Von der merkwürdigen Asymmetrie der Beziehungen
Menschliche Beziehungen sind schon etwas Merkwürdiges. Manchmal erhält man von Menschen Hilfe oder Rückhalt, für die man noch nie etwas getan hat. Und manchmal glänzen gerade diejenigen durch Nichtreaktion, für die man sich schon oft genug ein Bein ausgerissen hat. Genauso verhält es sich mit der menschlichen Eigenschaft der Dankbarkeit. Es gibt Menschen, die für das, was man für sie getan hat, viel Anerkennung und Dank zeigen. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, für die alles selbstverständlich ist. Wenn man jetzt meint, dass dies in Relation zu dem Grad des geleisteten Aufwands steht, dann irrt man. Manche Menschen nehmen schon Kleinigkeiten wahr und halten es für wichtig, ihre Anerkennung auch zum Ausdruck zu bringen. Andere wiederum halten auch den größten für sie geleisteten Einsatz für das Selbstverständlichste der Welt und würden nicht mal im Traum darauf kommen, sich dafür zu bedanken.

Nein, es gibt in menschlichen Beziehungen kein Prinzip der Gegenleistung. Es ist mehr oder weniger wie Lotterie und man kann zwar hoffen, dass man das, was man gibt, auch irgendwann einmal zurückerhält, aber es gibt keinen Rechtsanspruch.

Eigentlich muss man sich nicht beklagen, denn irgendwann kommt ja Unterstützung von jemandem und irgendwann zeigt auch jemand Dank. Aber dennoch kann ich mich des Gefühls eines bitteren Beigeschmacks nicht erwehren. Es wäre einfach schön, wenn es so etwas wie Ausgewogenheit geben würde. Ich mag sie einfach nicht, diese professionellen Nehmer. Aber ich bin auf der anderen Seite auch tief berührt von Menschen, die sich bei mir bedanken, obwohl ich eigentlich gar nichts Großartiges für sie getan habe. Genauso wie es mich berührt, wenn mir jemand, ohne dass ich darum gebeten habe, Hilfe anbietet. Menschen mit Antennen für die Gefühle anderer. Gut, dass es sie gibt.




Ich mag sie einfach nicht, diese professionellen Nehmer.

Das kann ich voll und ganz nachvollziehen. So etwas wie Balance sollte in Beziehungen bestehen, denn sonst liegt der Fokus doch schnell auf den Funktionen, die man für andere erfüllt und nicht auf dem Wesen derer, die sich da begegnen.

Nicht ganz uninteressant finde ich aber auch die Beweggründe der Menschen, mit den "professionellen Nehmern" dennoch in Kontakt zu bleiben. Man darf nicht vergessen, dass es auch "professionelle Geber" gibt, die einen erheblichen Teil ihres Selbstwertgefühls darüber beziehen, anderen vermeintlich selbstlos zu helfen und alles für andere zu geben, darüber aber auch reichlich reden und natürlich Dank erwarten. Wenn der dann nicht kommt, bestätigt sie das auch in ihrer Position des Reinen, Unschuldigen und Selbstlosen - eine Rolle, die manchem besser gefällt, als er oder sie zugeben kann.

Ich halte es für absolut nötig, dass man im Sinne der Psychohygiene solch asymmetrische Beziehungen einschränkt oder wenn möglich sogar aufkündigt. Zum einen aus einer angemessenen Sorge sich selbst gegenüber, andererseits aber auch, weil den Nehmern nicht wirklich geholfen ist, wenn sie jemanden haben, mit dem sie dieses Spiel bis zum Gehtnichtmehr treiben können.

Ich kenne eigentlich kaum professionelle Geber, bei denen es das Geben darauf beruht, dass das Selbstwertgefühl aufgebaut werden soll. Die Geber, die ich aus Pflegediensten und Pädagogischen Betreuungen kenne, haben einfach eine große Anteilnahme an anderen Menschen, ähnlich wie die Anteilnahme, die die meisten für Mitglieder ihrer Familie haben. Es hat vielleicht etwas mit dem nicht-wegsehen-können zu tun.

Auf jeden Fall ist es wichtig, die asymmetrischen Beziehungen einzuschränken, weil die einfach nur schlecht für einen sind. Aber leider kann man sich das ja oftmals nicht aussuchen. Ich habe gestern bei Dir im Blog auch über eine unangenehme Beziehung gelesen. Dabei geht es zwar nicht um Geben und Nehmen, sondern um gegenseitigen Respekt, aber das Dilemma ist leider das Gleiche: man muss mit Menschen auskommen, mit denen man privat nie Kontakt haben würde. Immer wieder muss man aufs Neue versuchen, sich abzugrenzen und deutlich „Stopp“ sagen, damit man nicht plattgewalzt wird.

