Heute vor 75 Jahren
Ich bin mit meinen Gedanken in Auschwitz. Und wie immer bin ich dabei fassungslos, denn man kann es nicht erfassen, was dort geschah. Gleichzeitig verspüre ich eine tiefe Hochachtung vor den Holocaustüberlebenden, die es sich zumuten, nochmals an diesen Ort des Schreckens zurückzukehren, um zu mahnen und zu erinnern. Und dabei berührt es mich immer wieder zutiefst, wie wenig Hass diese Menschen zeigen und dabei sogar auch noch oftmals darauf hinweisen, dass es Unterschiede zwischen den SS-Offizieren gab und nicht jeder ein Monster war. Ich hätte diese Großmut sicher nicht. Aber dies ist wohl auch der Grund meiner Bewunderung für die Holocaustüberlebenden – die Fähigkeit, sich sogar im Angesicht schlimmster Unmenschlichkeit und größten Leidens Menschlichkeit zu bewahren.

Das Massenmorden in Auschwitz war nur möglich, weil die Bevölkerung in einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit und Obrigkeitsdenken kollektiv weggesehen hat. Hier müssen wir ansetzen, wenn es darum geht, eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Und wenn uns das wirklich ernst ist, kommen wir nicht umhin, unsere Augen in alle Richtungen offenzuhalten. Antisemitismus gibt es nicht nur in der rechten Szene, sondern auch in linken Kreisen und unter Muslimen. Wenn Juden in Neukölln keine Kippa mehr tragen können, ohne tätliche Angriffe zu riskieren und wenn Linke offen zum Waren- und Kulturboykott Israels aufrufen, ist das nicht weniger schlimm, als wenn die AFD den Naziterror als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ verharmlost. Es ist höchst besorgniserregend, wie sich in Deutschland eine Tendenz zur Relativierung des Antisemitismus etabliert.

Es mag unbequem sein, den Blick auch auf diejenigen zu richten, die selbst auch oft Diskriminierungen ausgesetzt sind, oder die für sich in Anspruch nehmen, die einzig wahren Verteidiger von Minderheiten zu sein. Bei beiden riskiert man, sofort in die rechte Ecke gestellt zu werden. Aber dies Unbequemlichkeit muss man sich zumuten.




Das Problem ist bekannt und es ist nicht so, dass sich niemand darum kümmert. Heute, am 27. Januar war ein interessanter Beitrag im WDR 5-Radio über einen türkischstämmigen Sozialarbeiter der mit muslimischen Jugendlichen nach Auschwitz reist und diese Fahrt sehr engagiert und professionell vorbereitet und begleitet. Gibt es sicherlich noch als Podcast, sehr zu empfehlen.

Das ist ein lobenswerter Ansatz, aber wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass dies sehr viel ändert. Mein Lebensgefährte hat jahrelang als Erzieher in Paris in den Vorstädten gearbeitet und als ich ihn fragte, wie hoch der Anteil der muslimischen Jugendlichen/Jungerwachsenen mit antisemitischer Haltung ist, meinte er, dass fast jeder Jugendliche etwas gegen Juden hat, auf jeden Fall wahrscheinlich weit mehr als 80 Prozent. Ein Muslim aus unserem Bekanntenkreis sagte wortwörtlich, „dass Hitler gar nicht Unrecht damit hatte, die Juden zu vernichten“. Ich weiß, dass das jetzt sehr negativ klingt, aber Realismus ist meist negativ.

Hass auf jemanden zu haben, hat erst in zweiter Linie mit dem Betreffenden zu tun, in erster Linie sind es Probleme, die man mit sich selbst hat – jeder dürfte dies von sich kennen. Es kommt darauf an, dass man seine Einstellungen hinterfragt und vor allem hinterfragt, warum so voll Hass ist. Aber dazu muss man ein Weltbild haben, in dem das Erforschen von Ursachen Platz hat. Wenn man alles religiös erklärt und damit alles Böse auf der Welt allein auf die Ungläubigen zurückführt, dann wird es auch nichts ändern, dass man mit dem Grauen von Auschwitz konfrontiert wird. Dies wird dann zwar durchaus als unmenschlich wahrgenommen, aber letztendlich haben das die Gegner Gottes das auch nicht anders verdient – zumal sich Gott in manchen Religionen ja niemals irrt.

Diese grundsätzlich antisemitische Haltung war bei der Generation meiner Großerltern genauso flächendeckend vertreten. Meiner Mutter kan sich auch bisheute nicht vollständig davon befreien. Sie hat verstanden, dass das kranke Scheiße ist, aber manchmal muss es dann doch raus, dass Juden doch aber... Ich erspare uns das.
Wir, zwei Generationen weiter, antifaschistisch und demokratisch geprägt, können diese Denke nicht nachvollzuiehen. Ich bin mit alttestamentarischen Geschichten aufgewachsen und dadurch mindestens genauso geprägt wie durch die Christliche Fortsetzung. Ich fühle mich der jüdischen Religion und Kultur und deren Angehörigen zutiefst verbunden, sie sind meine Schwestern und Brüder, wir glauben an den gleichen Gott und die Orte, die ihnen heilig sind, bedeuten mir ebenfalls etwas.

Der türkischstämmige Kollege erlärte, das mit dem Antisemitismus, sei in den meisten türkischen Familien derartig internalisiert, da denke niemand mehr drüber nach. Hinzu käme, dass es so eine besondere Vortsellung von Ehre gebe, dass man diese verliere, wenn man sich gegen den Familienkonsens - in diesem Fall eben den Judenhass - stelle. Das ist aber eher ein kulturelles Phänomen, die Religion wird wie so oft nur vorgeschoben.

Es ist ein mühsames Geschäft, die Jugendlichen zu erreichen, sie dahin zu bekommen, dass sie es wagen, sich gegen die Familientradiotion zu stellen. Das fängt damit an, dass sie sich von Eltern und Großeltern etwas über die eigene Familien- und auch Migrationsgeschichte erzählen lassen, auch dass sie sich mit eigenen Erfahrungen im Hinblick auf Ausgrenzung und Rassismus beschäftigen. Die Reisen waren dann sehr eindrucksvoll für die Jugendlichen. Sie waren berührt, bewegt und betroffen.

Besonders skandalös fand ich, dass Lehrer*innen sie zuvor von Fahrten in Gedenkstätten, insbesondere nach Auschwitz, von vorneherein ausgeschlossen hatte, weil es ja nicht um ihre Geschichte gehe, da sie türkischstämmig (oder marrokanisch, algerisch, tunesisch, syrisch...) seien. Dabei hatten die Jugendlichen einen deutschen Pass, also die deutsche Staatsangehörigkeit, sind in Deutschland geboren und sprechen besser Deutsch als Türkisch. Offenkundig hatten die Lehrer*innen Angst, die muslimischen Heranwachsenden könnten sich daneben benehmen und statt sich der Herausforderung zu stellen, ließen sie sie lieber außen vor.

Hass kann man überwinden, indem man in echten Kontakt tritt. Was die soziale Arbeit in Frankreich betrifft, da ist wohl viel Luft nach oben. Was Ihr Lebensgefährte da erlebt hat, ist kein Indiz für unverbesserlich antisemitische Muslime sondern für ein gescheitertes staatliches System.

Wie gesagt, der Antisemitismus unter Muslimen ist nach wie vor Standard, aber man kann dagegen etwas machen und es führt zu gar nichts, zu behaupten, da seien Hopfen und Malz verloren, denn wenn man das denkt, was ist denn dann bitteschön die Konsequenz?!