Ganz banale Gründe
Eben bin ich auf einen Artikel einer Ausgabe des Spiegels aus dem Jahr 1976 gestoßen, in dem Jean Améry zu seinem Buch „Hand an sich legen“ interviewt wurde. Das Interview wurde schon mehr als zwei Jahre zuvor gemacht. Veröffentlicht wurde das Interview zwei Wochen nachdem sich Jean Améry im Jahr 1978 fünfundsechzigjährig das Leben nahm. Jean Améry war im Widerstand gegen das Dritte Reich aktiv und ein Überlebender aus Auschwitz und Bergen-Belsen. Nach Kriegsende war Améry sehr enttäuscht darüber, dass es niemals zu einer wirklichen Aufarbeitung des Dritten Reichs kam. Und er war auch enttäuscht über die Linke.

Einfach ein gewisser Ekel vor den Leuten in der Straßenbahn, zu viele Menschen zu nah um mich herum, zu viele Gesichter, die ich nicht mochte, Häuser, die ich scheußlich fand und Straßen, die kein Ende nahmen. Und dann kam der Gedanke: das geht eigentlich nicht.

Diese Zeilen stehen wie ein unverrückbares Monument, dem man nichts entgegensetzen kann. Einen Lebensekel, den wahrscheinlich so manche Menschen kennen. Vielleicht nicht unbedingt als grundsätzliches sondern nur als zeitweiliges Lebensgefühl. Ein Gefühl, dessen Ursache nicht als eine kranke Wahrnehmung, sondern als eine durchaus realistische angesehen wird.

Selbstmord zu verteidigen ist eine äußerst heikle Sache. Nicht wegen der moralischen Wertung und der sogenannten Freiheit des Individuums. Die Gefahr liegt vielmehr in dem Missbrauch, den man damit betreiben kann, wenn es eigentlich gar nicht um Respekt vor der Entscheidung des anderen geht, sondern schlichtweg nur um Gleichgültigkeit und Desinteresse anderen (ausgenommen die eigene Familie) gegenüber. Gleichgültigkeit ist noch lange keine Toleranz und als ebensolche wird die Verteidigung des Rechts auf Freitod gern deklariert. Man muss sich weder um Mitmenschen kümmern, geschweige denn Mitgefühl haben und vor allen Dingen muss man sich nicht mit einem schlechten Gewissen belasten, weil man ja einfach nur tolerant ist.

Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht schreiben, denn auch das endet in einer Schubladendiskussion. Mir geht es einfach um die Zeilen, mit denen Améry beschreibt, dass es möglich ist, sich unendlich tief vor dem Leben zu ekeln und dabei gleichzeitig die Gründe für diesen Ekel erschreckend banal sein können. Und wie kompromislos Améry darauf besteht, dass es sich bei diesem Ekel nicht um etwas Krankhaftes und somit Heilbares handelt. Er proklamiert damit das Recht auf eine völlige Negation der menschlichen Existenz. Nicht der Wunsch zu sterben ist krankhaft, sondern das Leben an sich. Ohne Wenn und Aber. Und ehrlicherweise sollte man zugeben, dass es – auch bei aller Anstrengung – kein rechtes Gegenargument gibt.




Ich finde, seine Worte beschreiben eher den Ekel vor der Gesellschaft. Da gib ich ihm teils auch Recht, jedoch wird dieser Mensch auch seine Gründe für seine Ansichten haben, sowie ich meine habe.

Das Leben und die Gesellschaft sind miteinander untrennbar verbunden, ausgenommen für die Wenigen, die sich in ein Eremitendasein zurückgezogen haben. Insofern ist für mich der Ekel vor der Gesellschaft, in der jemand seine Lebenszusammenhänge hat, gleichbedeutend mit Lebensekel.

Auch ich kann das Lebensgefühl Jean Amérys nachempfinden, auch wenn ich damit wahrscheinlich anderes umgehe. Améry war schon fünfundsechzig, als er sich das Leben nahm, was bedeutet, dass er sein Leben trotz seines Todeswunsches noch lebenswert genug empfand.

Erstmal: Bezieht sich der Begriff 'Ekel' nicht deutlich auf Sartre? In den 'unmeisterlichen Wanderjahren' ist deutlich zu erkennen, wie verfallen Améry dem französischen Existenzialisten war.

Abseits davon und doch ziemlich nahe daran: Der 'Ekel' stellt sich ein, wenn die Absurdität der gesellschaftlichen Apparatur erkannt wird: da ist die Straßenbahn geradezu ein direktes Symbol für: eine Maschinerie im Leerlauf, an deren Sinnhaftigkeit überall gezweifelt wird, und doch stellen sich alle Menschen (eingeschlossen 'man' selbst) ordentlich an, um zu funktionieren.

