Was an Nathan so weise ist
Vor kurzem habe ich in einem jüdischen Lesebuch die wunderbare Ringparabel aus Lessings „Nathan der Weise gelesen“. In der Parabel wird Nathan der Weise danach gefragt, welche monotheistische Religion er für die wahre halte. Er beantwortet dies mit einer Geschichte von einem Ring, dem die Eigenschaft zugesprochen wird, seinen Träger bei anderen Menschen beliebt und erfolgreich zu machen und der von dem Vater an den jeweils meistgeliebten Sohn vererbt wird. Irgendwann gibt es aber nicht nur den einen Ring, sondern auch zwei Imitate, die zusammen mit dem echten an drei Söhne vererbt werden. Diese befragen einen Richter danach, wie man herausbekommen könnte, welcher Ring der echte wäre. Der Richter beantwortet dies mit dem Ratschlag an die Söhne, die Ringe einfach zu tragen und dann zu sehen, bei welchem sich die Wirkung des Geliebtwerdens und des Erfolgs einstellen.

Es gibt mehrere Interpretationen dieser Parabel, in denen die verschiedenen Aspekte, wie z.B. die Gleichrangigkeit der Religionen oder die Betonung des Eigenbemühens als die eigentliche Botschaft angesehen werden. Für mich persönlich enthält die Ringparabel die Botschaft, dass man etwas nicht daran erkennen und bemessen kann, wie es präsentiert wird, sondern einzig daran, was es aus dem Menschen macht. Oder anders ausgedrückt – man sollte Überzeugungen nicht nach ihrer Theorie bewerten, sondern nach ihren Resultaten, das heißt, danach, was sie aus den Menschen machen. Eine falsche Überzeugung ist somit erkennbar an ihrer nicht vorhandenen Wirkung:

Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; vor Gott und Menschen angenehm. Das muss entscheiden! Denn die falschen Ringe werden doch das nicht können!

Den Ring, dem die die Eigenschaft zugesprochen wird, beliebt zu machen, kann man durchaus mit einer Religion vergleichen, von der gesagt wird, dass sie der Menschheit durch das Gebot der Nächstenliebe Frieden bringt. Hört sich gut an. Aber wenn dann trotz des Gebots der Nächstenliebe Kriege geführt werden und Menschen hingerichtet werden, dann bleiben ihre Inhalte bloßes Wunschdenken.

Oder man vergleicht den Ring mit einer Religion, die verspricht, dass man, wenn man ausschließlich an ihren Gott glaubt und alle ihre Gebote strengstens befolgt, sich auf dem direkten Weg ins Paradies befindet. Wenn dann aber die Anhänger dieser Religion ihr ganzes Leben haßerfüllt dem Krieg gegen andere widmen und dabei alles andere auf der Strecke bleibt, hat sich die Verheißung der Religion als fasch erwiesen.

Man könnte den Ring auch mit einer Religion vergleichen, die die meint, die Lösung aller menschlichen Probleme in der Entsagung aller Leidenschaften und allem Anhaften gefunden zu haben. Wenn dies aber zur Folge hat, seelenruhig zuzusehen, wie Menschen hungern und unter erbärmlichen Zuständen leben, wirft dies Zweifel auf.

Für mich stellt die Ringparabel auch eine Absage an den Absolutheitsanspruch dar. Die Frage nach der „richtigen“ Religion ist ja nichts anderes als die Frage danach, welche Religion denn nun die absolute Wahrheit verkörpert. Wobei – und das ist mir überaus wichtig – Religion auch durch politische Überzeugung ersetzt werden kann. Und da gibt es eben nicht die ersehnte Antwort, sondern nur den Rat, abzuwarten. Die Zeit wird dann zeigen, wer auf dem richtigen Weg sei:

Es strebe jeder von euch um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen!

Nathan der Weise lehnt es nicht nur ab, die gewünschte Antwort zu geben, sondern er verweist auch darauf, dass der Ring seine Wirkung nicht ohne das Zutun seines Trägers entfalten kann. Eigentlich ist somit der Ring nicht das Entscheidende, sondern der Träger.

Und wenn sich dann der Steine Kräfte bei euren Kindes-Kindeskindern äußern: so lad’ ich über tausend tausend Jahre, sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird ein weiserer Mann auf diesem Stuhle sitzen, als ich; und sprechen.

Ich glaube, dies ist das Entscheidende an wirklicher Weisheit: sie ist sich ihres Nichtwissens bewusst. Der Begrenztheit des menschlichen Horizonts und des Unvermögens, die Frage nach der Wahrheit zu beantworten. Ganz anders die Ideologie, die vorgibt, genau und unwiderlegbar die Wahrheit zu kennen. Die stets davon ausgeht, dass nur sie allein das Richtige erkannt hat und alle anderen irren.

Eigentlich hätte Nathan der Weise auch der Nathan der Bescheidene heißen können. Schade, dass wir so wenige Weise wie Nathan haben und stattdessen mit Ideologen vorlieb nehmen müssen.