Der blaue Engel – Macht, Grausamkeit und Feigheit
Es gibt für mich kaum einen Film, der Doppelmoral, Untertanentum und Konservatismus so beeindruckend ausdrückt wie „Der blaue Engel“. Der Film spielt in der nachwilhelminischen Zeit, die gekennzeichnet ist durch kleinbürgerliche Enge und Autoritätsgläubigkeit. Es geht um das Zugrundegehen eines Gymnasialprofessors, das sich ereignet vor dem düsteren Hintergrund einer Erziehung, die durch Freudlosigkeit und ängstliches Ducken vor der Autorität gekennzeichnet ist. Es scheint, als ob sich Lehrer und Schüler gleichermaßen gegenseitig hassen.

Professor Unrat scheitert daran, dass seine Autorität verkörpernde Position nicht vereinbar ist mit der Heirat einer zweitklassigen Varietesängerin. Obwohl das Kleinbürgertum sich schon immer magisch angezogen fühlte von der Welt des Tingeltangels, in der all das erlaubt ist, was im eigenen starren und sittenstrengen Wertesystem verpönt ist, gilt die unumstößliche Regel, derzufolge sich niemand offen zu dieser Anziehung bekennen darf. An dem Wechsel in diese andere Welt zerbricht Professor Unrat.

Die Schüler des Professors sind keine Kinder mehr, sondern junge Erwachsene. Und trotzdem verstecken sich diese ängstlich blitzschnell unter dem Tisch oder hinter dem Paravent, als der die Autorität verkörpernde Professor naht. Auf bedrückende und anschauliche Weise fallen hier die sinnbildliche und konkrete Bedeutung des Begriffs „Ducken und Kuschen“ zusammen. Durch den gesellschaftlichen Abstieg des Professors wechseln die Positionen. Nicht mehr der Lehrer hat jetzt die Position des Überlegenen, sondern die Schüler. All jene, die zuvor noch geduckt und gekuscht hatten, schlagen jetzt zurück. Wobei bezeichnend ist, dass die Konstellation einer Einzelperson gegen eine Gruppe sich wandelt in die einer Gruppe gegen eine Einzelperson.

Für mich ist der Film nicht nur eine beeindruckende Charakterstudie eines gescheiterten Menschen, sondern auch eine bemerkenswert Studie über das zwangsläufige Zusammenspiel von Feigheit, Macht und Grausamkeit. Feigheit findet seine Entsprechung in der Freude an Grausamkeit. Wer einsteckt, ohne aufzumucken, konserviert seine Wut so lange, bis sie sich in Grausamkeit gewandelt hat. Und diese Grausamkeit gleicht einem Tier, das so lange auf der Lauer liegt, bis sich das potentielle Opfer in der unterlegenen Position befindet. Dann – und nur dann – schlägt sie zu. Immer aus dem sicheren Hinterhalt und dabei mit sichtbarem Genuss, denn schließlich wurde auf diesen Moment lange gewartet. Selbst wenn das Opfer schon wehrlos am Boden liegt, wird nochmals nachgetreten.

Ja sicher, die Schüler sind letztendlich auch nur Opfer eines entwürdigenden Erziehungssystems. Aber niemand ist ausschließlich Opfer. Wäre dies der Fall, dann würden wir alle als vorprogrammierte Maschinenmenschen in Diktaturen leben. Feigheit ist immer ein klares Ja zu allem Bestehenden und ein klares Nein zu Veränderung. Mögen die Machtverhältnisse auch noch so verhasst sein – Feigheit ist die Voraussetzung für deren Konservierung und bildet eine Koalition mit ihr und mit dem Unrecht.

Mit dem Film „Der blaue Engel“ assoziiere ich drei Bilder: Die Schüler, die sich – obwohl erwachsen – wie kleine Jungen mit schreckverzerrten Gesicht unter den Tisch ducken. Dann die die Szene, in der die Schüler im Schutz der sicheren Gruppe ihren Lehrer hasserfüllt und laut grölend verhöhnen. Und letztendlich Emil Jannings, der als Professor Unrat noch im Tod das Lehrerpult umkrallt, als würde es nichts anderes geben, das jemals wichtig für ihn war. Ein Mensch, dessen Dasein eine Metamorphose von der gefürchteten Autorität hin zur verlachten Witzfigur durchmachte.

Diese drei Bilder sind es, die diesen Film für mich so düster und unheimlich machen.