Ekel davor, dass so wenig Widerstand aufgebracht wird; dass man um die eigene Freiheit weiß, aber nicht daran glaubt, sondern morgen doch wieder die ausgetrampelten und von der Verwaltung vorgezeichneten Pfade einschlägt: hinein in die S-Bahn, zusammen mit all den anderen, vorbei an den üblichen Häusern, hin zur gewohnten Arbeit, etc.

Es ist kein beleidigender Ekel vor den anderen Menschen, keine Misanthropie, sondern vllt. eher ein Ekel vor dem Gefüge, welches von allen Menschen als 'Funktion' repräsentiert wird, einschließlich einem selbst!

Und als Pointe wird die Überflüssigkeit der eigenen Existenz sichtbar: "Morgen dreht sich das Karussel weiter um sich selbst, selbst wenn ich den heutigen Abend nicht überlebe. Ein anderer wird an meiner statt in der Straßenbahn sitzen, am PC, oder sonst wo. Ich bin als Mensch vollkommen unwichtig. Wozu also noch mich ständig diesem Karussel aussetzen?"

Der Ekel ist in diesem Sinne eine menschliche Regung gegenüber einer Welt der Verwaltung, ein Hinweis auf inneren Überdruss.

Absurdität der gesellschaftlichen Apparatur“ das trifft sehr gut auf bestimmte Bereiche im Leben zu, wie eben den der Straßenbahn, in der man sich mit vielen anderen, völlig fremden Menschen dichtgedrängt befindet. Eine viel zu große Nähe zu viel zu vielen Menschen, denen man eigentlich gar nicht nah sein will. Das Ganze dann noch in einer Atmosphäre der Hektik und Unruhe. Das ist nur zu ertragen, wenn man sich in einer Stimmung der Gelassenheit und Ausgeglichenheit befindet. Ist dies nicht der Fall, dann stellen derartige Situationen eine Grenzüberschreitung dar.

Der Ekel ist in diesem Sinne eine menschliche Regung gegenüber einer Welt der Verwaltung, ein Hinweis auf inneren Überdruss “ So hatte ich das auch gemeint. Nicht Ekel gegen grundsätzlich jeden einzelnen Menschen, sondern Ekel gegen das, was Menschen aus ihrem Zusammenleben heraus geschaffen haben.

'Eine viel zu große Nähe zu viel zu vielen Menschen, denen man eigentlich gar nicht nah sein will.'

Tatsächlich will ich den Menschen nah sein, weiß aber gleichzeitig um die Unmöglichkeit der Nähe, gerade an einem Ort wie der Straßenbahn. Nirgendwo wird die Isolation so eklatant empfunden, wie in der Masse.

Damit eine solche soziologische Grenzsituation überhaupt ertragen werden kann, wird die Koexistenz der Mitmenschen schlicht geleugnet: deshalb auch das Starren aus dem Fenster, in die Zeitungen, etc, um eine direkte Wahrnehmung zu verhindern. (Oder denke Dir das Unbehagen im vollbesetzten Fahrstuhl...)

Nur sehr selten erlebe ich spontane Versuche, diese Isolation zu überwinden und meist laufen sie leider ins Leere, als ob die Orte der alltäglichen Öffentlichkeit keine Gemeinschaft produzieren könnten. Hier will sich keiner in seiner Menschlichkeit ertappen lassen (mich selbst nicht ausgeschlossen).

Kennst Du Brechts Lesebuch für Städtebewohner?

"Trenne dich von deinen Kameraden auf dem Bahnhof
Gehe am Morgen in die Stadt mit zugeknöpfter Jacke
Suche dir Quartier und wenn dein Kamerad anklopft:
Öffne, o öffne die Tür nicht
Sondern
Verwisch die Spuren!

Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg oder sonstwo
Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke, erkenne sie nicht
Zieh den Hut ins Gesicht, den sie dir schenkten
Zeige, o zeige dein Gesicht nicht
Sondern
Verwisch die Spuren!

Iß das Fleische, das da ist! Spare nicht!
Gehe in jedes Haus, wenn es regnet, und setze dich auf jeden Stuhl, der da
ist
Aber bleibe nicht sitzen! Und vergiß deinen Hut nicht!
Ich sage dir:
Verwisch die Spuren!

Was immer du sagst, sag es nicht zweimal
Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn.
Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ
Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat
Wie soll der zu fassen sein!
Verwisch die Spuren!

