Brauchen wir wirklich eine Hierarchie des Bösen?
Seit einigen Tagen schlafe ich schlecht. Dies liegt an meiner Lektüre vor dem Schlafengehen. Ich lese weder Vampirgeschichten noch spannende Krimis. Ich lese Berichte über die Zeit des Stalinismus. Vom Aufstieg Josef Stalins bis zu seinem Tod – Zeitdokumente, Chroniken und viele Bilder, die das Blut in den Adern gefrieren lassen. Während ich mich durch die Berichte quäle – und es ist manchmal tatsächlich ein Quälen – fallen mir zwangsläufig die Berichte von den Insassen der Konzentrationslager des Dritten Reichs ein. Hunger, eisige Kälte, Schikanen der Aufseher und die Allgegenwärtigkeit des Todes.

Einige Zeit zuvor hatte ich ein wenig über die Weimarer Republik gelesen. Über eine Demokratie, die von Anfang an kaum eine Chance hatte in einer Gesellschaft, die nicht durch Dialog, sondern durch Straßenkämpfe bestimmt war. In der sich Nationalsozialisten und Kommunisten gleichermaßen gewaltbereit gegenüber standen.

Auch wenn das damalige Nachrichtensystem mit dem heutigen kaum vergleichbar ist, so ist das Ausmaß der stalinistischen Schreckensherrschaft mit seinen Säuberungsaktionen, seinen Liquidierungen und den Internierungen in den Gulags den anderen europäischen Staaten nicht verborgen geblieben. Ein Schreckgespenst, von dem man befürchtete, dass es bald auch in das eigene Land eindringen könnte.

Und just als beginne, mir Gedanken darüber zu machen, in welchem Ausmaß dieses Schreckgespenst wohl die Bereitschaft der Masse verstärkte, sich den Nationalsozialisten als kleineres Übel zuzuwenden, zappe ich, wie der Zufall es so will, in ein Interview mit dem Historiker Ernst Nolte, in dem es um den durch seine Thesen hervorgerufenen Historikerstreit geht. Worum geht es bei diesem Streit? Nolte hat die Greueltaten des Dritten Reichs denen des Stalinismus gegenübergestellt und dabei die These vertreten, dass der Holocaust eine Reaktion der Nationalsozialisten auf die Ausrottungsmaßnahmen der Gulags darstellte. Dies wiederum hat den Philosophen Jürgen Habermas dazu bewegt, von einem Versuch zu sprechen, die Greueltaten des Dritten Reichs zu relativieren mit dem Ziel, einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit zu ziehen.

Der gesamte Historikerstreit ist natürlich ungleich komplexer als das, was ich hier in ein paar Sätzen zusammengefasst wiedergebe. Und natürlich habe ich als Laie längst nicht den immensen geschichtlichen Wissensfundus, wie die an dem Streit beteiligten Historiker. Aber dennoch möchte ich mich dazu äußern. Denn auch mir tauchten beim Lesen der Schilderungen über das Gulag-System und die Säuberungskampagnen vor meinem geistigen Auge die Bilder der KZ-Insassen auf. Und auch mir stellte sich sofort die Frage, welche Ängste und welche Bereitschaft die Kenntnis der stalinistischen Greueltaten in den Deutschen geweckt haben mag. Man muss nicht großartig darüber spekulieren, dass die vor sich hinschwächelnde Weimarer Republik nicht den Rahmen darstellte, innerhalb dessen man sich wirklich sicher fühlen konnte. Unglücklicherweise schien da ein großmäuliger Nationalsozialist schon eher die Hoffnung auf Schutz und Sicherheit zu garantieren.

Ich glaube nicht, dass man die Ursachen des Holocaust auf die Formel „Ohne Gulag keine KZs“ bringen kann. Aber das wollte Nolte höchstwahrscheinlich auch gar nicht. Nolte stellte zwei durch und durch menschenverachtende Systeme in Bezug auf ihr Zerstörungsausmaß als gleichrangig gegenüber. Und Nolte wagt es, eine Verbindung zwischen den beiden herzustellen. Und die kann auch nicht so einfach geleugnet werde, denn bekanntlich gibt es keine Phänomene, die völlig wirkungsfrei sind.

Ob es ohne die Gulags die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie in genau demselben verheerenden Ausmaß gegeben hätte, wird immer im Bereich des Spekulativen bleiben. Bei der Monstrosität Hitlers ist es durchaus vorstellbar, dass er auch ohne stalinistische Vorbilder ein perverses Vernichtungssystem entwickelt hätte. Was aber nicht geleugnet werden sollte, ist der Umstand, dass man grausame Vernichtungsmaschinerien nicht in schlimm und weniger schlimm unterteilen sollte. Insofern kann und darf man auch den Holocaust nicht auf eine zwangsläufig erfolgte Reaktion reduzieren, die, weil sie angeblich nur eine Reaktion und kein für sich losgelöstes Phänomen darstellt, weniger schlimm ist als ihr zeitlicher Vorläufer. Andererseits ist es auch ebenso vermessen, darauf zu bestehen, dass man menschenverachtende Tötungsmaschinerien nicht in ihrem Ausmaß der Grausamkeit vergleichen darf und es eine unangefochtene Hierarchie des Bösen geben muss.

