Fremde und Vertraute
Vorhin bin ich so spät zum Joggen gegangen, dass es fast schon dunkel war – was ich eigentlich normalerweise tunlichst vermeide. Aber abgesehen davon, dass mir ein wenig mulmig dabei war, so mutterseelenallein um unseren See zu joggen, war es wunderschön, den Vollmond und den aufsteigenden Abendnebel zu sehen. Und ich genoß die Herbstluft, die diesen unvergleichlichen Geruch hat – nach Erde, Laub und Regen. Ich kam nicht umhin, an die Zeilen von Mathias Claudius zu denken: „Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar.“

Wieder zuhause, habe ich mir eine Arbeit vorgenommen, die ich schon lange vor mich hingeschoben habe – mir mal das Fotoalbum meiner Mutter vorzunehmen und lose Bilder einzuordnen, alles in die richtige Reihenfolge zu bringen und zu beschriften. Jetzt bin ich endlich fertig (ich habe das Gefühl, ich brauch für so etwas länger als andere) und mir ist ganz eigentümlich, denn die meisten der auf den Fotos Abgebildeten sind inzwischen tot. Und die Orte, die mir von meiner Kindheit vertraut sind, gibt es so, wie ich sie kenne schon lange nicht mehr. Immer mehr von dem mir Vertrauten existiert nicht mehr.

Ich glaube, es gibt kein Gedicht, das mein Gefühl so gut in Worte fasst wie „Der Park“ von Reinhold Schneider (1903-1958):

Ich denke hier der Zeit, die, tiefverhaßt,
Mich und mein Leben widerwillig trägt,
Mit der mein Wesen nie zusammenpaßt,

Darin der Puls von anderen Zeiten schlägt,
Ob ich zu früh, ob ich zu spät geboren,
Ich geb mein Spiel mitsamt der Zeit verloren.


„Mit der mein Wesen nie zusammenpasst“ – besser kann man es nicht ausdrücken. Beruhigend, dass es anderen auch so geht. Vielleicht liebe ich Lyrik deswegen so, weil man das Gefühl hat, auf Gleichgesinnte zu treffen. Fast schon wie alte Bekannte.