Sorge, wenn du zu sterben gedenkst
Daß kein Grabmal steht und verrät, wo du liegst
Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt
Und dem Jahr deines Todes, das dich überführt!
Noch einmal:
Verwisch die Spuren!

(Das wurde mir gesagt.)

8

Laßt eure Träume fahren, daß man mit euch
Eine Ausnahme machen wird.
Was eure Mutter euch sagte
Das war unverbindlich.

Laßt euren Kontrakt in der Tasche
Er wird hier nicht eingehalten.

Laßt nur eure Hoffnungen fahren
Daß ihr zu Präsidenten ausersehen seid.
Aber legt euch ordentlich ins Zeug
Ihr müßt euch ganz anders zusammennehmen
Daß man euch in der Küche duldet.

Ihr müßt das ABC noch lernen.
Das ABC heißt:
Man wird mit euch fertig werden.

Denkt nur nicht nach, was ihr zu sagen habt:
Ihr werdet nicht gefragt.
Die Esser sind vollzählig
Was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch.

Aber das soll euch
Nicht entmutigen!

10

Wenn ich mit dir rede
Kalt und allgemein
Mit den trockensten Wörtern
Ohne dich anzublicken
(Ich erkenne dich scheinbar nicht
In deiner besonderen Artung und Schwierigkeit)

So rede ich doch nur
Wie die Wirklichkeit selber
(Die nüchterne, durch deine besondere Artung unbestechliche
Diener Schwierigkeit überdrüssige)
Die du mir nicht zu erkennen scheinst."

Finde ich sehr treffend!!

Das Gedicht von Brecht kannte ich noch nicht. Man muss es wirklich etliche Male lesen um es zu verstehen. Der durch und durch anonyme Mensch, der an keiner Stelle Spuren hinterlässt. Der mit dem vorlieb nimmt, was er vorfindet. Der weder andere wahrnimmt, noch selbst wahrgenommen wird. Der Mensch ohne Eigenschaft und ohne Biographie. Gruselig. Aber anders ist es in einer Massengesellschaft gar nicht möglich.

Individualität kann nur dort entstehen, wo auch der Raum dafür vorhanden ist. Menschliche Beziehungen sind nicht ins Unermessliche steigerbar. Insofern stellt das Stadtleben eine ständige Überforderung dar. Wobei sich das Verständnis von „Beziehung“ in den letzten Jahren drastisch verändert hat, da wir nicht mehr nur auf der personalen, sondern auch auf der virtuellen Ebene kommunizieren. Und auf der gelten andere Maßstäbe.

Bei Facebook gibt es Menschen, die einige hundert „Freunde“ haben, und Brechts lange vor dem virtuellen Zeitalter geschriebenes Gedicht ist hier merkwürdig aktuell. Wobei allerdings ein gravierender Unterschied zwischen der Facebook-Gemeinde und der städtischen Gemeinde darin besteht, dass man bei Facebook Spuren hinterlässt, die – wenn es so gewünscht ist – niemals verwischen. Aber auch bei Facebook gibt sich der Mensch nur auf den ersten Blick ein individuelles Profil, das schon dem zweiten Blick nicht mehr standhält. Denn individuelle Beziehungen zu anderen Menschen und die damit verbundene Wahrnehmung des Gegenübers können nicht per Bits und Bytes entstehen.

Vielen Dank für das Gedicht!

"Der Mensch ohne Eigenschaft und ohne Biographie. Gruselig. Aber anders ist es in einer Massengesellschaft gar nicht möglich."

Ich stimmer Dir vollkommen zu:
Kennst Du das Gefühl, beim Schreiben eines Lebenslaufes oder beim Vorstellungsgespräch an der neuen Arbeitsstelle, oder sonstwo: dass alles 'falsch' ist, was Du über Dich selbst erzählst (nicht gelogen, sondern einfach nicht richtig).

Irgendwie redet man dann über einen vollkommen fremden, einen entfremdeten Menschen, der mit einem selbst überhaupt nichts zu tun hat; man verobjektiviert sich selbst zu einem Marketingcharakter.

Dieser Charakter hat keine individuelle Biographie, sondern einen curriculum vitae, auf dem alle Abschlüsse und Zeugnisse fein säuberlich dargestellt sind. Der Marketingcharakter hat auch keine Eigenschaften, sondern skills, nützliche Fähigkeiten. Der Marketingcharakter ist die Maske des erfolgreichen, dynamischen homo oeconomicus, hinter dem der Mensch der Schwäche und der Einsamkeit sich verstecken kann, verstecken muss, um in der Welt der Funktionen seine Existenz zu sichern.

