Grandes Dames
Vor ein paar Tagen habe ich mir nicht nehmen lassen, mir das Gespräch von Reinhold Beckmann mit Hildegard Hamm-Brücher (90) und Margarete Mitscherlich (94) anzusehen. Was ich bei beiden als sehr beeindruckend empfand, war die Bescheidenheit, mit der die beiden mit ihrem Lebenswerk umgingen.

Margarete Mitscherlich, mit Leib und Seele Psychoanalytikerin, hat auch im Alter von nunmehr 94 Jahren nicht aufgehört, immer wieder nach den Gründen für menschliches Handeln zu fragen. Das mag zuweilen etwas festgefahren wirken, aber was daran viel wichtiger ist, ist die Lust am Dazulernen. Sie spricht von dem Bedürfnis, des „Sich selbst Kennenlernens“ und beschreibt dies näher als eine Notwendigkeit, immer wieder nach der wahren Motivation des eigenen Handelns und der des Handelns anderer zu fragen.

Hildegard Hamm-Brücher, die ihr Leben der Politik gewidmet hat, formulierte ihren Wunsch nach einer stärkeren Emanzipation der Männer, da immer noch ein großer Teil der Verantwortung den Frauen aufgebürdet wird, wodurch diese wiederum nicht die Möglichkeit haben, sich in der Gesellschaft zu engagieren. Was mich daran so beeindruckte, ist die Tatsache, dass Hildegard Hamm-Brücher in ihrer eigenen Ehe keine klassische Rollenverteilung erlebt hat. Es ist äußerst selten, dass jemand seine private priviligierte Situation nicht generalisiert, sondern in der Lage ist, zu erkennen, dass viele Menschen in weitaus schwierigeren Verhältnissen leben. Und noch seltener ist es, dass jemand nicht in erster Linie für sich selbst, sondern auch für andere etwas verändern und verbessern möchte.

Es gab noch einen dritten Gast, die zweiundneunzigjährige Vera von Lehndorff, besser bekannt als Veruschka. Bis auf das Alter gab es auf den ersten Blick keine Verbindung mit den anderen beiden Frauen, denn Vera von Lehndorff war Fotomodell und hat erst sehr spät begonnen, etwas anderes zu machen, nämlich selbst zu fotografieren. Allerdings wurde der Bogen zu den anderen beiden Frauen dann durch die Schilderung ihrer Kindheit gespannt, denn Vera von Lehndorffs Vater wurde als Widerstandskämpfer hingerichtet, als sie vier Jahre alt war. Der Nationalsozialismus war immer wieder Thema bei dem Gespräch, denn Hildegard Hamm-Brüchner war im Dritten Reich aufgrund ihrer jüdischen Großmutter großen Schikanen ausgesetzt gewesen und konnte nur durch die Unterstützung von Freunden ihre Ausbildung machen. Margarete Mitscherlich hat in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ mit den psychischen Folgen des Massenwahns befasst.

Am Ende der Sendung war ich tief beeindruckt von diesen Frauen, die auch im Alter von über neunzig Jahren noch den Wunsch nach Veränderung und geistiger Bewegung haben. Alle drei Frauen bilden einen lebendigen Gegenpol zu dem verbreiteten Modell des Stillstands.

Bemerkenswert empfand ich den Satz von Margarete Mitscherlich, die beschrieb, dass sie morgens nach dem Aufwachen erstmal im Bett läge und nachdenken würde. „Man kann mit seinem Gehirn ganz gut diskutieren – fasst sie dies zusammen. Wie viele Menschen können dies wohl tatsächlich? Und wie viele Menschen wollen dies überhaupt können? Ganz sicher nicht allzu viele. Und ich kann es einfach nicht verhindern, dass mir wieder einmal die vielen kleinen Bürodamen einfallen, die schon dem allerersten Denkvorgang konsequent einen Riegel vorschieben mit ihrem lautstarken Hinweis auf „ihren Arbeitsauftrag“ oder auf die vehement verteidigte Lukrativität und die im Gegensatz zu Hildegard Hamm-Brücher und Margarete Mitscherlich keine Gelegenheit auslassen, sich selbst als hochqualifiziert und hochengagiert zu loben.

Vielleicht sind Denkerinnern eine aussterbende Spezies. Und sei’s drum – es war ein Genuss, gleich drei so interessanten Frauen zuzuhören.