Mein Vater war übrigens ein absolut professioneller Nehmer. Ich kenne niemanden, (bis auf meinen letzten Chef) der andere Menschen so abgeschmackt und berechnend ausgenutzt hat. Vielleicht habe ich deswegen so eine starke Aversion gegen Nehmer. Wie so oft stecken hinter unserern Vorlieben und Abneigungen alte Kindheitsgeschichten...

Wenn ich eines damit ganz sicher nicht sagen wollte, war das, dass es Menschen gibt, die es verdienen, ausgenutzt zu werden. Bitte nicht missverstehen. Ich denke nur, dass ein "professioneller Nehmer" immer jemanden braucht, der das Spiel mitspielt, und ich frage mich, wer die Mitspieler sind.

Natürlich sieht bei einem realen Machtgefälle die Sache anders aus, da kann von freiwilligem Mitspielen nicht die Rede sein. Genau wie Dein Vater ist auch meiner ein totaler Dauer-Nehmer, und wenn man Kind ist, kann man sich dagegen nur schwer wehren, genau, wie sich beispielsweise auch ein Angestellter nicht oder nicht besonders effektiv gegen einen Nehmer-Chef wehren kann.

Aber ich habe eben auch schon so manche Menschen erlebt, die sich in der Aufopferungsrolle gefallen. Auch das kann mit Machtausübung zu tun haben, und das Bequeme und Fragwürdige daran ist, dass sich die betreffenden Menschen auf ihre moralisch einwandfreie Position zurückziehen können, im Grunde aber rücksichtsloses und ausnutzendes Verhalten fördern. Das hat dann wenig mit wirklicher Anteilnahme und echtem Geben aus reinem Herzen zu tun, sondern darin ist viel Berechnung. Da Du im sozialen Bereich arbeitest, sind Dir vielleicht solche Geber eher unbekannt. Vielleicht braucht es da schon eine generell menschenfreundliche Haltung, bei der solche Berechnung einfach nicht auftritt.

Du beziehst Dich auf das Beispiel aus meinem Blog - den Krach mit der Kollegin. Natürlich erlebt man immer wieder Konflikte, die man auf die eine oder andere Weise ausfechten oder klären muss. In diesem konkreten Fall ging es mir darum, meine Grenzen deutlich zu machen und zu wahren. Mir war wichtig, dass die betreffende Person merkt, ich möchte solche Umgangsformen nicht und verweigere mich diesem Kindergarten-Gehabe. Und da sie das fortlaufend so macht, war es vielleicht auch mal nötig, es in der Deutlichkeit auszusprechen. Das ist nämlich genau der Punkt: Viele hier im Betrieb lassen sie das auch so machen, sonst wäre sie nicht so und hätte längst begriffen, dass ein Mindestmaß an Höflichkeiten unter Kollegen angebracht ist. In der Kommunikation war sie also diejenige, die nimmt - in diesem Fall nimmt sie sich Unhöflichkeiten und Launenhaftigkeit heraus. Und die Bereitschaft der Kollegen, das zu tolerieren, fördert dieses Verhalten. Manchen ist es sicher auch egal. Aber die Klagen, die darüber dauernd gekommen sind, lassen schon etwas anderes vermuten.

Ich bin der Auffassung, dass erwachsene Menschen untereinander symmetrische Beziehungen pflegen sollten, soweit es geht. Oben genannte Machtgefälle natürlich ausgenommen - manche Verhältnisse sind aufgrund größerer Reife, unterschiedlicher Machtposition, unterschiedlichen Fachwissens oder ähnlichem eben nicht anzugleichen (Lehrer, Ärzte, Pflegepersonen, Spezialisten, Psychologen, Eltern von kleinen Kindern etc.). Aber es besteht schon auch die Verpflichtung sich selbst und anderen gegenüber, Menschen, die sich unsoziales Verhalten anmaßen, Grenzen zu setzen. Sei es, dass man aus Kontakten schließlich völlig herausgeht, weil sich die Asymmetrie allen guten Willen zum Trotz nicht beheben lässt.

hi behrens,
verstehe ich gut, dass dich solche dauer-nehmer nerven, wobei nerven vielleicht sogar zu schwach ist?

mitunter finde ich es auch extrem schwierig menschen einzuschätzen.

was mir gerade dazu einfällt: ich weiß nicht, ob du neale walsh kennst / seine bücher? ich habe eines davon gelesen, es heißt: freundschaft mit gott (sehr anregend das buch in dem es um freundschaft [im allgemeinen] geht - sehr lesenswert, auch wenn man mit glauben nichts am hut hat) und an einer stelle, als es um freunde geht, heißt es in etwa im dialog:

N: ich möchte meine freunde nicht stören oder belästigen, indem ich sie um etwas bitte.
G: du solltest sie so früh wie möglich um etwas bitten. es wird dir möglicherweise helfen, sie zu erkennen.