Jedes Individuelle hinter der Maske fällt der Gleichgültigkeit zum Opfer, insofern das Wissen um eine Schwäche des anderen nicht nützlich im Konkurrenzkampf sein könnte. Bis auf den engen Freundes- und vielleicht auch Familienkreis ist die Gesellschaft eine Gesellschaft der Marketingcharaktere.

Facebook indes ist nur die übersteigerte Form davon, weil hier die Kontrolle der Selbstdarstellung unübertroffen ist. Im Alltag können immer wieder Unsicherheiten auftreten, hier hingegen ist die Darstellung komplett steuerbar.
Und Facebook, wie Du richtig sagtest, ist keine Plattform zum individuellen Austausch: Schon am Portrait und der darauf angezeigten Pose ist erkennbar, in welche Kategorie sich der Mensch hinter dem Account gerne einordnen würde (nachdenklich, reisend, erfolgreich, etc.), wie er gerne wahrgenommen werden würde. Im Facebook herrscht der Marketingcharakter totalitär.

Wir sind Menschen ohne (feste) Eigenschaften, und wenn wir die falschen besitzen, dann ändern wir eben unseren Facebook-Account.

(Es ist natürlich übertrieben dargestellt, aber die Wahrheit ist immer übertrieben. Tatsächlich kenne ich eine Reihe von authentischen Menschen, wie jeder andere auch.)

Viele Grüße
B.

Glücklicherweise musste ich schon seit längerem keinen Lebenslauf mehr schreiben oder vorlegen. Ich kenne aber durch frühere Tätigkeiten die entsprechenden Kurse, in denen man lernt, sich gut zu verkaufen. Das ist manchmal schon fast wieder lustig, weil die Aneinanderreihung von positiven Eigenschaften wie eine platte Satire wirkt. Habe gerade in meinem anderen Blog über das Phänomen geschrieben, dass die Selbstdarstellung oftmals das genaue Gegenteil der Realität ist.

Kein Mensch ist frei davon, bei anderen positive Resonanz haben zu wollen. Die Frage ist nur, wieviel Energie man dafür investiert.

Ich finde das Wort "Ekel" ist schon ganz schön hart formuliert. Ich meine Ekel an sich ist ja Antipathie auf ganz höchster Ebene mit extremer Abneidung verbunden.. WÜrd ich jetzt weder für Leben noch Gesellschaft so sehen :)

Ich kann ihn gut nachfühlen, diesen Ekel, und ich habe es auch schon oft. Der Freitod, wie ihn Améry auffasst, ist die Beendigung des Lebens in einem System aus Zwängen, die alles andere als banal, sondern eher sehr subtil sind. Er selbst sagt ja in dem Interview, er richte sich

(...) vor allem gegen die Anmaßung der Gesellschaft, gegen die Anmaßung der Gesellschaft dem gegenüber, der aus ihr ausbricht. Da ist der Suizid ein Skandal, Deserteur, Fahnenflüchtiger, die geheiligte Gesellschaft, die geheiligte Familie! (...) Um sie herum heißt es doch immer nur: durchhalten, man wird es schon schaffen, es wird schon werden. Die ganze positive Lebensphraseologie. Man spricht ja auch vom positiv eingestellten Menschen. (...) Wir gehen in einem Leben, das uns zum Tode verurteilt, dem Scheitern entgegen, und das Bewußtsein dieses notwendigen letzten Scheiterns kann einen Menschen aufstehen machen gegen das Gesamtgeschick, gegen die Gesamtschöpfung, um zu sagen: Nein, nicht das Geschick, sondern ich mache es, und ich will kein Ziel, ich will die Ziele alle nicht, die Ihr mir da propagiert.

Es ist die Nichtakzeptanz des Scheiterns, der Andersartigkeit, es ist das, was Améry in diesem Interview wiederholt die "Lebenslogik" nennt, die das Aufbegehren, den Wunsch nach Flucht und Freiheit, nach Selbstbestimmung in letzter Konsequenz verursacht. Wieder ist es ein "So nicht leben wollen", um das es hier geht, aber die Gründe sind nicht etwa, dass einem die Gesichter der Menschen nicht passen oder die ewiggrauen Häuserzeilen - dies sind nur Bilder, die umschreiben, worum es wirklich geht. Es ist die einseitige Zuspitzung des menschlichen Daseins auf Nützlichkeit und Konformität, die gleichmachende Verordnung von Lebenszielen, das "positive Denken", die Ausblendung von Lebensrealität - diese Faktoren sind beinahe weltweit gesellschaftlicher Konsens, was Ziele betrifft, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass der selbstgewählte Tod die einzige Möglichkeit zu sein scheint, dagegen aufzubegehren. Insofern ist der Freitod im améryschen Sinne nichts weiter als zur Vollendung gebrachter Lebenshunger in einer Welt, die wirkliches Leben nicht zulässt. Und alles andere als banal.

