Die Lüge von den Durststrecken
Im Leben gäbe es Durststrecken, heißt es immer. Irrtum – es gibt im Leben keine Durstrecken, sondern das Leben ist eine Durststrecke. Die Durststrecke ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Der Mangel ist die Regel und die Erfüllung ist immer nur eine zeitlich begrenzte Ausnahme, die niemals den ersehnten Dauerzustand darstellt.

„Endlich geht es wieder bergauf“ gibt es in der Realität nicht, sondern allenfalls ein „Momentan geht es wieder bergauf“. Das Leben ist ein Bergab, das ab und zu – und dies auch nur, wenn man Glück hat – von einem Bergauf unterbrochen wird. Das ändert aber nie etwas an der grundsätzlichen Richtung.

Das Leben verbringt man fast immer im durstigen Zustand. Und auch wenn dieser Durst manchmal gestillt wird, reicht es immer nur gerade eben zum Durchhalten.

Nicht die Durstrecken muss man überstehen, sondern das Leben.




Als ich das las, fragte ich mich, was Dich wohl zu dieser düsteren Annahme veranlasste...

Ob das Leben eine einzige Durststrecke ist, hängt wohl immer davon ab, was man als Ziel definiert, und da liegt dann auch schon das Problem. Ich denke, einziger Sinn des Lebens ist das Leben selbst, es verlangt, im Hier und Jetzt gelebt zu werden. Leider wird uns heute ein ganz anderes Bild vermittelt.

Irgendwie geht es bei allen gesellschaftlich akzeptierten Lebensperspektiven immer darum, irgendwas zu erreichen. Erfolg, ein dickes Konto, eine Art weiser Grundzufriedenheit, die man sich dann schon in Gedanken den Enkeln vermitteln sieht... Etwas soll gefunden und festgehalten werden, und so gesehen muss man natürlich durstig bleiben, weil es einfach kein Ziel zu erreichen gibt. Nicht die Behauptung von der Durststrecke ist die Lüge, sondern die Idee, ein schlussendlich komplettiertes, rundes Leben leben zu müssen, das sich in der Rückschau als das perfekte Kunstwerk entpuppt, das wir gern hätten.

Leben dagegen ist Fließen, es ist Loslassen und nach Neuem greifen zugleich. Der Blick auf die Zukunft, in der wir um jeden Preis feststellen wollen, etwas Besonderes erlebt und gelebt zu haben, verbaut uns die Chance, tatsächlich zu leben. Wer nicht immer und ewig durstig bleiben will, muss erkennen, was es im Hier und Jetzt zu trinken gibt und danach greifen.

Erfolg, ein dickes Konto, eine Art weiser Grundzufriedenheit, die man sich dann schon in Gedanken den Enkeln vermitteln sieht... - das ist es ganz bestimmt nicht, was ich vermisse. Aber ich tue mich immer schwerer damit, dass ich beruflich nicht dort gelandet bin, wo ich eigentlich immer hin wollte. Ich habe mir einen sozialen Beruf ausgesucht und dafür viereinhalb Jahre studiert und die letzte BAföG-Rate erst vor kurzem abbezahlt. Letztendlich bin ich dann in einem Berufsfeld gelandet, in dem es nur um zwei Dinge geht: darum, möglichst viel Geld zu verdienen und darum, dies möglichst nach außen anders darzustellen.

Mir machen dabei gar nicht so die Raffgier und die Betrügereien einiger Kollegen zu schaffen, denn die gibt es leider überall – auch im sozialen Bereich. Vielmehr tue ich mich sehr schwer damit, dass es kaum Kollegen gibt, die dabei auch nur den Hauch des Gedankens haben, dass man nicht einfach zusehen sollte, wenn die Notlage von hilflosen und abhängigen Menschen schamlos ausgenutzt wird.

Es ist dieses kollektive Vertuschen und Ducken, das mir Magenschmerzen bereitet. Dieses unerträgliche Netz aus feigen Ausreden und faulen Vorwänden, vor dem mir graust. Ein kümmerliches Konstrukt, um den eigenen Opportunismus zu rechtfertigen und sich davor zu drücken, Zivilcourage zu zeigen. Übertroffen wird dieses erbärmliche Verhalten dann noch dadurch, dass konsequent jegliche Kritik mit dem Vorwurf des Konkurrenzdenkens und der Selbstbeweihräucherung rigoros im Keim erstickt wird.

Leben heißt fließen schreibst Du. Schön wär’s, aber ich sehe schon lange kein Fließen mehr, sondern einen Sumpf, dessen morastiges Wasser vor sich hin fault.

Ist es dann vielleicht an der Zeit, das unliebsame Gebiet zu verlassen und loszulassen, damit Du wieder atmen kannst? So wie ich Dich kenne, käme Dir das vermutlich vor, als drücktest Du Dich dann vor einer Verantwortung, aber wie sehr bist Du noch frei, Deine Ideale auch zu leben, wenn Dich dieser Sumpf so sehr fesselt?

Die Frage ist nicht böse gemeint, das ging mir nur so durch den Kopf.

Nein, ich hätte nicht das Gefühl, mich vor der Verantwortung zu drücken. Es ist schlicht und einfach Feigheit. Während ich früher ohne mit der Wimper zu zucken des öfteren Stellen gewechselt habe (selbst, auch wenn ich noch keine neue hatte), fällt mir das jetzt schwer.

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich selbständig bin und es nicht einfach nur ein Stellenwechsel wäre, sondern auch in gewisser Weise eine Rückkehr in ein Abhängigkeitsverhältnis. Ich komme selbst nicht dahinter, wieso ich nicht die Konsequenz ziehe.

Mir war eigentlich schon als kleines Mädchen klar, dass ich alles Mögliche machen würde - nur nicht Büro. Und wo bin ich gelandet? Genau dort! Das ist ein bisschen so wie manche Beziehungsmuster, nach denen sich Menschen immer genau den falschen Partner suchen.

Es ist ja auch schwierig, sich immer wieder fragen zu müssen: "Was will ich eigentlich?" Etwas definitiv nicht zu wollen reicht manchmal noch nicht aus, um festzulegen, was man will.

Ich finde, in dem, was Du über die Probleme schreibst, denen Du in Deiner Arbeitswelt begegnest, steckt eine Menge Wut. Das ist eine Energie, um die ich Dich oft beneidet, für die ich Dich bewundert habe. Aber solche Wut birgt natürlich auch das Potential, dass sie sich gegen Dich selbst wendet, auch wenn Du das eigentlich nicht willst. Ich verstehe zu gut, dass Dir nicht nach Mund-Halten und Duckmäusern ist, und doch ist es ja so, dass Dich die Strukturen, die Du so verabscheust, gewissermaßen gefangenhalten.

Ich wünsche Dir (passend für das neue Jahr), dass Du Wege findest, aus diesen Strukturen auszubrechen, wenn sie Dir nicht gerecht werden. Du hast nur wenig Chancen, etwas zu bewegen, wenn Du Dich selbst dabei verlierst.

Alles, alles Gute!!