das ist nicht wortgetreu, sondern meine erinnerungsversion. ich fand den gedanken ziemlich gut. jemanden um etwas bitten und schauen, wie jemand reagiert.

manche menschen wissen auch kleinigkeiten zu schätzen, wozu z.b. manchmal lediglich eine kleine geste gehört oder dass jemand an den anderen gedacht hat, andere wissen nicht, warum und wofür sie dankbar sein sollten. meine vermutung: ihnen fehlt möglicherweise das bewusstsein oder es ist ein großes ego darin.


lg
die stille

@Sturmfrau
Ich habe oftmals das Gefühl, dass der Grund für eine Fixierung aufs Geben auch eine geschlechtsspezifische Komponente hat. In meiner Generation und erst recht in den davorliegenden wurde es Frauen regelrecht aberzogen, an sich selbst zu denken und sich auch mal etwas zu nehmen. Passiert es doch, macht sich sofort ein schlechtes Gewissen breit. Ständig Antennen für die Bedürfnisse der anderen haben und alles zu tun, damit es dem anderen gut geht – das habe ich noch eingeimpft bekommen.

Blüh’ wie das Veilchen im Moose,
einfach, bescheiden und rein
und nicht wie die stolze Rose,
die gerne bewundert will sein
“.

Auch wenn es bei diesem Reim, der zu meiner Zeit noch in Poesiealben geschrieben wurde, nicht in erster Linie ums Geben und Nehmen geht, sondern um Bescheidenheit, so ist die Botschaft doch sehr nahe an der Thematik. Bescheiden sein und keine Ansprüche haben. Nicht im Mittelpunkt stehen, sondern irgendwo abseits. Da passt das Geben weitaus besser als das Nehmen.


@die Stille
Ich kenne Neale Walsh nicht, aber der von Dir zitierte Spruch trifft ins Schwarze. Es gibt Menschen, die schon fast eine Phobie dagegen haben, um etwas gebeten zu werden und die – kaum dass der andere ausgesprochen hat – sofort abwimmeln. Andere wiederum überlegen sofort, wie sie jemandem, der um etwas bittet, weiterhelfen können. Genauso wie es professionelle Nehmer gibt, so gibt es auch professionelle Delegierer – immer auf der Suche danach, andere für etwas einzuspannen. Es ist nur allzu konsequent, dass solche Menschen eine an sie herangetragene Bitte sofort mit irgendwelchen Ausreden abblocken.

Ja, das glaube ich auch, dass Mädchen eher zum Geben erzogen werden. Problematisch daran finde ich, dass das Geben, das aus einem anerzogenen Pflichtgefühl heraus geschieht, eben nicht dieselbe Qualität hat wie das Geben, das aus dem Inneren eines Menschen erwächst und aus dem Mitgefühl für andere resultiert.

Beispiel: Meine Freundin S., mit der ich im letzten Jahr auf Wanderschaft gewesen bin, schilderte mir unterwegs, dass sie die dauernde Orientierung am anderen und das ständige Helfenwollen als immense Last empfindet, der sie sich aber meistens gar nicht entziehen kann. Auf der einen Seite ist sie einfach ein sehr mitfühlender Mensch, und diesen Charakterzug schätzen ich und andere an ihr sehr. S. ist ohne ihr warmes Herz nicht zu denken. Andererseits nehme ich das Getriebensein, das sie selbst schildert, auch sehr deutlich wahr, und dies scheint eben nicht so ganz zu ihr zu gehören. Während unseres Besuches bei ihr am letzten Wochenende war das immer wieder spürbar. Wenn ihr zum Beispiel eine einfache, dankende Ablehnung von etwas, das sie geben wollte, nicht reichte, sondern sie beinahe schon mechanisch immer wieder nachfragte und dabei auch die Grenzen derer, die "Nein" gesagt hatten, überschritt. Es ist beinahe so, als sei ihr das Erkennen von Bedürfnissen anderer, noch bevor diese sie überhaupt äußern, regelrecht in die Gene geschrieben. Ich habe eine Ahnung, woran das liegen könnte, und ich freue mich schon sehr auf neue Gespräche mit ihr auch über solche Dinge.

Wie sehr das geschlechtsspezifisch verankert ist, kann man auch heute noch sehr plakativ in der Kindererziehung erleben. Wenn es zum Beispiel die größte Selbstverständlichkeit ist, dass die Mädchen im Haushalt mithelfen, während den Jungen da eher ein Schonraum gewährt wird. Wenn es für Mädchen erheblich weniger akzeptiert wird, dass diese sich abgrenzen und Bedürfnisse anmelden. Ich stimme Dir zu. Den Poesie-Spruch kenne ich übrigens auch noch aus meiner eigenen Kindheit.

@stille:

Ein schönes Zitat. Das entspricht auch der Erfahrung, die ich gemacht habe, wenn ich tatsächlich um etwas bat. Ich habe gelernt, Freunde zu erkennen.