Auch ich kann manchmal den Lebensekel sehr gut nachempfinden und oftmals scheint es mehr Gründe gegen das Leben zu geben als dafür.

Du hast anscheinend Jean Améry gelesen, ich habe bisher nur Auszüge gelesen, mich würde sein Buch über das Altern sehr interessieren.

Ich bin aber der Meinung, dass es selbst in einer humanen und nahezu perfekten Gesellschaft zeitweilig zu Lebensekel kommen kann (abgesehen davon, dass es ja die perfekte Gesellschaft nur in unserer Vorstellungswelt gibt). Weil mit zunehmendem Alter das Dahinsterben derjenigen, die man liebt und an denen man hängt, das eigene Leben mit soviel Trauer erfüllen kann, dass es kaum noch erträglich ist.

Ich habe gerade die Situation erlebt, dass jemand meiner Betreuten nicht mehr leben wollte. Sie hat einfach keine Kraft mehr, gegen die Widrigkeiten des Lebens anzukämpfen. Ich habe aber ungeachtet der Thesen Amérys versucht, ihr Mut zu machen. Es gäbe da ganz reale Dinge, die ihr Leben schon sehr viel lebenswerter machen würden. Nur ist es ein endloser Kampf, der sehr zermürbend und kräftezehrend ist. Und ich habe manchmal Zweifel, ob ich genug Kraft habe für diese Unterstützung, die sie so dringend benötigt. Ich kann es bestens nachempfinden, dass sie keine Lust mehr hat…

Werde mir Deinen Beitrag nochmals genauer durchlesen, aber ich bin kurz vor meinem Urlaub und habe noch absolut nichts vorbereiten können.

Angesichts und jenseits ...
... oben gelesener Wörter wie "banal", "scheußlich", "Lebensekel", "Krankhaftes" und ähnlichem sei hier nur mal kurz auf eine sehr wesentliche Eigenschaft der sogenannten menschlichen Existenz verwiesen: den freien Willen. Den gibt es nämlich wirklich, (trotz aller Unkenrufe seitens religiös oder esoterisch inspirierter Quellen dubioser Herkunft).

Ist ja nicht neu und schon gar nicht von mir: wir sind "zur Freiheit verurteilt" und damit auch zu persönlicher Verantwortung - NO WAY OUT!)

Es sei hier aber darüber hinaus auch noch einer anderen Sichtweise ganz entschieden widersprochen, nämlich jener, die davon auszugehen scheint, es handele sich beim "Leben" um eine "krankhafte Erscheinung".

Sonst noch was?

Auch wenn jeder Mensch über einen freien Willen verfügt, so ist das was man will, meist ein Kompromiss zwischen dem, was man kann und was andere wollen. Und genau da fühlen sich eben manche Menschen nicht mehr ganz so frei. Und das hat weniger mit den Schubladen Religion oder Esoterik zu tun, sondern vielmehr mit damit, ob jemand in seiner Sozialisation überhaupt die Möglichkeit hatte, einen eigenen Willen zu entwickeln.

Natürlich gibt es viele Menschen, die ihr Leben nicht als „krankhafte Erscheinung“ ansehen und als lebenswert empfinden. Das ändert aber nichts daran, dass es eben auch Menschen gibt, denen ihr Leben zur Last wird. Man wird jenen Menschen nicht gerecht, wenn man sie damit belehrt, dass das Leben doch schön ist und Spaß macht. Will man diese Ansicht wirklich vermitteln, muss man sich schon die Mühe machen, nach den individuellen Gründen Verzweiflung oder Trauer zu machen. Damit eröffnet man zumindest die Chance darauf, dass Leben wieder als lebenswert erfahren wird.

Der "Witz" dabei ist eben auch, dass das Leben nicht immer schön ist und Spaß macht. Das ist nur der Anspruch, der im Großen und Ganzen heute auf neurotische Weise gehegt wird: Dass immer alles "shiny" sein muss. Auch den absurdesten, schmerzhaftesten, verdrehtesten Situationen muss heute unbedingt etwas Positives abgewonnen werden, weil ansonsten unsere Vorstellung von der schönen, heilen Welt und von der totalen Kontrolle bröckeln würde.

"Freier Wille" hin oder her - der Mensch ist nicht außerhalb seines Sozialisationskontextes denkbar. Darüber hinaus passieren schlechte Dinge schlechterdings. Wer sie und die damit verbundene Schlechtigkeit verleugnet, verdreht die Realität.