerz und Seelenverwandtschaft geht. Ein Mann, der den plötzlichen Tod seiner Frau nicht verkraftet und sich auf die Suche nach ihr macht, indem er ihrer Liebe zum Buthotanz nachspürt. Diese Liebe hatte er zu Lebzeiten seiner Frau nie wirklich ernst genommen, was er bereut und jetzt nachholen möchte.

In Tokio trifft er auf Yu, eine junge obdachlose Frau, deren Mutter verstorben ist und die ebenfalls sehr unter diesem Verlust leidet. Sie tritt durch einen Tanz wieder in Kontakt mit ihrer Mutter. Bei diesem Tanz tanzt Yu in traditioneller Kleidung mit einem kirschblütenfarbenen Telefon. Obwohl die sprachliche Verständigung schwierig ist, gibt es sofort ein unsichtbares Band zwischen den beiden.

Der Mann ist schon seit langem schwerkrank und es kommt, wie es kommen muß. Aber bevor er stirbt, gelingt es ihm, die Seele seiner geliebten Frau wiederzufinden, was ihn glücklich sterben läßt.

Ein Film über zwei verlorene und verletzte Seelen, die sich in ihrem Schmerz begegnen und verstehen. Und neben dieser Begegnung wirken alle anderen menschlichen Beziehungen merkwürdig dumpf und grob. Und man spürt, daß menschliche Beziehungen auch eine andere Dimension haben können, als die übliche. Der tiefe Respekt vor dem Schmerz des anderen läßt ahnen, was Seelenverwandtschaft bedeutet. Vielleicht ist es das, was mich an diesem Film verzaubert hat - die Darstellung einer Seelenverwandschaft. Zwei Menschen, die zwar von ihrer Außenwelt als verrückt angesehen werden, aber die in der Lage sind, gegenseitig ihre - alles andere als verrückte - Einzigartigkeit wahrzunehmen.

Heute habe ich mir Blumen gekauft. Und erst zuhause wurde mir bewußt, welche Blumen – rosarote Kirschblütenzweige.