Deswegen hat für mich der ganze Historikerstreit einen bitteren Beigeschmack. Es wird um eine Rangfolge gekämpft, die überhaupt keine Rolle spielen sollte, wenn es wirklich einzig und allein um den Kampf gegen Grausamkeit und Menschenverachtung geht. Aber das ist eben auch das Kennzeichnende für Ideologien – es wird nicht nach Wahrheit, sondern nach Bestätigung gesucht und zwangsläufig stellt der Andersdenkende, selbst wenn er nur minimal von der eigenen Meinung abweicht – dadurch immer eine Gefahr dar.

Man hat Menschen dadurch getötet, dass man sie in Gaskammern geschickt hat. Und man hat Menschen dadurch getötet, dass man sie hungernd und frierend zu 16stündiger Zwangsarbeit in eisiger Kälte geprügelt hat. Wir sollten soviel Respekt vor den Opfern haben, dass wir ihr Leiden nicht gegeneinander aufwiegen. Und wenn Leiden irgendeinen Sinn haben sollte, dann ist es der der schmerzlichen Erkenntnis, dass keine Ideologie eines besseren oder gerechteren Lebens die Ermordung von Menschen rechtfertigt.




Relikt unserer Vergangenheit: Hierarchie des Bösen
Wir Menschen wurden leider nicht so geschaffen, wie wir uns gerne sehen möchten.
Das "Milgram-Experiment" hat sehr deutlich gezeigt, wozu Menschen unter bestimmten Umständen fähig sind.
http://www.zehn.de/die-10-unfassbarsten-versuche-in-der-psychologie-6309629-0

Darin stimme ich voll mit Ihnen überein – wir sind weit davon entfernt von Verstand und Moral gesteuert zu sein, wie uns jede Epoche der Geschichte überdeutlich macht.

Habe mir Ihren Link angesehen. Über das Milgram-Experiment hatte ich auch schon mal geschrieben und das Stanford-Prison-Experiment und die dritte Welle habe ich als Fernsehfilm gesehen. Einige der anderen Experimente empfinde ich in ihren Resultaten ein wenig weit hergeholt.

Ich beschäftige mich ja seit einiger Zeit mit dem Thema Totalitarismus, wobei ich wohl eine kleine Pause einlegen muss, weil mir das Thema zu sehr an die Nieren gehe, man muss sich derartiges sehr wohldosiert zuführen. Auf BR ALPHA läuft ja zur Zeit übrigens auch eine Sendereihe zur Machtergreifung Hitlers.

Das Resümee des Experiments der dritten Welle ist sehr niederschmetternd:
" Er zeigte das Prinzip des Faschismus. Dass jeder mitmachen will, dass jeder zu Gunsten einer Ideologie sein Selbstdenken aufgibt. Dass das gefährlich ist. Jones hatte gezeigt: Menschen sind leicht dazu bereit, ihre persönliche Freiheit zugunsten einer Ideologie aufzugeben".

Deswegen liebe ich ja auch Individualisten. Menschen, die gegenüber Ideologien skeptisch sind und die sich nicht von Ideologien beirren lassen. Und deswegen ist es mir auch immer fremd, wenn Menschen gern betonen, dass sie irgendeinem –Ismus angehören. Tucholsky hat mal irgendwo geschrieben, dass ihm immer mulmig wird, wenn große Massen allzu einig gemeinsam in Wallung geraten. Und dieses Gefühl hat ihn ja leider auch nicht getrügt.

Für mich gab und gibt es auch Bewegungen, für die ich mich begeistert habe. Friedensbewegung, Frauenbewegung, Grüne. Aber ich hatte – zumindest bei den beiden letzteren – eigentlich auch immer etwas zu meckern und war nie mit allem einverstanden. Und wenn sich irgendjemand zum Oberguru erhoben hätte, hätte ich wohl das Weite gesucht. Aber trotzdem kann natürlich auch ich nicht ausschließen, dass es vielleicht irgend eine Art von Bewegung geben könnte, die mich mitreißen würde und meine Kritikfähigkeit dann eingeschränkt wäre.

Meiner Ansicht nach ist es gar nicht möglich, als politischer Mensch kein Ideologe zu sein - wir haben alle unsere Ideologien, auch wenn sie selbst zusammen gebastelt sind. Was wir vermeiden können und sollten ist, uns einzubilden, wir wären keine Ideologen, sondern im Besitz eines sogenannten "überparteilichen Standpunkts".

Nein, sicherlich ist jeder durch irgendetwas geformt und kann sich gar nicht vollständig davon lösen. Aber es gibt dennoch so etwas wie Suche. Wer sich einer Ideologie voll und ganz unterwirft, ist nicht mehr offen für eine wirkliche Suche, sondern sucht nur noch nach Bestätigung seiner Überzeugungen. Wer immer auch auf der Suche bleibt, kann auch Irrtümer entdecken. Und darum geht es ja – Irrtümer zu überwinden (und sei es auch nur, um wieder neuen Irrtümern zu unterliegen…)